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Waffenlos eilte sie weiter. Endlich tat sich ein großes Loch vor ihr auf, durch das die Gestirne ihr Licht in die Höhle sandten. Sie wollte schon aufatmen, als sie nahe Geräusche hörte. Das Knacken von Zweigen und ein Rascheln im Gebüsch. Es wurde lauter. Kein Zweifel, jemand kam auf die Höhle zu.
Jemand?
Das konnte nur ihr Peiniger sein!
Urilla wußte, daß sie keine Zeit mehr hatte, nach draußen zu verschwinden. Geistesgegenwärtig riß sie ein Stück Stoff von ihrer Bluse und warf es durch den Ausgang nach draußen. Vielleicht lockte das den Mann auf eine falsche Fährte!
Sie drehte sich um und hastete zurück, wieder in die Höhle hinein. Etwa auf halber Strecke hatte sie eine seitliche Abzweigung bemerkt, die jetzt ihre einzige Hoffnung war.
Sie fand die Abzweigung und lief hinein. Bald mußte sie auf allen vieren kriechen, so eng wurde der Gang im Felsgestein. Schließlich mußte sie sich wie ein Wurm hindurchwinden.
Aber dann war ihre Flucht zu Ende, als ihr Kopf hart gegen eine felsige Wand stieß.
Urilla war in dem engen Felsloch gefangen.
Zum Umkehren war es zu spät. Sie hörte bereits die schweren Schritte des Mannes, die dumpf in der Höhle widerhallten. Sie kamen näher.
Dann hörte sie einen lauten Fluch, dem noch eine ganze Reihe von Verwünschungen folgten.
Wieder Schritte. Sie schienen vor der Abzweigung zu enden.
Bald hörte Urilla Geräusche, wie sie von ihr selbst kurz zuvor verursacht worden waren. Die Geräusche eines Menschen, der sich kriechend durch den Felstunnel bewegte.
Ihr Herz pochte so stark, daß sie glaubte, der Mann müsse es hören können. Ihr Puls flatterte. Ihre Glieder begannen zu zittern.
Als sie das Keuchen des Mannes dicht hinter sich hörte, krampfte die in den Fels eingezwängte Frau die Hände zusammen und hielt den Atem an...
*
Jacob hatte auf seiner Reise durch den amerikanischen Westen schon viel Unheil gesehen, Zerstörung und Tod. Aber das Bild, das sich ihm in dem etwas abseits vom übrigen Pueblo gelegenen Haus bot, brachte ihn nahe daran, sich auf der Stelle zu übergeben. Er stützte sich mit den Händen an einer Wand ab und nahm den Blick von den Überresten des schrecklichen Blutbads.
»O Gott!« flüsterte er. »Wer kann so etwas Grausames tun?«
Eine ganze Familie war binnen Sekunden ausgelöscht worden, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter. Dicht beieinander lagen die zerfetzten Körper eines alten Mannes und eines kleinen, kaum zwei Jahre alten Mädchens.
Neun ermordete Menschen!
Er spürte, wie ihn die Blicke der Indianer, die wie Jacob und Mondauge in das Todeshaus hinabgestiegen waren, durchbohrten. Der Tod dieser unschuldigen Menschen war durch die Waffen eines Weißen hervorgerufen worden. Oder eines Schwarzen. Jedenfalls eines der Menschen, für die Jacob in ihren Augen verantwortlich war. Er hatte das Gefühl - und konnte es den Indianern nicht einmal verdenken -, die Krieger hätten ihn am liebsten auf der Stelle getötet. Vielleicht hielt sie nur Mondauges Anwesenheit davon ab.
»Wer von den Leuten des Adlers hat das getan?« fragte der Häuptling bitter.
»Ich weiß es nicht, Mondauge. Ich kann mir nicht denken, daß überhaupt einer der Menschen aus dem Treck zu so etwas fähig ist.«
»Aber es muß einer von den Leuten des Adlers gewesen sein! Die Männer von Mondauges Volk benutzen keine Donnerrohre!«
Dem Häuptling fiel es schwer, seine Beherrschung zu behalten. Äußerlich schien er auf den ersten Blick ruhig, aber seine Muskeln vibrierten vor Zorn und Trauer.
»Ich verspreche Mondauge, daß ich alles tun werde, um den Mörder zu finden.«
Der Indianer blickte Jacob ernst an.
»Das sollte der Adler tun. Und zwar schnell. Wenn die Sonne sich erhebt, werden die Krieger zu den Wagen kommen und Vergeltung fordern. Ist der Schuldige dann nicht gefunden, wird die Strafe alle treffen. Und nun möge der Adler die Trauernden allein lassen!«
Jacob hatte schon einen Fuß auf der Leiter, als er sich noch einmal umwandte und fragte: »Was ist mit meinem Freund Martin? Steht er unter deinem Schutz, Mondauge? Er ist mit Sicherheit unschuldig!«
Der Häuptling schüttelte den Kopf.
»Mondauge kann ihm nicht helfen. Die Ermordeten gehörten zur Bruderschaft der Wölfe. Wie die Heilerin. Sie wird den Freund des Adlers an ihre Bruderschaft ausliefern, wenn der Schuldige nicht schnell gefunden wird.«
Jetzt hatte es Jacob doppelt eilig, die Leiter hinaufzusteigen. Auf dem Dach umstanden ihn an die fünfzehn Krieger, und ihre feindseligen Blicke sagten mehr als tausend Worte des Hasses. Aber auf diese Blicke achtete der junge Deutsche weniger als auf den Himmel. Das erste zaghafte Blaßrosa am östlichen Horizont kündete den Beginn der Morgendämmerung an. Ihm blieb nicht viel Zeit.
Unangefochten kletterte er vom Dach des Mordhauses und nahm unten die Beine in die Hand, um rasch zu den eine knappe halbe Meile vom Pueblo entfernten Wagen zu kommen. Jetzt war er froh über den Entschluß, trotz der Übermüdung von Mensch und Tier auf dem Bau einer Wagenburg bestanden zu haben.
Noch knapp zweihundert Yards trennten ihn vom Lager der Auswanderer, als er links von sich etwas wahrnahm. Kurz nur, wie ein Schatten, der plötzlich verschwand.
Der Mörder?
Jacob sprang hinter den dicken Stamm einer Pappel und zog gleichzeitig den Army Colt aus dem Holster. Leise zog er den Hahn des Sechsschüssers zurück, während er in die Nacht hinein lauschte und das Gelände, wo er die Bewegung wahrgenommen zu haben glaubte, beobachtete. Aber nichts rührte sich.
Sollte er seine Deckung verlassen und nachsehen? Falls dort der Mörder auf ihn lauerte, konnte er Jacob mühelos abknallen. Aber die Zeit drängte.
Jacob entschloß sich zur einfachsten Methode und rief laut: »Wer ist da vorn?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis eine leise Stimme zögernd fragte: »Jacob? Sind Sie es?«
»Ja!«
»Nicht schießen«, sagte die Frauenstimme.
Dann erhob sich Urilla aus dem Unterholz und wankte auf den Deutschen zu. Sie machte einen fürchterlichen Eindruck, die Kleidung zerrissen, das Haar zerzaust, die Haut an vielen Stellen abgeschürft.
Jacob steckte den 44er zurück ins Holster und fing die stolpernde Frau in seinen Armen auf.
»Urilla, was ist mit Ihnen passiert?«
Sie erzählte es ihm und schloß: »Fast hätte er mich in dem Felsversteck entdeckt. Aber der Tunnel war zu eng für ihn. Er konnte sich wohl nicht vorstellen, daß ich mich hindurchgezwängt hatte. Er verließ die Höhle. Ich hatte Mühe, mich wieder hinauszuschieben.«
»Und der Mann?«
»Er war verschwunden.« Urilla seufzte. »Zum Glück.«
»Das kann man so und so sehen«, knurrte Jacob und berichtete von dem Massenmord. »Ich nehme an, daß der Mann, der Sie überwältigt hat, der Mörder ist.«
Die junge Frau nickte und flüsterte: »Das hat er also gemeint, als er von seiner Rache gesprochen hat. Er muß komplett verrückt geworden sein!«
Jacob sah sie forschend an.