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Unter ihm erstreckte sich ein einziger großer Raum mit etwa zehn Schlafstellen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das im Haus herrschende Dunkel, so daß er die einzelnen Schlafstellen besser voneinander unterscheiden konnte.
Er fluchte leise, als er sah, daß die Leiter für die Einstiegsluke weggezogen war und an einer Wand auf dem Boden lag. Ursprünglich hatte er vorgehabt, in das Haus hinabzusteigen.
Aber vielleicht war es sogar besser so. Desto schneller konnte er nach getaner Arbeit verschwinden.
Er nahm das Gewehr von seinem Rücken. Nicht die Krider-Rifle, sondern die doppelläufige Schrotflinte, die seinem Bruder gehört hatte. Er hielt die Läufe so, daß er eine möglichst große Streuung erreichte, feuerte den ersten Schrotposten ab, schwenkte die Waffe leicht herum und schickte die zweite Ladung hinterher.
Auf die kurze Distanz richteten die Hartbleischrote eine verheerende Wirkung an. Das Echo der laut krachenden Schüsse war noch nicht verklungen, als die Schreie der sich in ihrem Blut wälzenden Indianer zu dem Schützen herauf drangen.
Er hatte die Schrotflinte mit zwei Revolvern vertauscht, seinen eigenen und dem seines Bruders. Wo immer sich unten Leben regte, schickte der Mann die Kugeln hinein und nahm Rache für den Tod seiner ganzen Familie. Zwar nur indirekt, aber die hier ausgestreute Saat würde schon bald blutige Früchte tragen.
Unterschiedslos schoß er auf Männer, Frauen und Kinder und hörte erst auf, als die Trommeln beider Revolver leer waren und ihn das metallische Klicken der Hämmer aus seinem Rauschzustand riß. Der dichte Pulverrauch brachte seine Augen zum Tränen. Er konnte kaum noch etwas unten im Haus erkennen.
Dafür bemerkte er Lichtschein und Laute, die vom Hauptteil des Pueblos herüberdrangen. Er steckte die leeren Revolver in die Holster, hängte die Schrotflinte um und ergriff die Leiter, um die Stätte des Blutbads zu verlassen.
Beim Abstieg glitt wieder das wölfische Lächeln über sein grobes Gesicht. Seine Rache hatte gerade erst begonnen.
*
»Nennt man Mondauges Volk die Bärenmenschen, weil sie den Bären so sehr verehren und von ihm leben?« erkundigte sich Jacob, als er mit Mondauge über die obersten Terrassen des Pueblos ging.
»So wird es sein«, antwortete der vorangehende Indianer, der mit seiner Fackel den Weg ausleuchtete. »Aber nur ein Teil meines Volkes gehört zum Bärenbund und trägt das Fell des Bären. Es gibt noch den Wolfsbund, den Hirschbund und« - er sah Jacob an - »den Adlerbund.«
Der Deutsche überlegte, ob das der Grund war, weshalb ihm der Indianer mit soviel Zutrauen begegnet war. Er nannte Jacob stets den Adler und schien damit anzudeuten, daß der Weiße mit einem Bund seines Stammes zumindest verwandt war, wenn auch nur im übertragenen Sinn.
Mondauge steuerte auf eins der höchsten Dächer zu, auf dem zwei in Wolfsfelle gekleidete Männer mit Fackeln in den Händen standen und sie zu erwarten schienen.
»Krieger aus dem Wolfsbund«, stellte Jacob mehr fest, als daß er es fragte.
Mondauge nickte.
»Die Heilerin entstammt dem Wolfsbund, also auch ihre Helfer.«
Die beiden jungen Männer standen vor einer offenen Einstiegsluke und traten jetzt beiseite.
»Die Heilerin erwartet dich, Mondauge«, sagte einer.
Der Häuptling reichte ihm seine Fackel, ergriff das oberste Ende der Leiter und stieg in den großen Raum hinab.
Als Jacob ihm folgte, wurde er von einem starken Duftgemisch umhüllt, das ihn an den Geruch der frischen Kräuter erinnerte, die seine Großmutter früher gepflückt hatte. Trotz der Intensität war es ein durchaus angenehmer, wohltuender Geruch.
Vier Menschen hielten sich in dem Raum auf.
Drei davon waren Indianerinnen verschiedenen Alters. Die eine war schon sehr alt und hatte ihr schlohweißes Haar zu zwei langen Zöpfen gebunden, die fast bis zu ihren Hüften reichten. Die zweite war mittleren Alters und sah der Alten so ähnlich, daß sie gut deren Tochter sein konnte. Die jüngste Indianerin war um die Zwanzig und ganz gewiß die Tochter der mittleren, so sehr ähnelten sich ihre Züge. Alle drei Frauen trugen buntbestickte Gewänder aus Hirschleder und um den Hals große Amulette aus kunstvoll bearbeitetem Türkis.
Der vierte Mensch war Jacobs Freund. Martin lag in Tierfelle gehüllt mit geschlossenen Augen auf dem Boden und rührte sich nicht. Um seine verletzte Schulter lag ein neuer Verband aus Kräutern und Gräsern.
Alles in Jacob drängte ihn zu der Frage, wie es Martin ging. Und doch wagte er nicht, sie zu stellen. Weniger aus Angst vor der Antwort als aus Ehrfurcht vor den drei Frauen. Von ihnen, besonders von der weißhaarigen Alten, ging etwas Erhabenes aus. Jacob hegte keinen Zweifel, daß die alte Frau die mysteriöse Heilerin war.
Sie brach das Schweigen und unterhielt sich mit Mondauge in ihrer Sprache.
Jacob hatte den Eindruck, daß der Häuptlinge der einzige war, der von Daniel Andersen die Sprache der Weißen gelernt hatte. Oder die Indianer hielten es für unter ihrer Würde, sich in einer fremden Sprache miteinander zu unterhalten, selbst wenn ein Fremder zugegen war.
Mondauge sah Jacob an.
»Die Heilerin sagt, daß der Freund des Adlers gerade noch rechtzeitig zu ihr gebracht wurde. Sie hat ihm einen Trank eingeflößt, der das Leben in seinen Körper zurückbringt. Sie hat ihm einen Verband gemacht, der die Wunde schnell heilen läßt. Aber es kann sein, daß der Freund des Adlers Schmerzen in dem Arm haben wird, solange er auf dem Erdboden wandelt.«
»Kann ich mit ihm sprechen?« fragte Jacob.
»Nein, er schläft den Schlaf des Gesundens. Der Schlaf wird den ganzen Tag und die folgende Nacht dauern. Vielleicht auch noch länger. Es ist gut für ihn.«
Jacob suchte nach Worten des Dankes für die Heilerin, als die friedvolle Stille des nächtlichen Pueblos vom Stakkato rasch aufeinanderfolgender Schüsse durchbrochen wurde.
*
Urilla fror vor Angst und nächtlicher Kälte. Zugleich schwitzte sie vor Anstrengung und Aufregung.
Sie lag in einer Höhle. Soviel hatte sie feststellen können, als sie sich mühsam herumwälzte und bald in jeder Richtung gegen Gestein stieß. Es war eine mühsame Arbeit gewesen; sich nur durch die Verlagerung ihres Körpergewichts fortzubewegen.
Genauso mühsam, wie es jetzt war, durch das bloße Spiel ihrer Muskeln das Messer aus der Verankerung an ihrem rechten Unterarm zu lösen.
Das schmale Messer mit dem silberbeschlagenen Griff aus Walroßelfenbein, das in einer Federhalterung steckte, war ein Geschenk Alan Claytons. Sie hatte es in Kansas City getragen, wenn sie im Saloon arbeitete. Für den Fall, daß ein betrunkener Farmer oder Kuhhirt zudringlich wurde und Alan nicht in der Nähe war, um ihr zu helfen.
In den letzten Wochen hatte sie es nicht mehr getragen, so sicher hatte sie sich in der Gesellschaft von Martin Bauer und Jacob Adler gefühlt. Aber nach Martins Verletzung durch den einäugigen Berglöwen hatte sie die Halterung aus Lederriemen wieder um ihren Arm geschnallt. Der Vorfall hatte ihr gezeigt, wie trügerisch ihre vermeintliche Sicherheit gewesen war. Jetzt war sie froh über diesen Entschluß.
Endlich gelang es ihr, die Feder auszulösen. Das Messer rutschte in ihre Hand.
Weil sie wegen der Stricke nicht richtig zugreifen konnte, schnitt sie sich die Haut auf. Der Knebel macht es ihr leicht, ihren Schmerz zu verbeißen.
Sie brachte das Messer umständlich in die richtige Position und begann, den dicken Hanfstrick, der ihre Handgelenke auf dem Rücken aneinander fesselte, mit der schlanken, aber scharfen Klinge durchzuschneiden.
Da sie sich kaum bewegen konnte, ging es nur langsam voran. Als die Schüsse ertönten, wäre ihr das Messer vor Schreck fast aus den Händen gefallen. Nur kurz hielt sie in ihrer Arbeit inne, dann fuhr sie um so besessener fort.
Sie ahnte, daß die Schüsse etwas mit dem Mann zu tun hatten, von dem wie überwältigt worden war. Und daß sie vielleicht das Zeichen seiner Rückkehr waren.
Sie mußte sich vorher befreit haben, mußte die Auswanderer warnen - falls es dazu nicht schon zu spät war.
Sie achtete nicht auf den pochenden Schmerz in ihrem Schädel und nicht auf die Übelkeit, die wellenartig in ihr hochstieg und sie zu überwältigen drohte. Die Übelkeit wurde verstärkt durch den bitteren Geschmack des Knebels, der einen beständigen Würgereiz auslöste.
Plötzlich waren ihre Hände frei!
Urilla zerrte den Knebel aus ihrem Mund und atmete tief durch. Dann riß sie die Binde von ihren Augen.
Im ersten Augenblick sah sie weiterhin nichts als Dunkelheit.
Aber dann bemerkte sie den schwachen Lichtschimmer, der vom Eingang der Höhle kommen mußte.