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»Da hast du recht, Jacob.«
»Ich könnte Zachary bitten, sie einem anderen Zug zuzuteilen.«
»Mit welcher Begründung? Daß ich Liebeskummer habe?« Martin lachte gequält. »Außerdem war es vollkommen logisch, die beiden uns zuzuteilen. Unser Zug bestand bisher nur aus vier Wagen.«
»Wirst du es aushalten, Martin?« Jacob Freund lachte wieder, diesmal fast heiter.
»Ich bin kein Kind mehr, Jacob, das weint, wenn es ein bestimmtes Spielzeug nicht bekommen kann.«
»Urilla ist kein Spielzeug.«
»Nein«, seufzte Martin. »Das ist sie nicht. Ich wünsche ihr nur, daß Clayton das auch so sieht.«
*
Die nächsten Tage liefen wieder in ermüdender Monotonie ab. Vom frühen Morgen bis zur Mittagsrast rollten die Wagen mit der Sonne im Rücken weiter. Dann, wenn sie von der Sonne überholt worden waren, legten sie die zweite Tagesetappe bis zum Anbruch der Dunkelheit zurück.
Gegen alle Bedenken, die Abner Zachary und auch Jacob quälten, führte die Anwesenheit von Alan Clayton und Urilla Andersen zu keinen Komplikationen. Die beiden Neuankömmlinge ordneten sich den Gesetzen des Trecks unter, und bald erstarb das Interesse der Auswanderer an ihren neuen Mitreisenden.
Das lag vielleicht auch daran, daß Clayton und Urilla weitgehend für sich blieben. Sie verrichteten die Arbeit, zu der sie eingeteilt waren, und nahmen an den gemeinsamen Mahlzeiten teil. Aber sie sprachen kaum ein Wort. Nach dem Abendessen zogen sie sich frühzeitig in ihren Wagen zurück.
Martin tat so, als störte ihn Urillas Anwesenheit nicht. Aber Jacob und Irene bemerkten doch, daß er sehr darunter litt.
Sie hofften, der Abend des siebten Reisetages würde ihn ein wenig ablenken. Es sollte ein feierlicher und ein fröhlicher Abend werden. Der Anlaß waren die Taufe des kleinen Bobby und eine Doppelhochzeit: Custis Hunter und Virginia Cordwainer sowie Melvin Freeman und Beth wollten sich vor Abner Zachary das Jawort geben.
Tom Bidwell fand einen Lagerplatz, der im Vergleich zu der bisher durchquerten Prärie geradezu romantisch zu nennen war. Er bestand aus zwei durch einen schmalen Durchgang verbundenen Tälern zwischen größeren Hügeln. Auf dem Gelände wuchsen sogar ein paar Bäume, Pappeln und wilde Pflaumenbäume, genährt von einem kleinen Bach, der von einem Hügel kam, die beiden Täler durchfloß und schließlich einfach irgendwo versickerte. In dem größeren Tal fuhren die Auswanderer ihre Wagen zur Burg zusammen.
Das kleinere Tal diente als Weide und natürlicher Corral.
Das Innere der Wagenburg wurde mit bunten Bändern geschmückt und großzügig mit Fackeln ausgeleuchtet. Fast alle Auswanderer nahmen an den Zeremonien teil, sogar Urilla und Clayton. Beim Vieh befanden sich nur zwei Wachen, Jackson Harris und Liam O'Rourke, da kaum zu erwarten war, daß sich die Tiere über die steilen Hügel davonmachen würden.
Als die beiden Hochzeitspaare nebeneinander vor Abner Zachary standen, erschienen sie Jacob wie ein Symbol für Amerika. Weiß und Schwarz gingen gemeinsam in die Zukunft. So wie es auch das Ziel dieses Trecks war: eine neue Heimat für die Menschen aller Hautfarben, Rassen und Religionen zu finden.
Aber dann dachte Jacob daran, daß Melvin noch nicht lange ein freier Mann war. Und daran, daß viele seiner Brüder und Schwestern noch immer Sklaven waren. Der Bürgerkrieg, der im Süden und im Osten tobte, würde hoffentlich zur Befreiung aller Sklaven in diesem Land führen. Falls der Norden ihn gewann. Jacob wußte, daß er, wäre er Soldat gewesen, den blauen Rock der Nordstaatler getragen hätte.
Nach dem zeremoniellen begann der ausgelassene, fröhliche Teil des Abends bei Musik, Tanz und einem Festschmaus, zu dem die Frauen alles aufgefahren hatten, was ihre bescheidenen Vorräte ihnen ermöglichten. Ein geschlachtetes Rind sorgte für saftige Steaks. Für Naschkatzen gab es Kuchen und Pfannkuchen mit allen nur erdenklichen Marmeladen. Seit dem Vorfall mit der Büffelherde und dem Tod Ben Millers hatte eine gedrückte Stimmung über dem Treck gelegen. Jetzt tanzten, lachten, aßen und tranken sich die Menschen ins Leben zurück.
Jacob tanzte mit Irene und zog sie plötzlich weg von der Feier, zu ihrem Wagen hin, um ihr etwas zu zeigen.
»Was ist es denn?« fragte Irene immer wieder, aber der junge Zimmermann schwieg eisern.
Irene wunderte sich noch mehr, als sie an ihrem Wagen vorbeigingen und den großen, schweren Prärieschoner der Kelleys ansteuerten.
»Was wollen wir hier?« wollte die junge Frau wissen.
»Etwas holen, das Sam für mich in seinem Wagen versteckt hat.«
»Versteckt? Weshalb?«
»Damit du es nicht siehst«, antwortete Jacob und kletterte in den Wagen. »Es ist nämlich ein Geschenk.«
»Ein Geschenk? - Für mich?«
»Für dich und für Jamie.«
Jacob kehrte zu Irenes großer Überraschung mit einem Kinderbett zurück.
»Wo. wo ist das her, Jacob?«
»Das Holz habe ich in Kansas City besorgt. Ich habe das Bett während der langen Nachtwachen zusammengebaut. Du kannst es in unserem Wagen so verankern, daß es während der Fahrt sanft hin und her schaukelt. Ich hoffe, dein Sohn kann gut darin schlafen.«
Irene wollte sich bei Jacob bedanken, aber ihr fehlten die Worte. Jamie hatte zum erstenmal in einem eigenen Bettchen geschlafen, als sie in Blue Springs gewesen waren und dort als Gäste im Haus der steinreichen Cordwainers wohnten. Irene hatte daran gedacht, daß ihr Sohn irgendwann einmal sein eigenes Bettchen haben würde. Und jetzt hatte er es - dank Jacob, der sich wie ein Vater um ihn kümmerte.
Hegte er für den Kleinen wirklich Vatergefühle? Und was fühlte er für Irene? Vielleicht dasselbe, was sie für ihn empfand?
Diese Fragen beschäftigten die junge Frau immer wieder. Und so sehr sie diese Gedanken und ihre Gefühle für Jacob auch zu unterdrücken versuchte, weil sie es Carl Dilger gegenüber als ungerecht empfand, sie drängten doch zurück an die Oberfläche. Es ließ sich nicht vermeiden, wenn man so lange Zeit auf so engem Raum miteinander verbrachte wie Irene und Jacob.
Irene überlegte noch, ob sie Jacob sagen sollte, was sie für ihn empfand, oder ob es besser war, alles so zu lassen, wie es war, als ein Schuß über das Lachen der Menschen und die Fiedelmusik peitschte und den ausgelassenen Lärm augenblicklich ersterben ließ.
Die Wagen von Jacobs Zug standen ganz in der Nähe des schmalen Durchlasses zum zweiten Tal, wo das Vieh die Nacht verbrachte. Jacob war sich ziemlich sicher, daß der Schuß von dort gekommen war.
»Geh in den Wagen und paß auf Jamie auf!« rief er Irene zu, zog den Sharps-Karabiner und seinen Waffengurt mit dem Army Colt aus seinem Wagen und rannte zwischen den felsigen, moosbewachsenen Wänden hindurch ins zweite Tal.
Andere Männer folgten ihm, einige bewaffnet, einige mit Fackeln ausgerüstet.
In dem kleineren Tal kämpften sie sich durch das Vieh hindurch und riefen nach den Wachen.
»Hierher«, hörten sie plötzlich Jackson Halls aufgeregte Stimme. »Kommt hierher!«
Das kam vom Osthang, wo sie schließlich auf die beiden Wächter stießen.
»Was ist los?« fragte Jacob, der als erster bei ihnen anlangte. »Wer hat geschossen?«
»Ich«, antwortete Jackson Harris. »Jemand hat sich bei den Pferden zu schaffen gemacht.« Er zeigte zu einer Gruppe quaderförmiger Felsen. »Da vorn, bei den Felsblöcken. Ich dachte an einen Wolf, einen Kojoten oder eine Raubkatze und schoß.«
»Und?« fragte sein Schwager Sam Kelley. »Hast du das Tier getroffen?«
»Ich denke schon, aber nicht tödlich. Er konnte fliehen.«
»Er?« meinte Jacob.
»Ich glaube, es war kein Tier. Erst sah es aus wie ein Tier, weil es am Boden kroch. Aber als ich geschossen hatte und es fortlief, ging es zwar in gebückter Haltung, aber doch so aufrecht, wie es nur ein Mensch vermag.«
»Ein Mensch?« dröhnte Abner Zachary. »Aber wer.«
»Ruhig!« rief Martin dazwischen und hielt den Zeigefinger vor den Mund. »Da draußen ist etwas!«