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Auch die anderen Auswanderer stellten sich diese und ähnliche Fragen. Jacob erkannte es an der Art, wie sie ihre Köpfe zusammensteckten und immer wieder zu ihm und Mondauge schauten. Wenn Jacob während der kurzen Mittagsrast in die Nähe der anderen kam, erstarb ihr Getuschel, aber ihre zweifelnden Blicke hatten Bestand.
Als sich gegen Abend vor dem Treck ein gigantisches Felsmassiv erhob, machten die Menschen ihrem Zweifel und ihrem Unmut Luft. Mehrere Männer zu Pferd und zu Fuß hielten auf den Treck-Captain zu, angeführt von Toby Cullen.
»Was sagen Sie dazu, Captain?« fragte der Barbier barsch und zeigte auf die Felswand, die dem Treck den Weg versperrte. »Hier ist der Weg zu Ende. Wo ist jetzt Ihr geheimnisvolles Tal? Ich sehe nur Felsen und Schnee. Der Indianer hat uns in eine Sackgasse geführt. Wenn seine Leute uns überfallen wollen, sind wir auf drei Seiten von Felsen eingesperrt. Und bis wir in dieser Enge unsere Wagen zu einer Verteidigungsstellung zusammengefahren haben, haben sie uns längst niedergemetzelt!«
»Ich weiß auch nicht, was das bedeuten soll«, sagte Jacob, dessen Blick wie gebannt an dem Felsmassiv hing, zu dem sie von dem Indianer geführt worden waren. »Ich werde Mondauge fragen.«
»Tun Sie das!« schnaubte Cullen. »Aber wir kommen mit Ihnen!«
Seelenruhig stand der Indianer im Schnee und erwartete die Auswanderer. Er schien sich keiner Schuld bewußt zu sein. In seinem offenen Blick war keine Spur von Arglist oder Feindseligkeit zu entdecken.
»Was soll das, Mondauge?« fuhr ihn der rotbärtige Barbier an. »Wohin führst du uns?«
»Ins Tal der heißen Wasser«, antwortete der Indianer ungerührt.
»Wo liegt dieses Tal?«
Mondauge deutete auf das Felsmassiv.
»Hinter dem Berg.«
»Ach ja«, lachte Cullen bitter. »Und wie sollen unsere Wagen über den Berg kommen? Sollen wir sie vielleicht tragen?«
Mondauge schüttelte den Kopf.
»Nicht tragen. Fahren!«
»Fahren? Über den steilen Berg? Wie denn?«
»Nicht über den Berg, sondern durch den Berg. Durch ihn führt der Weg ins Tal der heißen Wasser.«
»Das klingt logisch«, sagte Jacob. »Durch diesen Berg, der unpassierbar aussieht, bleibt das Tal der heißen Wasser vor ungebetenen Gästen verschont.«
»Der Adler spricht wahr«, bestätigte Mondauge. »Nur selten findet jemand den Weg durch den Berg.« Seine Stimme wurde leiser, und sein Blick verklärte sich. »Leider hat Einauge ihn gefunden.«
»Dann zeig uns diesen Weg!« verlangte Cullen. »Ich glaube erst daran, wenn ich ihn sehe. Führe uns ins Tal der heißen Wasser!«
»Der Weg ist schwierig«, erwiderte der Indianer. »Es wird besser sein, ihn im Licht der Sonne zurückzulegen.«
»Im Berg scheint doch keine Sonne!« meinte der Barbier mit skeptisch gerunzelter Stirn.
»Die größte Gefahr lauert hinter dem Berg. In der Finsternis wird es für die Wagen sehr schwer sein.«
»Wenn wir erst morgen ins Tal fahren, kann es für Martin zu spät sein«, sagte Jacob und blickte Mondauge fast flehend an. »Besteht keine Möglichkeit für uns, bei Nacht ins Tal zu kommen?«
»Doch. Wenn die Leute des Adlers vorsichtig sind.«
»Ich bin dafür, es zu versuchen«, sagte Jacob mit einem ausgedehnten Blick in die Runde. »Wer noch?«
Nach und nach stimmten ihm alle Männer zu.
Auch Cullen rief: »Yeah, versuchen wir es! Ich will endlich wissen, woran ich bin!«
*
Als die Sonne hinter den Berggipfeln der Rocky Mountains versank, war das für die Auswanderer ohne Bedeutung. Sie tauchten ein in eine Welt, in der es immer Nacht war. In eine unheimliche Welt, die scheinbar nur aus Stein und Stille bestand. Zurück ließen sie den brausenden Wind, der wieder aufgefrischt hatte und dichte Schneemassen vor sich herwirbelte.
Ein Wagen nach dem anderen verschwand in dem höhlenartigen Schlund, zu dem Mondauge sie geführt hatte. Nur daß es nach Auskunft des Indianers keine Höhle war, sondern der Beginn eines natürlichen Tunnels, der direkt zum Tal der heißen Wasser führte.
Das einzige Licht in dieser unterirdischen Welt war der flackernde Schein der Fackeln, die von den Auswanderern auf Mondauges Geheiß vorbereitet worden waren. Er hatte ihnen aufgetragen, eine Menge Fackeln herzustellen. Der Weg durch den Berg würde lange dauern.
Reiter an der Spitze und am Ende des Trecks hielten Fackeln in der Hand. Neben jedem Wagen ging auf jeder Seite ein Mann oder eine Frau mit einer Fackel. Das war auch nötig, denn zuweilen lagen scharfkantige Felsblöcke auf dem Boden. Ein Wagen, der gegen einen solchen Felsen fuhr, hätte leicht sein Rad verlieren können.
Die Menschen schwiegen die meiste Zeit.
Diese fremde Welt hatte etwas Erhabenes, Ehrfurchtgebietendes an sich. Die Auswanderer kamen sich klein und bedeutungslos vor gegenüber Kräften, die solches zu schaffen vermochten.
Außerdem rief jedes Wort ein vielfaches Echo hervor. Das rief unliebsame Erinnerungen an den Geistercanyon wach.
Je länger ihre Reise durch den Berg dauerte, desto mehr wurde Jacob von dem weitverzweigten Tunnelsystem in den Bann gezogen.
Jetzt konnte er verstehen, weshalb selten jemand den Weg durch den Berg ins Tal der heißen Wasser fand. Wer nur eine der vielen falschen Abzweigungen nahm, verirrte sich rettungslos in der unterirdischen Welt. Ohne einen kundigen Führer war eine Durchquerung des Berges aussichtslos.
Auch Jacob traute sich nicht zu, ohne Mondauges Hilfe den Weg zurück zu finden. Die Indianer im Tal konnten ganz beruhigt sein. Solange sie es den Auswanderern nicht erlaubten, würden sie das Tal nicht verlassen. Sie würden es einfach nicht können.
Als irgendwann ein heftiger Windstoß in Jacobs Gesicht blies, ahnte er, daß sie sich dem anderen Ende des Tunnels näherten. Der Wind war gar nicht so kalt wie auf der Seite, wo sie in den Tunnel eingetaucht waren. Je weiter sie kamen, desto wärmer wurde er. Die Reise durch den Berg hatte fast drei Stunden gedauert, und der Fackelvorrat ging bereits zur Neige.
Der Treck-Captain sprach Mondauge darauf an.
»Es stimmt, was der Adler sagt«, antwortete der Indianer. »Gleich kommen wir ans Ende des Berges.«
»Dann sind wir im Tal?«
»Ja. Sobald wir die Steinbrücke überquert haben.«
»Die Steinbrücke?«
»Die Freunde des Adlers werden vorsichtig sein müssen. Die Steinbrücke ist sehr schmal. Wenn die Wagen abrutschen, sind sie verloren.«
»Ist das die große Gefahr, von der Mondauge gesprochen hat?«
Der Indianer nickte.
Und dann sah Jacob die Gefahr, ohne sie allerdings gleich als solche wahrzunehmen. Zu überwältigt war er von dem Naturschauspiel, das sich vor den Auswanderern ausbreitete.
Der dunkle Himmel ließ sie das Tal der heißen Wasser in seinen Umrissen nur erahnen. Aber direkt unter ihnen, tief zu ihren Füßen, flackerte eine seltsame Helligkeit, die zugleich die Quelle der unnatürlichen Wärme war. Dort zischte, dampfte, sprudelte es in einem fort. Kleine Seen aus Feuer schienen dort zu liegen, die eine seltsame rötliche Helligkeit in die Nacht warfen.