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Endlich kamen sie zu ihren Gefährten, die inzwischen die bei der Schießerei in alle Richtungen gelaufenen Pferde und Maultiere wieder zusammengetrieben hatten. Zu Jacobs großer Erleichterung hatten die Auswanderer keine Verluste zu beklagen, nur zwei Leichtverletzte mit Streifschüssen.
Sie legten den alten Mann auf eine Decke und befreiten seinen Oberkörper vorsichtig von der Kleidung, um ihm einen besseren Verband anzulegen. Billy kramte derweil die blutstillenden Kräuter aus seiner Satteltasche.
Jacob dachte über die vielfältigen Kenntnisse des jungen Halbbluts nach, als er plötzlich stutzte. Das Phantom trug um den Hals eine feingliedrige Kette, an der unter seiner Kleidung ein silbernes Medaillon hing. Ein in allen Einzelheiten identisches Medaillon hatte er erst am vergangenen Tag gesehen. Jetzt wußte er, weshalb ihm das Gesicht des Alten so bekannt vorgekommen war.
Nachdem sie dem Verletzten die Kräuter aufgetragen und den neuen Verband angelegt hatten, öffnete Jacob das Medaillon. Wie er erwartet hatte, enthielt es zwei winzige Fotografien.
Das eine Bild zeigte vier Kinder, drei heranwachsende Mädchen und einen kleinen Jungen.
Auf dem anderen Bild sah man zwei Erwachsene, einen hageren Mann und eine rundliche Frau, die vor ihm auf einem Stuhl saß. Das Gesicht des Mannes ähnelte sehr stark dem des vermeintlichen Phantoms. Man hätte sie für identisch halten können, hätte der Mann auf der Fotografie nicht etwa zwanzig Jahre jünger ausgesehen. Und Jacob wußte genau, daß die Fotografie erst ungefähr fünf Jahre alt war.
Und dennoch - konnte das sein?
Jetzt war Jacobs Ansporn, den Verletzten lebend zum Treck zu bringen, noch viel größer. Je länger er über die Sache nachdachte, desto mehr wurde sein Verdacht zur Gewißheit.
Für die Auswanderer, die von der Lawine begraben worden waren, konnten sie nichts mehr tun. Der Geistercanyon bildete ihr natürliches Grab und verdiente seinen unheimlichen Namen nun um so mehr. Es hätte zuviel Zeit gekostet, alle auszugraben, um ihnen ein christliches Begräbnis zu verschaffen.
Zeit war das, was die Auswanderer nicht hatten. Die Sonne hatte sich innerhalb der letzten Stunde hinter einer dicken Dunstschicht versteckt. Es war ganz plötzlich kalt geworden. Der Schneegeruch, den Jacob schon in der Nacht so deutlich verspürt hatte, lag jetzt noch um einiges stärker in der Luft. Der Treck der Auswanderer über die Rocky Mountains war ein Rennen gegen die Zeit - gegen den Winter, der den Wagenzug mit seinen Schneemassen einzuschließen drohte.
Die Männer legten Leo Cartlands Leiche zu seinen Familienangehörigen und schütteten die Mulde, die sie vergeblich zur Rettung von Matt und Celia Cartland gegraben hatten, wieder zu, um die Toten vor den Aasgeiern zu bewahren.
Die großen häßlichen Vögel kreisten bereits über dem Plateau, auf dem die Leichen der drei Killer lagen. Den Gedanken, Jed Harper, Hoss und Skinny zu bestatten, verwarfen Jacob und die anderen schnell als zu zeitraubend. Sie hätten extra wieder auf das Plateau steigen müssen.
Die drei Toten da oben hatten kein Mitleid verdient. Sie hatten die Lawine losgelassen und waren verantwortlich für den Tod von knapp fünfzig Menschen - Männern, Frauen und Kindern. Sie hatten es sich selbst zuzuschreiben, daß sie jetzt ein Fressen für die Geier wurden. Die Aasvögel würden ein wahres Festmahl halten können, an ihnen und an den vielen Tierkadavern, die im Geistercanyon lagen.
Die Männer rammten ein aus Wagenbrettern zusammengezimmertes Holzkreuz in das Geröll, und Jacob sprach ein kurzes Gebet. Das war die ganze Trauerfeier.
Noch vor der Mittagsstunde rückten sie ab. Der alte Mann, der noch nicht wieder zur Besinnung gekommen war, lag auf einer Bahre, die ebenfalls aus Wagenbrettern gefertigt war. Trümmer lagen in der engen Schlucht genug herum.
Und Tote.
*
Das Getrappel der mehr als hundertfünfzig Hufe war längst verklungen, und Stille lag über dem Geistercanyon, der so unversehens zu einem riesigen Friedhof geworden war.
Durchbrochen wurde diese Stille nur von dem heiseren Krächzen der Aasgeier, die sich hin und wieder um die Beute stritten, obwohl wahrlich genug totes Fleisch für alle da war. Aber dieses Krächzen wirkte nicht unpassend. Es war die richtige Begleitmusik zu dem traurigen Ereignis.
Einer der größten Geier, ein im Vergleich zu seinen eher hageren Artgenossen fast massiges Tier, hatte zwei andere Aasfresser von dem Kadaver eines vom Fels erschlagenen Ochsen vertrieben und tat sich an der Wunde gütlich, die die beiden unterlegenen Raubvögel mit ihren spitzen, gekrümmten Schnäbeln in das Fleisch geschlagen hatten. Tief tauchte er seinen nackten Kopf in die blutige Masse ein und riß große Stücke heraus, die er gierig verschlang.
So sehr war er in seinen Leichenschmaus vertieft, daß er sich nicht von der Erschütterung stören ließ, die auf einmal durch den Kadaver ging. Sie brachte ihn nicht einmal ins Wanken, denn seine Füße mit den langen Zehen und den leicht gekrümmten Krallen hatte er tief in das tote Tier geschlagen. Der Vorgang war für den Aasfresser kein ungewöhnliches Ereignis. Schließlich war seine Beute nicht immer Aas. Oft lebte sie noch, war aber nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Das war für ihn stets ein besonderer Leckerbissen: frisches, noch lebendiges Fleisch. Nicht zu vergleichen mit schon halb Verwestem.
Doch diesmal täuschte sich der große Vogel mit dem dunklen Sargträgergefieder. Sein Opfer war wirklich tot. Das Zucken, das durch den Kadaver ging, war auch nicht auf Nervenstränge zurückzuführen, die vom Ableben des Ochsen noch keine Kenntnis genommen hatten. Es kam von außerhalb, von dem Geröllhügel, auf dem das tote Zugtier teilweise lag.
Wieder bewegte sich der große Körper, und ein paar der kleineren Steine kullerten von der Spitze des Geröllhaufens, rissen andere mit und wirkten wie eine lächerliche Miniaturausgabe der großen Lawine, von der die sieben Planwagen begraben worden waren.
Der Geier hielt in seiner Mahlzeit inne, ein blutiges Fleischstück noch im Schnabel und schaute sich nach allen Seiten um, den traurigen Kahlkopf ruckartig bewegend. Aber er konnte keinen unerwünschten Rivalen in seiner Nähe entdecken. Seine Artgenossen hatten sich auf die anderen Kadaver verteilt, von denen es hier genug gab. Ein paar machten sich auch oben auf dem Plateau zu schaffen.
Beruhigt schluckte der große Aasgeier das Fleischstück hinunter, als auch schon eine neue, diesmal sehr heftige Erschütterung durch den Ochsenkadaver ging. So stark, daß der Geier seinen Platz kreischend verließ. Abwartend stand er neben dem toten Tier auf steinigem Boden und beobachtete wachsam, was sich bei dem großen Geröllhaufen tat.
Eine ganze Menge Steine, auch große, kollerten herunter. Es nahm gar kein Ende. Und dann kroch etwas zwischen den Steinen hervor.
Etwas Lebendiges!
Der Geier wurde noch aufmerksamer. Er witterte neue Beute, ganz frisches Fleisch. Aber er widerstand der Versuchung, sofort darüber herzufallen. Erst mußte er wissen, um was es sich handelte. Vielleicht war es gefährlich, denn es wurde immer größer.
Erst war es nur eine staubbedeckte Hand, die sich mit fahrigen Bewegungen aus dem Steinhaufen erhob. Dann ein ganzer Arm. Jetzt tauchten die zu dem Arm gehörige Schulter und der Kopf des Menschen auf.
Er fuhr langsam mit der Hand über seine Augen, wischte die Staubschicht herunter und blinzelte ins Tageslicht. Für ihn war es angenehm, daß die Sonne ihr Antlitz hinter einem dicken Dunstschleier verborgen hatte. Ihr ungefiltertes, grelles Licht hätte seinen nicht mehr daran gewöhnten Augen wehgetan.
Der Kopf drehte sich in alle Richtungen, die Augen ungläubig geweitet. Obwohl es ein grobes, abstoßendes Gesicht war, dem man die Wiedergabe feinfühliger menschlicher Regungen kaum zugetraut hätte, wäre für einen menschlichen Beobachter das Entsetzen deutlich sichtbar gewesen.
Dem Geier blieb das ebenso verborgen wie jegliches menschliches Gefühlsleben. Er dachte in anderen Kategorien. Für ihn war nur wichtig, ob ihm das, was da langsam und unter Qualen Stück für Stück aus dem Steinhaufen kroch, gefährlich werden konnte. Wenn nicht, war es eine zusätzliche Beute. Er konnte sich zwar schon an dem Ochsen mehr als sattfressen, aber daran dachte er nicht. Beute - Fleisch - konnte man niemals genug haben.
Je größer das Lebewesen wurde, das aus dem Steinhaufen wuchs, desto mehr fragte sich der Aasfresser allerdings, ob das wirklich eine geeignete Beute war.
Der ganze Oberkörper des Menschen war jetzt frei. Die Hände stützten sich auf dem Geröll ab, suchten auf dem lockeren Gestein, bis sie endlich festen Halt fanden. Dem Geier entging, daß sich das breite Gesicht des Menschen vor Schmerzen verzerrte, als er sich unter großen Anstrengungen aus dem steinernen Grab stemmte. Er biß sich die Unterlippe blutig und stöhnte laut vor Qual, bis er es endlich geschafft hatte, auf dem Geröllhaufen lag und ein Stück herunterrutschte, genau auf den großen Vogel zu.
Der Geier wich nicht zurück. Der Geruch des frischen Blutes, das von der Lippe des Mannes floß, zog ihn fast magisch an. So sehr, daß er nicht darauf achtete, wie der Mann einen großen, länglichen Gegenstand aus dem Lederfutteral an seiner Hüfte zog. Auch das metallische Klicken, das der Mann mit einer Bewegung seines Daumens auslöste, verschreckte ihn nicht.
Dann zerplatzte der Geier zu einer Wolke aus Federn, Knochen, Fleisch und Blut. Das Echo des Schusses rollte durch den Canyon. Die passende Musik zu dem Tanz, den die Federn des zerschossenen Vogels in der Luft aufführten.
Die anderen Geier im Canyon stoben erschrocken auf. Sogar ein paar ihrer Artgenossen oben auf dem Plateau. Die meisten ließen sich bald wieder auf ihrer Beute nieder. Nur ein paar waren vorsichtiger und zogen hoch oben am düsteren Himmel ihre Kreise.
Sie waren die Klügeren.
Als sich der Mann aufgerichtet hatte, leerte er die Trommel seines Revolvers in einer Serie dicht aufeinander folgender Schüsse. Drei der Kugeln prallten nur gegen harten Stein, aber zwei zerfetzten weitere Aasfresser.
Jetzt ergriffen auch die mutigsten Geier die Flucht. Die meisten ließen sich nach einer Weile auf dem Plateau nieder und trotzten ihren dortigen Artgenossen einen Platz bei den drei toten Killern ab. Einige andere zogen abwartend ihre Kreise über dem Geistercanyon.
Der Mann unter ihnen stolperte durch das Tal, wühlte mit bloßen Händen in den großen Steinen herum und schrie immer wieder die Namen seiner Angehörigen.
Die einzigen, die ihn hörten, waren die Geier. Aber sie verstanden ihn nicht.
Die einzigen, die ihm antworteten, waren die Felswände. Aber das half ihm nicht.
*
Jacobs Trupp erreichte das Lager des Trecks mit Hereinbrechen der Abenddämmerung.
Die Männer wurden von ihren besorgten und nun erleichterten Angehörigen empfangen.
Und von winzigen, kaum spürbaren Schneeflocken, die sofort schmolzen, wenn sie sich auf einen Menschen, ein Tier, einen Baum oder auch nur auf einen Felsblock setzten.
Noch schmolzen sie.
Wenn die Temperatur weiter so stark abfiel wie im Laufe dieses Tages, würde der Schnee sehr bald liegenbleiben. Solange es nur so wenige, winzige Schneeflocken waren, würde das nicht weiter schlimm sein.