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»Dann seid ihr gegen den Berglöwen in den Kampf gezogen?«
»Ja.«
Alles, was er auf dem Kriegspfad bei sich hatte, trug der Indianer am Leib. Ohne weitere Umschweife begleitete er Jacob zurück zum Suchtrupp. Die Männer staunten nicht wenig, als ihr Captain und der Mann im Bärenfell Seite an Seite aus dem Schneetreiben auf sie zustapften.
*
Auch im Lager, wo die Frauen inzwischen auf mühsam vom Schnee befreiten Feuerstellen das Abendessen zubereiteten, staunten die Menschen über den Gast, den der Suchtrupp mitbrachte. Jacob und seine Begleiter wurden mit tausend Fragen bestürmt.
»Später«, vertröstete der Deutsche die ihn umdrängenden Menschen. »Mondauge soll erst einmal mit uns essen.« Er sah den Indianer an. »Mondauge mag doch das Essen der Weißen?«
Der Mann im Bärenfell blickte hinaus in den Schneesturm und sagte:
»Bei dem Wetter ißt Mondauge alles.«
Doch es schien im wirklich zu schmecken. Den gebratenen Speck, die Bohnen, das Sodabrot, die Pfannkuchen mit Brombeermarmelade, er verschlang alles in Massen und spülte es mit einer halben Kanne starken Kaffees hinunter. Sein mehrfaches lautes Aufstoßen nach dem Essen war ein hörbares Zeichen seiner satten Zufriedenheit.
Während des ganzen Essens hatte sein Blick an Urilla gehangen. Jede ihrer Bewegungen hatten seine gelben Augen verfolgt.
Als sie das Geschirr abgespült und nach dem schlafenden Martin geschaut hatte und sich wieder zu den anderen Leuten ihres Zuges auf die mit Decken verhüllten Felsen setzte, sagte der Indianer unvermittelt: »Rotes Haar ist wirklich Grauhaars Tochter. Sie bewegt sich wie Grauhaar, ihre Augen blicken wie die von Grauhaar, und sie spricht wie Grauhaar. Mondauge wird ihr und ihren Freunden helfen.«
»Rotes Haar«, wiederholte Urilla versonnen und strich über ihre feuerrote Lockenpracht. »Das ist ein schöner Name. Er gefällt mir.« Sie schaute auf und sah den Indianer an. »Will mir Mondauge eine Frage beantworten?«
»Rotes Haar soll fragen.«
»Wie ist mein Vater zu Mondauge und seinem Volk gekommen?«
»Es ist fünf Winter her, als wir unser Tal verließen, um auf die Jagd zu gehen. Unsere Späher hatten uns eine große Zahl Langohrhirsche gemeldet. Wir fanden die Hirsche nicht, aber viele tote weiße Männer, Frauen und Kinder. Grauhaar war der einzige, der noch lebte. Aber er war sehr schwach. Die Heilerin hat sehr lange gebraucht, bis er wieder auf die Jagd gehen konnte. Einen ganzen Winter und fast einen Sommer. Danach redete er noch oft sehr wirr, und erst mit der Zeit kehrte die Klarheit seines Geistes zurück.«
»Was ist mit den anderen Weißen geschehen?« fragte Jacob. »Mit Grauhaars Begleitern?«
»Ihre Wagen waren in einen steilen Abhang gestürzt. Die meisten Weißen waren zerschmettert worden. Die anderen töteten sich gegenseitig. Sie wollten sich vor den Schmerzen bewahren, vor dem langsamen Sterben. Vielleicht war ihr Geist auch verwirrt wie der von Grauhaar. Ihre Wagen waren am Loch des trüben Wassers vorbeigezogen. Mondauges Volk weiß, daß das Wasser den Geist verwirrt. Die Weißen haben es nicht gewußt.«
»Entsetzlich«, sagte Urilla und schloß bei dem Gedanken an das Schicksal ihres Vaters und seiner Gefährten die Augen. Als sie die Lider wieder hob, fragte sie: »Warum ist mein Vater nicht zu seiner Familie zurückgekehrt, Mondauge?«
»Erst durfte er es nicht. Vor langer Zeit, nach einem blutigen Krieg, hat sich mein Volk entschieden, nichts mit anderen Völkern zu tun zu haben. Grauhaar durfte das Tal der heißen Wasser nicht verlassen, bis wir wußten, ob wir ihm vertrauen konnten. Als wir das wußten und Grauhaar seiner Wege gehen durfte, ist er freiwillig bei uns geblieben. Er sagte, nur in den Bergen sei er wirklich frei.«
»Hat er nie von seiner Familie gesprochen?«
»Nur wenige Male. Er sagte dann stets, dies sei sein anderes Leben gewesen.«
Urilla glaubte zu verstehen. Sein Leben lang hatte ihr Vater geackert und sich krummgelegt, um sich und seine Familie nur mit dem Allernötigsten zu versorgen. Bei den Indianern hatte er sich unbelastet von solchen Sorgen gefühlt, hatte ein ganz neues Leben führen können. Vielleicht hatte auch die Verwirrung, von der Mondauge gesprochen hatte, dazu beigetragen, daß Daniel Anderson nur selten an seine Familie dachte.
Sie war ihrem Vater deshalb nicht böse. Sie konnte es ihm nachfühlen. Vielleicht hätte sie an seiner Stelle ebenso gehandelt, hätte ein beengtes Leben in Armut eingetauscht gegen die Freiheit, Unberührtheit und grenzenlose Weite der Berge.
»Wenn euer Volk nichts mit anderen zu tun haben will, wie kannst du uns dann helfen, Mondauge?« wollte Jacob wissen, der plötzlich ganz besonders hellhörig geworden war. »Heißt das etwa, wir dürfen das Tal der heißen Wasser nie wieder verlassen?«
»Wenn der Stammesrat nicht etwas anderes beschließt, dann nicht«, bestätigte Mondauge.
»Verfluchter Mist!« entfuhr es Sam Kelley.
Mondauge warf ihm einen forschenden Blick zu.
»Zieht der schwarze Mann den Tod im Schnee einem Leben im Tal der heißen Wasser vor?«
»Ich laufe lieber auf zwei Beinen herum, als zwei Fuß unter der Erde zu liegen«, entgegnete der Schmied.
»Aber ich entscheide gern selbst, wohin ich gehe. Meine schwarzen Brüder und Schwestern mußten lange genug auf das hören, was ihnen die Weißen befohlen haben. Viele müssen es heute noch.«
Er sah seinen Schwager Jackson Harris an.
»Der Bruder meiner Frau war vor wenigen Monaten noch ein Sklave der Weißen. Sollen wir jetzt alle Sklaven der Roten werden?«
Mondauge nickte verstehend und sagte: »Das ist wirklich ein Problem. Vielleicht kann Mondauge beim Stammesrat erreichen, daß ihr weiterziehen dürft, wenn der Schnee geschmolzen ist. Schließlich ist Grauhaars Tochter bei euch. Und Grauhaar war Mondauges Bruder.«
»Besitzt Mondauges Wort beim Stammesrat großes Gewicht?« erkundigte sich Jacob.
Wieder nickte der Indianer.
»Das tut es. Mondauge ist der Häuptling seines Stammes.«
*
Am nächsten Morgen verließ der Treck den Oregon Trail und vertraute sich Mondauges Führung an.
Als die zweiundzwanzig Wagen den Lagerplatz an der Himmelsnadel verließen, bemerkte niemand den einsamen Mann, der zwischen den Felsen verborgen lag und dem Treck aus zusammengekniffenen Augen nachstarrte.
Der scharfe Wind hatte sich etwas beruhigt, und nur ganz sacht schwebten einzelne, flauschige Schneeflocken aus dem aufklarenden Himmel hernieder. Unter den Auswanderern wuchs die Hoffnung, den frühen Wintereinbruch hinter sich zu haben.
Aber die Hoffnung war trügerisch. Es war weiterhin sehr kalt, und von Norden schob sich eine neue Wolkenfront über die Berge.
Kurz nach dem Aufbruch lenkte Toby Cullen seinen stämmigen Braunen, der mit seinem kleinen Wuchs gut zu dem Barbier paßte, neben Jacobs Grauschimmel und fragte: »Wollen Sie sich wirklich in die Hände dieses Indianers begeben, Captain? Vielleicht lockt er uns in eine Falle.«
Jacob blickte nach vorn, wo der Indianer auf Schneeschuhen, die er zuvor unter seinem Bärenfell auf dem Rücken getragen hatte, vor dem Treck herlief. Jacobs Angebot, ein Pferd aus der Remuda zu nehmen, hatte er abgelehnt. Wie der Deutsche Mondauges Worten entnommen hatte, gingen die Angehörigen seines Volkes lieber zu Fuß. In der unwegsamen Berggegend war das sicher kein Nachteil.
»Ich halte Mondauge nicht für einen Verräter«, erwiderte Jacob scharf. »Sie sollten so etwas nicht sagen, wenn Sie keine Beweise dafür haben, Cullen. Dasselbe haben die O'Rourkes auch über Billy Calhoun gesagt. Haben wir jemals Grund gehabt, an Billys Treue zu zweifeln?«
»Ich wollte weder Billy noch dem Indianer etwas unterstellen. Ich finde nur, daß es vielleicht unnötig ist, dieses Tal der heißen Wasser aufzusuchen. Immerhin scheint man dort Fremde nicht unbedingt zu mögen. Das Wetter klart auf. Vielleicht schmilzt der Schnee schon bald. Weshalb also den Umweg in Kauf nehmen?«
»Das Wetter klart nicht auf«, sagte Jacob kopfschüttelnd und zeigte nach Norden. »Jedenfalls nicht auf Dauer. Dort kommt schon die nächste Wolkenschicht heran.« Seine Stimme wurde leiser. »Martin ging es während der Nacht sehr schlecht. Mondauge sagt, die Heilerin seines Stammes könnte ihm helfen. Auch das ist ein Grund, möglichst schnell zum Tal der heißen Wasser zu kommen. Wir haben schon genug Gräber hinter uns zurücklassen müssen, seit wir Kansas City verlassen haben.«
»Hoffentlich finden wir nicht alle in diesem Tal unser Grab«, knurrte der Barbier, bevor er seinen Braunen barsch antrieb und zurück zu seinem Wagen lenkte.
»Das hoffe ich auch«, seufzte Jacob und blickte gedankenverloren wieder Mondauge an, der mit einer Schnelligkeit über den Schnee lief, mit der die schweren Wagen kaum mithalten konnten.
Der junge Zimmermann war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er die Stimme, die zu ihm sprach, erst nach einer Weile bemerkte. Es war Irene, die neben ihm durch den Schnee stapfte und sich am Sattelzeug des Grauschimmels festhielt.