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Fast noch mehr Sorge bereitete ihm jedoch der Gedanke, daß vielleicht noch mehr der Männer so dachten wie Toby Cullen. Wenn sie eine Dummheit anstellten, konnte das alles verderben.
Jacob seufzte. Es half alles nichts. Er mußte auf die Vernunft der Auswanderer vertrauen. Und auf Sam Kelleys starke Faust.
»Bleib stehen, weißer Mann!« ließ ihn die gutturale Stimme in seinem Rücken zusammenfahren. »Der Adler hat Mondauge gefunden.«
Jacob mußte dicht an dem anderen vorbeigegangen sein und hatte ihn doch nicht bemerkt. Er konnte nicht verhindern, daß ihm bei dem Gedanken, dem Fremden völlig ausgeliefert zu sein, ein Schauer über den Rücken lief. Jacobs Begleiter mußten nach seiner Schätzung etwa vierhundert Yards entfernt sein, von ihm durch die unwegsamen Felsen getrennt. Sie konnten nicht eingreifen, falls der Mann in Jacobs Rücken ihn umbringen wollte.
Der junge Deutsche schüttelte diese Gedanken von sich ab. Sie waren nicht gut, brachten ihn nicht weiter. Es waren Toby Cullens Gedanken.
Langsam, die halb erhobenen Hände von seinem Körper gestreckt, drehte er sich um.
Als er die Gestalt sah, die hinter einem hüfthohen Felsen stand, glaubte er im ersten Augenblick, einer Sinnestäuschung zu erliegen. Daniel Anderson, das Phantom der Rocky Mountains, schien wieder zum Leben erwacht zu sein.
Die Gestalt trug ebenfalls das Fell eines Bären, den Kopf vom Bärenhaupt bedeckt. Wie Andersen auf dem Plateau über dem Geistercanyon hielt auch sie einen gespannten Bogen in den Händen. Die widerhakige Knochenspitze des Pfeils zeigte auf Jacobs Brust.
Aber diesmal war es nur ein Pfeil. Der genügte dem Fremden, um den Adler zu erlegen.
Die Gestalt stand etwa zehn Schritte von Jacob entfernt. Der dichte Schneefall behinderte die Sicht.
Doch als der Treck-Captain genauer hinsah, erkannte er die Unterschiede zwischen Daniel Anderson und dem Mann namens Mondauge. Seine dunklen Gesichtszüge mit dem ausgeprägten Kinn und den hohen Wangenknochen waren die eines Indianers. Am seltsamsten waren seine Augen. Von einer Farbe, die Jacob noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Ein leuchtendes Gelb.
Mondauge!
»Warum richtet Mondauge seinen Pfeil auf mich?« fragte Jacob. »Ich bin allein gekommen und ohne Waffen, wie ich es versprach.«
»Mondauge sieht, daß der Adler allein kam. Aber wie sieht er, ob der Adler keine verborgenen Warfen bei sich trägt?«
»Mondauge ist mißtrauisch?«
»Grauhaar hat Mondauge gelehrt, dem weißen Mann nicht zu trauen. Seine Zunge soll gespalten sein wie die der Klapperschlange.«
Mit Grauhaar konnte der Indianer nur Daniel Anderson meinen, das war Jacob sofort klar.
»War Grauhaars Zunge auch gespalten?«
»Nein. Manchmal war seine Zunge krank und redete Dinge, die Mondauge nicht verstand. Aber niemals hat Grauhaar Mondauge betrogen.«
»Mondauge weiß also, daß nicht alle Weißen mit gespaltener Zunge reden.«
»Aber Mondauge weiß nicht, ob es der Adler tut.«
»Dann soll Mondauge näherkommen und sich davon überzeugen.«
Der Indianer überlegte ein paar Sekunden und meinte dann: »Mondauge bleibt an seinem Platz. Der Adler wird zu ihm kommen!«
Jacob gehorchte. Ihm blieb nichts anderes übrig.
Der Indianer folgte jeder seiner Bewegungen mit der Spitze seines Pfeils.
Als Jacob dicht vor dem Mann im Bärenfell stand und in die Jackentasche griff, um Urillas Medaillon herauszuholen, stieß Mondauge laut hervor: »Der Adler soll seine Krallen lassen, wo sie sind!«
Jacob erkannte, daß er fast einen tödlichen Fehler begangen hätte. Seine unbedachte Handbewegung hätte den anderen leicht dazu bringen können, den Pfeil von der Sehne schnellen zu lassen. Auf die kurze Entfernung hätte das hölzerne Geschoß den Treck-Captain durchbohrt wie ein Stück Butter.
»Ich wollte Mondauge nur den Beweis für die Wahrheit meiner Worte zeigen. Darf ich ihn aus der Tasche ziehen?«
Der Indianer machte nur eine knappe Bewegung mit dem Kopf.
Jacob hoffte, daß er dies als Zeichen seines Einverständnisses deuten durfte, und zog langsam mit spitzen Fingern die Kette mit dem Medaillon hervor.
Er öffnete das Medaillon umständlich mit seinen behandschuhten Händen, hielt es dem Indianer hin und sagte:
»Erkennt Mondauge dies?«
»Ja, es ist Grauhaars Medizin. Warum trägt Grauhaar sie nicht?«
»Es ist nicht Grauhaars Medizin, sondern die seiner Tochter. Grauhaars Medizin hängt über seinem Grab.«
»Grauhaar ist tot?«
Zum erstenmal zeichnete sich eine starke Gefühlsregung auf dem Gesicht des Indianers ab.
Jacob nickte.
»Hat Einauge ihn getötet?«
»Nein. Grauhaar hat Einauge getötet, als der Berglöwe meinen Freund angriff, der jetzt schwer verletzt ist und vielleicht auch sterben wird. Grauhaar wurde erschossen, als er uns gegen unsere Feinde half.«
»Eure Feinde?«
»Weiße Männer. Weiße mit gespaltener Zunge. Wir brachten Grauhaar noch zu unserem Treck, zu seiner Tochter, die ihn suchte. Er starb in ihren Armen.«
»Was wollen die Weißen von Mondauge?«
»Mondauge soll uns vor dem Schnee retten. Grauhaar hat gesagt, Mondauge kann uns ins Tal der heißen Wasser führen, wo niemals Schnee fällt.«
»Warum sollte Mondauge das tun?«
»Weil es Grauhaars Wunsch gewesen ist. War Grauhaar nicht Mondauges Freund? Ist es Mondauge gleichgültig, wenn auch Grauhaars Tochter stirbt?«
Der Indianer antwortete eine ganze Weile nicht. Er stand stumm und starr zwischen den Felsen, den Bogen noch immer schußbereit in den Händen. Er wirkte, als hätte die Kälte ihn festfrieren lassen.
Auf einmal ließ er seine Waffe sinken, entspannte langsam die Sehne und steckte den Pfeil zurück in den Köcher auf seinem Rücken.
»Mondauge wird euch helfen«, sagte er und starrte die Fotografien in dem Medaillon an. »Grauhaar hat Mondauges Tochter gerächt. Deshalb wird Mondauge Grauhaars Tochter helfen.«
»Was ist mit Mondauges Tochter?«