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»Mein Gott, was war das?« flüsterte eine erschrockene Frauenstimme hinter Jacob.
»Das war der Feuergott, der euch willkommen hieß«, erklärte Mondauge. »Es war auch eine Warnung an euch, vorsichtig zu sein. Wenn eure Wagen von der Brücke stürzen, werden sie in dem heißen Wasser verbrennen.«
»Das sah aus wie ein kleiner Vulkan«, meinte Melvin Freeman, der mit Custis Hunter neben Jacob getreten war.
»Vulkan ist das passende Stichwort«, sagte Custis. »Genau damit haben wir es zu tun.«
»Du meinst, der Berg, durch den wir gefahren sind, war einmal ein Vulkan?« fragte sein schwarzer Freund.
»Nicht nur der Berg. Ich nehme an, das gesamte Tal ist der Krater eines längst verloschenen Vulkans.«
»So verloschen sieht mir das aber gar nicht aus«, brummte Melvin mit einem Blick nach unten in das, was aussah wie flüssiges Feuer. »Ein bißchen höher, und dieses Säule heißen Wassers hätte uns verbrüht wie zu hastig getrunkener Kaffee.«
»Ja«, gab Custis zu und schaute ebenfalls hinunter in das unablässige Zischen und Blubbern. »Eine ganz schöne Menge an Geysiren, Fumarolen und heißen Quellen. Aber ihnen verdankt Mondauges Stamm wohl seinen Lebensraum. Von hier aus führt ein Fluß durch das ganze Tal, wie es aussieht. Das warme Wasser sorgt dafür, daß es hier niemals richtig Winter wird.«
»Das reicht aus?« fragte Melvin ungläubig. »Das Tal sieht mächtig groß aus.«
»Ich nehme an, es gibt noch mehr heiße Quellen im Tal. Aber das hier scheint die größte zu sein. Vielleicht kommt noch Schmelzwasser von der Bergkuppe hinzu, das erwärmt wird.«
Immer mehr Menschen traten an den Rand des Plateaus und starrten hinunter. Ihre Gesichter wirkten alles andere als glücklich bei dem Gedanken, auf der schmalen Steinbrücke über die heißen Wasser hinwegrollen zu müssen.
Diese Brücke war nicht von Menschenhand erbaut, sondern ein bizarrer Einfall der Natur. Sie führte schräg abwärts ins Tal hinein, war einmal gerade so breit wie ein Planwagen und durchmaß dann wieder das Doppelte. Ihre Stützpfeiler waren schlanke, hochaufragende Felsen, die direkt aus dem weiten Feld der Quellen, Geysire und Fumarolen herauswuchsen. Nur eins hatte die Natur bei ihrer Konstruktion vergessen: das Brückengeländer, das die Menschen vor dem heißen Tod bewahrte.
»Steht hier nicht herum!« fuhr Jacob die Leute mit ungewohnter Schärfe an. »Macht, daß ihr zu euren Wagen zurückkommt. Wir müssen weiter!«
Dahinter steckte ein doppelter Grund. Zum einen kam es für Martin auf jede Minute an. Zum anderen wollte er verhindern, daß sich die Menschen zu viele Gedanken über den höllischen Abgrund machten. Je länger sie in die Tiefe starrten, desto nervöser würden sie werden. Und desto mehr Fehler würden sie machen beim Überqueren der Steinbrücke.
Er brüllte seine Befehle. Die Reiter sollten von den Pferden steigen. Die erfahrensten Männer sollten die Wagen lenken. Niemand sonst sollte sich in ihnen aufhalten; eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß einer der Prärieschoner abrutschte und in die Tiefe stürzte.
Dann ging es los.
Mondauge, Jacob und Billy Calhoun schritten voran. Die beiden letzteren führten ihre Pferde am Zügel.
Ihnen folgte der erste Wagen, in dem Martin lag. Ihn hatten sie nicht herausholen können; er war so schwach, daß er nicht einmal ansprechbar war. Custis Hunter hatte auf dem Bock Platz genommen. Irene, den kleinen Jamie in den Armen, und Urilla folgten ihrem Wagen. Sam Kelleys dreizehnjähriger Sohn George hatte es übernommen, das vordere Ochsenjoch zu führen, um einem Fehltritt der Tiere vorzubeugen.
So ging es weiter. Jedes Wagengespann wurde von einem Auswanderer geführt. Den Wagen folgten die dazugehörigen Familien. Ganz am Schluß trieben einige Männer und Jungen die unwillige Viehherde auf die Brücke.
Die Tiere scheuten immer wieder zurück vor der Tiefe, den heißen Dämpfen und den ungewohnten Geräuschen. Die Treiber mußten sie mit lauten Schreien und Peitschenhieben zum Weitergehen zwingen. Der Verlust einiger Tiere schien unvermeidlich. Jacob hatte ihn einkalkuliert. Das Leben von ein paar Rindern, Mulis oder Pferden war verzichtbar, aber nicht das eines Menschen.
Nicht Martins Leben!
Aber dann schien es doch ein Mensch zu sein, den sich der Feuergott als Opfer auserkoren hatte. Es geschah, als der gesamte Treck bereits auf der Brücke war und die Auswanderer daran zu glauben begannen, daß sie den schwierigen Abstieg heil überstehen würden.
An der Stelle, wo sich die Treckspitze befand, schoß eine jener unberechenbaren Fontänen in die Höhe, wie sie die Auswanderer schon beim Erreichen des Tunnelendes erlebt hatten. Die Fontäne aus Gas, Dampf und Wasser war höher als die Brücke. Der Wind trieb die heiße Gischt auf die Menschen und Tiere zu.
Zuerst scheuten Jacobs Grauschimmel und Billys kleiner Piebald.
Das Halbblut beruhigte sein Tier mit ein paar indianischen Zurufen.
Doch der erregte Graue stieg mit den Vorderbeinen in die Luft. Um ein Haar hätten seine wirbelnden Hufe Jacob getroffen und in die Tiefe geschleudert. Der Treck-Captain konnte gerade noch zur Seite ausweichen.
Es gelang ihm, das Zaumzeug des Pferdes zu fassen. Er versuchte den Kopf des Tieres zu sich heranzuziehen und redete beruhigend auf den Grauen ein. Es wirkte. Allmählich beruhigte sich das Pferd wieder.
Noch immer sprühte die heiße Gischt und traf schmerzhaft brennend die ungeschützten Hautpartien der Menschen. Jacobs rechte Wange brannte wie Feuer. Aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Die Zugochsen seines Wagens lenkten Jacobs Aufmerksamkeit auf sich.
Sie wurden von Panik ergriffen. George Kelley, obwohl ein für sein Alter recht kräftiger Junge, hatte große Mühe, sie am Ausbrechen zu hindern.
Jacob hatte Billy gerade die Zügel des Grauen überreicht, um George beizuspringen, als der Junge das Gleichgewicht verlor, zu Boden stürzte und über den Rand der Brücke rutschte.
»Neeeiiin!« hörte Jacob von hinten einen langgezogenen Schrei. Ausgestoßen hatte ihn Sam Kelley.
Jacob wollte schon seinen Entschluß verfluchen, den Treck ins Tal der heißen Wasser zu führen, als er die dunklen Hände sah, die sich am Brückenrand festklammerten.
George Kelleys Hände!
»George, ich komme!« rief Jacob und kniete sich rasch auf den Boden, um den Jungen heraufzuziehen.
Er sah noch Georges Gesicht, seine weit aufgerissenen Augen, als der Dreizehnjährige den Halt verlor. Die dunklen Hände rutschten über die Felskante.
Aber George stürzte nicht in die heiße Tiefe. Genau an der Stelle, wo er von der Brücke gefallen war, reckte sich einer der Felspfeiler in die Höhe. Nicht gerade und glatt wie ein von Menschenhand gebauter Pfeiler, sondern krumm wie ein schiefgewachsener Baum und mit vielen Vorsprüngen. Das war Georges Glück. Auf einem dieser Vorsprünge fand er Halt und kam mit dem Oberkörper darauf zu liegen.
Er bewegte sich kaum, preßte Gesicht, Arme, Brust und Bauch ganz eng an den glitschigen Fels, seinen einzigen Halt. Die Beine des Jungen hingen frei in der Luft.
Die heiße Fontäne, die das Unglück ausgelöst hatte, wurde langsam kleiner und fiel dann ganz in sich zusammen. Die Tiere, beruhigten sich wieder.
»Wir müssen etwas unternehmen«, stieß Sam Kelley, der vom Bock seines Schmiedewagens gesprungen und an Jacobs Seite geeilt war, aufgeregt hervor und rief dann nach unten: »Halte aus, Sohn! Wir helfen dir!«
Jackson Harris, Sams Schwager, brachte ein dickes Hanfseil heran und fragte, wo er es festmachen sollte.
»An meinem Wagen«, antwortete Jacob, nachdem er sich rasch umgesehen hatte. Einen besseren Halt konnte er nicht entdecken.
Harris schlang ein Ende des Seils um die Kupplungsdeichsel und zur Sicherheit noch um die eiserne Vorderachse.
Sam Kelley wollte sich das andere Ende umbinden, doch Jacob sagte: »Lassen Sie mich das machen, Sam. George hat meine Ochsen geführt, als das passierte.«
»Er ist mein Sohn!«
»Aber ich bin ein paar Pfund leichter als Sie. Außerdem habe ich mittlerweile Erfahrung in solchen Aktionen.«
Jacob spielte darauf an, wie er sich abgeseilt hatte, um den an einer Steilwand hängenden Andrew Zachary zu retten.
»Also gut«, sagte der schwarze Schmied und half dem Deutschen beim Verknoten des Seils.
Eine Menge Männer hatten sich mittlerweile um die Unglücksstelle versammelt und seilten ihren Captain nun langsam ab. Es war nur eine kurze Distanz bis zu George, etwa dreißig Fuß.
Mondauge kniete am Rand der Brücke und beobachtete das Brodeln in der Tiefe.