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»Ich kenne auf dieser Seite des Big Blue nur einen Unterschlupf in der Nähe, Henrys Farm.«
»Eine Farm mitten in der Wildnis?«
»Sie ist verlassen. Ein deutscher Auswanderer hatte sich mit seiner Familie auf der Farm niedergelassen. Aber Mißernten und Unwetter machten den Leuten zu schaffen. Innerhalb von zwei Jahren verlor Henry seine Frau und seine vier Kinder. Schließlich fand man ihn tot auf der Farm, mit zerschossenem Kopf. Man sagt, er habe sich aus Kummer selbst umgebracht. Seitdem sollen die Henrys als Geister auf der Farm umgehen, erzählt man sich. Jedenfalls hat es nie wieder jemand gewagt, sich dort niederzulassen.«
»Das klingt nach einem idealen Unterschlupf für Leute, die etwas zu verbergen haben«, meinte Jacob. »Ist es weit von hier?«
»Eine gute Stunde zu reiten, bei dem Sturm vielleicht auch zwei.«
»Würdest du mich hinbringen?«
»Sie vergessen, daß ich kein Pferd habe.«
»O doch«, meinte Jacob grinsend und sah nach rechts, wo ein großer, schwarzer Schatten aufgetaucht war. »Black Thunder kommt zurück. Wahrscheinlich will er mich nicht Lügen strafen.« Er sah wieder das Halbblut an. »Kannst du denn reiten?«
Billy Calhoun nickte. »Ich habe mir nur den Fuß verstaucht. Aber ich wüßte nicht, weshalb ich Ihnen helfen sollte, Mister.«
»Vielleicht, damit ich bei unserem Captain ein gutes Wort für dich einlege. Ich habe gehört, hier in der Wildnis werden Pferdediebe gehängt.«
»Manchmal schon«, brummte Calhoun und sah nachdenklich auf den langsam näherkommenden Rappen. »Also gut, Mister. Ich bin dabei. Wenn Sie versprechen, daß ich nicht an einer der verdammten Pappeln unten am Big Blue ende.«
»Versprochen«, sagte Jacob und steckte Calhouns Colt in seine Jackentasche.
*
Nachdem Jacob dem Halbblut beim Aufsteigen geholfen hatte, ritten beide im gestreckten Galopp über die Prärie.
Der Deutsche hatte nicht nur den Revolver, sondern auch das Bowiemesser des anderen an sich genommen. So ganz traute er ihm nicht.
Aber was sollte Billy Calhoun schon im Schilde führen? Er war allein und unbewaffnet. Und hier gab es nichts außer dieser mysteriösen Farm. Falls ihm das Halbblut die Wahrheit erzählt hatte.
Daß die Henry-Farm kein Hirngespinst war, wußte Jacob, als sich ihre Umrisse nach etwa eineinhalb Stunden scharfen Rittes aus dem trüben Grau herausschälten. Sofort hielten sie ihre Pferde an und stiegen aus den Sätteln, um nicht bemerkt zu werden und die Farm in Ruhe zu beobachten.
Sie wirkte verlassen, schon seit vielen Jahren. Unkraut rankte sich am Haupthaus, den Stallungen und dem allmählich auseinanderfallenden Corral empor. Etwa die Hälfte der Fenster im Farmhaus war zerbrochen. Vielleicht von Henry im Wahn eingeschlagen, vielleicht von den faustdicken Hagelkörnern zerstört, die es hier im Winter geben sollte.
War dies wirklich der Versammlungsplatz einer Verschwörung, an der Tom Bidwell beteiligt war?
Nichts deutete darauf hin.
Und was sollte das Ziel dieser Verschwörung sein?
Jacob hatte keine Ahnung. Aber er war hergeritten, um das herauszufinden.
»Kein Anzeichen von Menschen«, stellte er fest. »Keine Pferde im Corral.«
»Die sind bei dem Wetter im Stall besser aufgehoben.«
Jacob stimmte Calhoun zu und sagte: »Sehen wir im Stall nach. Wenn Pferde da sind, wissen wir, daß sich auch Menschen auf der Farm aufhalten.«
»Gehen Sie ruhig. Ich kann mit meinem verstauchten Fuß nicht mitkommen. Ich passe auf unsere Pferde auf.«
Jacob grinste und schüttelte den Kopf.
»Wir werden beide gehen. Deinem Fuß geht es nämlich schon wieder ziemlich gut. Als du eben von Black Thunders Rücken gerutscht bist, hast du den angeblich verstauchten Fuß belastet, ohne zusammenzuzucken.«
»Und unsere Pferde?«
»Wir binden sie dort an«, erklärte Jacob und zeigte auf ein paar Pflaumenbäume in der Nähe.
An dieser Stelle wuchsen einige Bäume und Buschwerk auf der Prärie. Vielleicht war dies der Grund gewesen, weshalb sich Henry mit seiner Familie hier niedergelassen hatte; er hatte es für fruchtbares Land gehalten, und genug Bauholz für seine Farm zur Verfügung gehabt.
Nachdem die Pferde festgebunden waren, schlichen sich Jacob und Billy Calhoun so an den großen Stall an, daß sie vom Haupthaus aus nicht gesehen werden konnten. Jacob ließ den Karabiner im Scabbard, um sich freier bewegen zu können.
Auf halbem Weg meinte das Halbblut: »Sie sollten mir besser meine Waffen zurückgeben, Mr. Adler. Zwei Revolver sind besser als einer, falls wir kämpfen müssen.«
»Bevor ich daran auch nur denke, muß ich davon überzeugt sein, daß mir auf der Farm nicht deine Komplizen auflauern.«
»Ich habe keine Komplizen!«
»Vielleicht stimmt das. Vielleicht aber auch nicht.«
Unbehelligt erreichten sie die Rückwand der Stallung.
»Hören Sie«, zischte das Halbblut. »Da drin sind Pferde!«
Jacob preßte sein Ohr gegen das Holz. Er hörte Geräusche, die das Schnauben von Pferden sein konnten. Aber genauso gut konnte es sich um ein Pfeifen handeln, das der heftige Wind im Gebälk verursachte.
»Gehen wir hinein«, sagte Jacob. »Dann wissen wir es genau.«
Vorsichtig schlichen sie um das Gebäude herum und beobachteten eine Weile das Farmhaus. Dort war alles ruhig. Sie zogen den Riegel vom Stalltor, öffneten es ein kleines Stück, schlüpften hinein und zogen das Tor wieder zu.
Schlagartig ließ das Heulen des Windes etwas nach. Es tat wohl, einmal nicht dicke Regentropfen ins Gesicht gepeitscht zu bekommen.
»Pferde!« stieß Jacob hervor, als er vier Tiere in den Boxen erblickte.
Eins davon war gesattelt. Jacob erkannte es auf den ersten Blick: Tom Bidwells sehniger Schecke mit dem perlenbestickten Scabbard.
»Du scheinst mir die Wahrheit erzählt zu haben«, sagte Jacob zu seinem Begleiter. »Wenn ich bloß wüßte, wer Bidwells Freunde sind und was sie hier zu besprechen haben!«
»Darüber können Sie sich Gedanken machen, wenn wir den Stall wieder verlassen haben«, erwiderte das Halbblut. »Wenn man uns hier drin erwischt, wäre das sicher nicht gut.«
»Sicher nicht«, gab ihm Jacob recht und ging zurück zum Tor.
Als er es ein Stück aufgeschoben hatte, starrte er direkt in ein kleines schwarzes Loch. Ein gefährliches Loch. Tödlich gefährlich. Die Mündung eines Revolvers.
Insgesamt waren vier Waffen auf Jacob und Calhoun gerichtet. Eine davon war Tom Bidwells Allen & Wheelock-Revolver mit dem ungewöhnlichen Hammer, an der rechten Seite der Waffe angebracht.