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Wieder war sein Blick in eine unendliche Weite gerichtet - und würde niemals in diese Welt zurückkehren.
*
Als Jacob aus dem Planwagen kletterte und zur Versammlung zurückkehrte, wurde er von Urillas Weinen begleitet. Dem Weinen um den Tod ihres Vaters.
Jacob berichtete den Männern knapp, was Daniel Anderson gesagt hatte, und schloß: »Wenn Anderson recht hat, können wir in diesem Tal der heißen Wasser einen Wintereinbruch überstehen. Wir müssen es nur finden.«
»Eben!« schnaubte Toby Cullen. »Das ist der springende Punkt. Wir wissen nicht, wo wir das Tal suchen sollen. Wir wissen auch nicht, wo wir diese Himmelsnadel suchen sollen. Wir wissen nicht mal, ob beides überhaupt existiert oder ob es nur die Hirngespinste eines verwirrten alten Mannes sind. Eines sterbenden Mannes noch dazu, der bestimmt nicht mehr gewußt hat, was er sagte. Ich halte es für tausendmal sicherer, nach Fort Hall zurückzukehren, als dieses märchenhafte Tal zu suchen. Wenn wir uns auf so was einlassen, krepieren wir bestimmt im Schnee!«
»Aber die Himmelsnadel gibt es«, sagte Billy Calhoun und trat nach vorn. »Der Name war mir unbekannt. Aber als ich damals mit dem Frachtwagenzug die Rockies überquert habe, sind wir an einem schlanken, spitzen Felsen vorbeigekommen, der so hoch war, daß er bis in den Himmel zu reichen schien. Die Männer nannten ihn deshalb Skyladder Rock. Ihn muß der alte Mann gemeint haben.«
»Skyladder Rock«, wiederholte Jacob überlegend. »Himmelsleiter-Felsen. Das hört sich so ähnlich an wie Himmelsnadel.« Er schlug mit der rechten Faust in die Fläche seiner linken Hand. »Das könnte hinkommen. Wie weit ist es bis dorthin, Billy?«
»Wenn wir ohne große Verzögerungen aufbrechen, erreichen wir ihn noch heute. Spätestens morgen, falls der Schnee uns zu sehr behindern sollte.«
»Und wenn schon«, meinte Cullen. »Daß solch ein Felsen existiert, beweist noch nicht die Existenz dieses seltsamen Tals!«
»Auch vom Tal der heißen Wasser habe ich schon mal gehört«, sagte der Halbindianer zum allgemeinen Erstaunen. »Nur hielt ich es immer für eine Legende. Wie die Bärenmenschen, von denen sich die Menschen in den Rockies abends erzählen. Sie sollen in dem Tal der heißen Wasser leben, in dem es niemals Winter wird.«
»Bärenmenschen!« sagte der Barbier verächtlich. »Das sind doch alles nur Ammenmärchen. Oder weißt du, wo das seltsame Tal liegt, Calhoun?«
Billy schüttelte den Kopf.
»Da habt ihr's«, fuhr Cullen fort und blickte auf der Suche nach Zustimmung in die Runde. »Wir dürfen uns nicht auf solche Ammenmärchen verlassen, wenn es um unser Leben geht!«
»Ich würde nicht behaupten, daß alles nur Märchen sind«, entgegnete Jacob.
»Auch nicht die Geschichte von den Bärenmenschen?« fragte der rotbärtige Barbier.
»Auch nicht. Denkt doch mal daran, daß Anderson in ein Bärenfell gekleidet war. Vielleicht kleiden sich auch die Indianer so, bei denen er offenbar gelebt hat. So könnte die Legende von den Bärenmenschen entstanden sein.«
»Und was schlagen Sie vor, Captain?« wollte Cullen wissen. »Etwa, daß wir uns auf diese bloße Vermutung hin auf die Suche nach dem Tal der heißen Wasser begeben?«
Jacob nickte.
»Genau das, Mr. Cullen. Nach allem, was ich jetzt weiß, ist es nämlich nicht nur eine Legende. Und Sie haben unrecht mit dem, was Sie über Andersen sagten: Er wußte bis zuletzt sehr wohl, was er sagte.«
Jacob blickte in die Gesichter der Männer. In vielen las er Skepsis.
»Ich will meine Meinung niemandem aufzwingen«, fuhr er fort. »Ich werde als Treck-Captain alles tun, um die Wagen durchzubringen. Ganz gleich, in welche Richtung es geht. Die Entscheidung darüber müßt ihr selbst treffen. Es ist die Entscheidung über euer Leben!«
»Eine Abstimmung also«, stellte Sam Kelley, der neben Jacob stand, fest.
»Ja, Sam. Das halte ich für das Vernünftigste. Die Männer müssen selbst entscheiden. Vielleicht laufe ich ja tatsächlich einem Hirngespinst nach.«
»Das glaube ich nicht, Jacob. Nicht, seitdem sich das Phantom der Rocky Mountains als Wahrheit herausgestellt hat.«
»Sie glauben, daß der alte Anderson wirklich das Phantom war?«
Der Schwarze nickte.
»Wenn er bei Indianern hier in den Bergen gelebt hat - aus welchen Gründen auch immer -, hat es ihn bestimmt zu den durchziehenden Trecks hingezogen. Der eine oder andere Auswanderer wird ihn bemerkt haben. Ich könnte mir vorstellen, daß so die Geschichte vom Phantom entstanden ist.«
Die Männer stimmten ab. Zu Jacobs Überraschung waren etwa zwei Drittel dafür, weiterzufahren und das Tal der heißen Wasser zu suchen.
Er fühlte sich danach keineswegs erleichtert. Die Verantwortung, die auf ihm lastete, blieb, ob er den Wagenzug in die eine oder in die andere Richtung führte. So beständig wie der Gedanke an die Toten, die zerschmettert im Geistercanyon lagen. Sie hatten die falsche Richtung gewählt.
Daniel Anderson wurde unter einem Steinhaufen begraben, was in der hektischen Aufbruchsstimmung des Trecks fast unterging. Um das schlichte, aus Brettern errichtete Holzkreuz hängte Urilla das Medaillon ihres Vaters.
Sie verließ das Grab erst, als Jacobs Stimme laut über die Wagenkolonne schallte und das Kommando zur Fortsetzung der Reise gab.
*
Erneutes Schneetreiben hatte eingesetzt, als der einsame Wanderer am späten Nachmittag die Stelle erreichte, wo der Treck gelagert hatte.
In dem zerwühlten Schneefeld blieb der Mann stehen und sah sich sorgfältig um. Die Auswanderer waren am Morgen dieses Tages aufgebrochen, wie er an den Spuren im Schnee erkannte, die nur ganz allmählich vom unablässig fallenden Neuschnee zugedeckt wurden. Die Chancen, den Treck bald einzuholen, standen gut.
Er war zwar nur zu Fuß, doch kam er in dem unwegsamen Gebirge schneller vorwärts als die schwerfälligen Wagen, mochten sie auch von acht, zehn oder zwölf kräftigen Ochsen oder Mulis gezogen werden. Der Schnee, durch den sich Zugtiere und Wagenräder mühsam quälen mußten, machte es ihm noch einfacher. Er lief auf den Schneeschuhen, die er in weiser Voraussicht auf den Oregon-Treck mitgenommen hatten. Das Schicksal schien gewußt zu haben, weshalb sie nicht von der Lawine zerstört worden waren.
Plötzlich erstarrte der Mann für eine halbe Minute. Er hatte den Steinhaufen entdeckt, der unter ein paar hohen, weißgezuckerten Kiefern aufgeschüttet war. Ein Steinhaufen mit einem Holzkreuz. Ein Grab.
Zwar nur ein einfaches, behelfsmäßiges Grab, aber doch viel würdevoller als der große Geröllhaufen im Geistercanyon, unter dem so viele Tote lagen.
Der Mann ging zu dem Grab und nahm die um das Kreuz geschlungene Kette in die Hand. Ein Medaillon. Er öffnete es. Die beiden Fotografien, die er darin sah, kannte er nicht. Die Menschen waren ihm unbekannt.
Hätte er genauer hingesehen, wäre ihm die Ähnlichkeit eines der Mädchen mit Urilla Andersen, die er nur als Frau kannte, aufgefallen. Aber so sagte ihm das Medaillon gar nichts. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, es wieder zu verschließen. Er schleuderte es einfach hinaus in den Schnee.
Er hatte keine Ahnung, wer der Tote war. Vielleicht der Dutch namens Martin Bauer, der beim Kampf mit dem Berglöwen schwer verwundet worden war.
Letztlich war es unwichtig für ihn, wer der Tote war. Wichtig war nur, daß er tot war.
Denn dies war das Ziel des einsamen Mannes: den Tod zu bringen über die Menschen, die ihn und seine Angehörigen im Stich gelassen hatten. Die ihn lebendig begraben im Geistercanyon zurückließen. Jetzt würde er sie begraben, einen nach dem anderen.
Bei einem war es nicht mehr nötig, wie er mit einem Blick auf das Grab dachte. Fast bedauerte der einsame Wanderer, daß er nicht persönlich den Tod über den Verstorbenen gebracht hatte.
Er zog die Riemen fest, an denen Ausrüstung und Waffen auf seinem Rücken hingen, und setzte mit grimmigem Gesicht seinen Weg fort. Die unübersehbare, breite und tief in den Schnee gegrabene Spur des Wagenzugs war für den Rächer der beste Führer.
Der Tod würde die Auswanderer nicht verfehlen.
*
In neuer Marschordnung wand sich der scheinbar endlose Wurm aus Wagen, Menschen und Tieren Meile um Meile über Höhenzüge, Pässe, durch Täler und Wälder der urwüchsigen Rockies.
Nach dem Verlust der sieben Wagen im Geistercanyon war der Treck auf zweiundzwanzig Fahrzeuge zusammengeschmolzen. Das hatte eine Neueinteilung der einzelnen Züge erforderlich gemacht. Jeweils vier oder fünf Wagen bildeten einen Zug. Der Treck bestand nun aus drei Zügen zu vier und zwei Zügen zu fünf Wagen.
Die Angehörigen eines Zuges halfen untereinander beim Auf- und Abbau des Mittags- und Nachtlagers, beim Herbeischaffen des Feuerholzes, beim Kochen und beim Versorgen der Tiere. Nicht jede Auswandererfamilie mußte bei jeder Rast alle Aufgaben erledigen. Das bot den Leuten Gelegenheit, sich etwas zu erholen.