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»Träumst du, Jacob?« fragte Irene zum wiederholten Mal, zupfte an seiner wollenen Nadelstreifenhose und sah verwundert zu ihm auf.
»Äh... nein«, stotterte der Reiter. »Das heißt, eigentlich doch. Wenn man es so nennen kann. Ich habe nachgedacht.«
»Worüber?«
»Über den Treck. Und über mich. Ob es richtig ist, Mondauge zu vertrauen.«
»Wir müssen ihm vertrauen, wenn wir den Treck retten wollen.«
»Ich frage mich nur, ob ich wirklich den Treck retten will oder nur Martin«, sagte Jacob mit einem langen Blick auf die hinter ihm durch den Schnee pflügenden Planwagen. »Bringe ich den Treck in eine große Gefahr, nur um Martin zu helfen? Bringe ich das gleiche Verderben über die Menschen, die mir ihr Leben anvertraut haben, in das die sieben Wagen im Geistercanyon gefahren sind?«
»Jetzt weiß ich, was dich bedrückt. Du gibst dir insgeheim die Schuld für das, was im Geistercanyon geschehen ist.«
»Ich hätte es verhindern müssen. Ich bin der Treck-Captain.«
»Du warst es nicht mehr für diese Wagen, Jacob. Die Leute hatten sich gegen dich entschieden, für die O'Rourkes. Wenn jemand die Schuld an diesem Unglück trifft, dann die Iren. Und natürlich Jed Harper und seine Männer.«
»Mag sein, daß du recht hast«, meinte Jacob, ohne wirklich überzeugt zu klingen.
»Sicher habe ich das!« sagte Irene mit ungewohnter Strenge.
»Trotzdem bleibt die Frage, ob ich jetzt das Richtige tue. Oder ob ich zu sehr an Martin denke und zu wenig an das Leben der anderen.«
»Das eine schließt das andere nicht aus. In diesem Fall deckt es sich sogar. Nur im Tal der heißen Wasser sind wir vor dem Schnee sicher. Und nur dort gibt es noch eine Hoffnung für Martin.«
»Steht es so schlimm um ihn?«
Irene blickte betreten zu Boden, wo ihre Füße und die Hufe des Grauschimmels den Schnee zerteilten.
»Schlimmer. Er hat heute morgen nichts zu sich genommen, nicht einmal einen Schluck Wasser. Er scheint sich selbst aufgegeben zu haben. Ich fürchte, er überlebt den Tag nicht.«
Die junge Frau sah wieder auf, in Jacobs grünbraune Augen, und fügte mit fester Stimme hinzu: »Führ uns in das Tal der heißen Wasser, Jacob! Tu es für uns alle!«
Sie ließ das Sattelzeug los und ging zurück zum Wagen, um Urilla Trost zuzusprechen.
Jacob schnalzte mit der Zunge, machte eine forsche Bewegung mit den Zügeln und veranlaßte sein Pferd, zu Mondauge aufzuschließen.
»Meinem Freund geht es ziemlich schlecht. Er wird bald sterben.«
Der Indianer sah Jacob mit seinen seltsam gelben Augen an.
»Mondauge weiß das.«
»Erreichen wir das Tal der heißen Wasser noch rechtzeitig, um ihm zu helfen?«
»Das weiß Mondauge nicht.«
»Warum nicht?« fragte Jacob.
Vielleicht hatte er eine Spur zu scharf geklungen, denn in den gelben Augen blitzte es auf.
»Allein würde Mondauge das Tal der heißen Wasser erreichen, lange bevor die Sonne versinkt. Aber die Wagen der Weißen und Schwarzen sind langsam. Sie fürchten den Schnee. Mondauge kann nicht sagen, wie lange es dauert.«
Damit war das Thema für den Indianer erledigt. Er wandte seinen Blick von dem Reiter und ging schneller, ließ den Treck-Captain hinter sich zurück.
Jacob fühlte sich auf einmal sehr einsam.
Martin, sein bester Freund, lag im Sterben.
Irene, in die Jacob insgeheim verliebt war, wollte nach Oregon, um dort Carl Dilger, Jamies Vater, zu heiraten.
Lousia Vogel, Jacobs einstige Verlobte, hatte Bertram Arning geheiratet und mußte jetzt schon dessen Kind geboren haben.
Jacobs Mutter lag begraben auf dem Friedhof von Elbstedt. Als Jacob von seiner Wanderschaft zurückgekehrt war, um als Zimmermann in das Geschäft seines Vaters Heinrich Adler einzusteigen, war sie schon tot gewesen. Gestorben aus Gram über die Machenschaften der Arnings, durch die Jacobs Vater um Haus und Besitz gekommen war.
Sein Vater und seine Geschwister waren verschwunden. Vermutlich nach Amerika ausgewandert. Jacob wollte sie in Texas suchen, auf der Plantage seines Onkels Nathan Berger. So weit entfernt von hier.
Abner Zachary, der den Treck nach Oregon ins Gelobte Land bringen wollte, lag unter einem Steinhaufen begraben am Wegesrand.
Genauso wie Daniel Andersen.
Wie die vielen toten Männer, Frauen und Kinder im Geistercanyon.
Rings um Jacob waren nur Tod, Verlust und Zerstörung.
Er fühlte sich einsam, müde.
Und er fror.
Er zog die Wolljacke fester um sich, aber die Kälte blieb. Sie kam von innen.
*
Immer unwegsamer wurde das Gelände, durch das die Wagen rumpelten. Von einem ausgetretenen Weg konnte man bald nicht mehr sprechen.
Von einem ausgefahrenen sowieso nicht. Hier lang schienen noch niemals Wagen gefahren zu sein.
Kein Auswanderer, der unterwegs nach Oregon war, wäre auf den Gedanken verfallen, seine Zugtiere über den felsgespickten Untergrund zu lenken. Zusätzlich erschwert wurde das Vorankommen der Wagen durch große dicke Baumwurzeln, die immer wieder aus dem Boden ragten.
Wegen der Schneedecke waren die Felsen und Baumwurzeln meistens unsichtbar, tückische Fallen für die Prärieschoner. Damit nicht ein Rad oder gar eine Achse brach, rollten die Wagen mit äußerster Langsamkeit durch die unbekannte Wildnis. So langsam war der Treck nur damals kurz nach dem Aufbruch vorangekommen, als der wochenlange Regen die Prärie in ein riesiges Schlammloch verwandelt hatte, in dem die Wagen immer wieder stecken geblieben waren.
Rechts und links des Trecks türmten sich bizarre Felsformationen auf, schneebedeckt wie die Bäume, die immer spärlicher in Erscheinung traten, je weiter der Treck vorankam.
Jacob fragte sich wieder und wieder, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er den Treck Mondauge anvertraute. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, in dieser Felsödnis auf ein fruchtbares Tal zu stoßen. Denn fruchtbar mußte das geheimnisvolle Tal der heißen Wasser sein, wenn es einen ganzen Stamm ernährte.
War Jacob einer Lügengeschichte aufgesessen? Waren Mondauge und der alte Daniel Anderson zwei geistesverwirrte Sonderlinge, die ihr Dasein mehr schlecht als recht in den Bergen fristeten und vorbeikommende Trecks ins Verhängnis lockten?