158192.fb2 Indiana Jones Die Gefiederte Schlange - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

Indiana Jones Die Gefiederte Schlange - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

3 Jahre später. New Orleans

Das PALLADIUM war eine Kaschemme. Das einzig Vornehme an ihm war der Name, der allerdings nicht einmal Überbleibsel aus besseren Zeiten, sondern schlicht und einfach dem Größenwahn seines Besitzers zuzuschreiben war. Das Lokal bot normalerweise Platz für dreißig, mit viel gutem Willen auch vierzig Gäste, aber der Türsteher draußen sorgte dafür, daß selten weniger als siebzig oder auch achtzig Personen anwesend waren. Das wiederum führte zu einem solchen Gedränge, Geschiebe und Durcheinander, daß es den Anwesenden einfach gar nicht möglich war, die Tür wieder zu erreichen, wenn sie erst einmal den Fehler begangen hatten, sich hereinlocken zu lassen. Die Luft war so dick und verräuchert, daß es völlig sinnlos war, dem Mann hinter der Theke mit Gesten etwas zu verstehen geben zu wollen; man mußte schon brüllen, um eine Bestellung aufzugeben. Was allerdings die wenigsten Gäste taten. Es hätte auch nicht viel Sinn gehabt — es gab sowieso nur die Wahl zwischen zwei Getränken: lauwarmem Bier und Whisky, von dem die Rede ging, daß der Besitzer des PALLADIUM ihn jede Nacht aus den Resten nicht ausgetrunkener Gläser selbst zusammenbraute. Seinem Geschmack nach zu schließen, entsprach das der Wahrheit.

Indiana Jones achtete im Moment aber weder auf das Gedränge rings um ihn herum, noch auf den goldbraunen Magenvernichter, dessen Farbe wahrlich das einzige war, was an diesem Getränk wirklich an Whisky erinnerte. Er konzentrierte sich voll und ganz auf das Blatt in seiner Hand.

Es war ein Full House. Dazu das schönste Full House, das er seit Jahren gesehen hatte. Drei Asse und zwei Könige, die er auf die Hand bekommen hatte, ohne ein einziges Mal tauschen zu müssen: eine Eins-zu-einer-Million-Chance.

Sein Gegenüber schien etwas in dieser Art zu befürchten, denn die Blicke, mit denen er Indiana schier durchbohrte, waren in den letzten Minuten immer nervöser geworden. Von den ursprünglich fünf Teilnehmern an der Pokerrunde waren nur noch sie beide übriggeblieben. Die anderen waren ausgestiegen und beobachteten das stumme Duell gespannt; ebenso wie zwanzig oder dreißig Schaulustige, die den Tisch in einem dichten Kreis umstanden.

Was auch weiter kein Wunder war: Das PALLADIUM war zwar dafür bekannt, eine Spielhölle zu sein, in der manchmal auch große Beträge über den Tisch gingen — aber einen Einsatz wie den, der jetzt zwischen Indiana und seinem Gegenüber auf dem Tisch lag, sah man selbst hier nicht jeden Tag. Indiana hatte längst die Übersicht verloren, wieviel es war. Er selbst war an diesem Abend mit hundert Dollar in der Tasche hierhergekommen, wie immer, wenn er spielen wollte. Ein Betrag, der ihm zwar weh tun, ihn aber nicht ruinieren würde, sollte er ihn verlieren. Aber er hatte ihn nicht verloren, sondern beständig gewonnen. Im Laufe des Abends war seine Barschaft von hundert zuerst auf tausend, dann auf zwei-, schließlich drei- und am Ende sogar mehr als viertausend Dollar angewachsen — und das alles lag jetzt zwischen ihnen. Das, derselbe Betrag, den sein Gegner dazuge-legt hatte, und noch einmal mindestens dasselbe: die Einsätze der anderen Pokerspieler, die nach und nach ausgestiegen waren. Selbst Indiana, der sich normalerweise nicht allzuviel aus weltlichen Gütern machte, wurde beim Anblick des gewaltigen Haufens zerknitterter grüner Dollarnoten ein wenig flau im Magen.

Seinem Gegenüber anscheinend etwas mehr als nur ein wenig.

Josés Augen hatten sich geweitet, auf seiner Stirn perlte Schweiß, und die Hände, mit denen er seine Karten hielt, zitterten. Es war nicht das erste Mal, daß Indiana sich mit José zu einer Pokerpartie traf, und bisher hatte er ihn für einen kühlen, überlegenen Spieler gehalten, den nichts aus der Ruhe bringen konnte. Aber auch er spielte selten um solche Beträge. Eigentlich hatte Indiana ihn niemals um mehr als zwei- oder dreihundert Dollar auf einmal spielen sehen. Und der Anblick dieses schon mehr als kleinen Vermögens, das sich zwischen ihnen häufte, hatte auch seine sprichwörtliche Ruhe erschüttert.

Dabei hatte eigentlich keiner von ihnen vorgehabt, so viel zu riskieren. Im Grunde hatte es wie bei früheren Treffen mehr als Geplänkel zwischen ihnen begonnen: Indiana hatte seine Karten bekommen und nur den Kopf geschüttelt, als ihn der Geber fragte, wieviel neue er wolle, und José, der Indiana eher als Gelegenheitsspieler denn als Profi kannte, hatte spöttisch die linke Augenbraue gehoben und ihm zugelächelt. Wahrscheinlich hatte er die zehn Einhundertdollarnoten, die er dann mit einer lässigen Geste auf den Tisch warf, einzig eingesetzt, um Indiana zu beweisen, was er von seinem vermeintlichen Bluff hielt. Und auch Indiana hatte eigentlich nur aus purer Schadenfreude bei dem Gedanken, welches Gesicht sein alter Studienfreund wohl machen würde, wenn er dieses Superblatt erst sähe, die gleiche Summe von dem Stapel Geldscheine vor sich abgezählt und da-zugelegt.

Und dann … Dann hatte es sie wohl beide erwischt, wie man so schön sagt.

Dieses eine Spiel dauerte nun schon fast eine halbe Stunde, und sie hatten sich unerbittlich gegenseitig hochgeschaukelt. Die anderen Spieler waren nach und nach ausgestiegen, obwohl auch einige von ihnen erhebliche Beträge eingesetzt hatten, und aus dem freundschaftlichen Zweikampf der beiden war ein erbittertes Ringen geworden. Seit Indiana die letzten beiden HundertdollarScheine, die noch vor ihm auf dem Tisch gelegen hatten, gesetzt hatte, um Josés Einsatz auszugleichen, waren gut fünf Minuten vergangen. Keiner von ihnen hatte in dieser Zeit ein Wort gesprochen, aber die Spannung war beinahe ins Unerträgliche gestiegen.

José legte die Karten aus der Hand und griff in die Brieftasche. Das hatte er während der letzten Viertelstunde mehrmals getan, und das Bündel Geldscheine darin war immer dünner geworden. Indiana betrachtete das nicht ohne Sorge. Er kannte José. Sie waren keine Freunde, aber doch gute Bekannte und Kollegen (wenigstens beinahe), und er wußte, daß der Mexikaner normalerweise auf die gleiche Art zu spielen pflegte wie er: mit einem relativ geringen Einsatz nämlich, den er entweder verspielte, worauf er dann nach Hause ging, oder verdoppelte oder verdreifachte, um dann den Gewinn auch wieder zu verspielen, oder — wenn auch äußerst selten — mit nach Hause zu nehmen. Aber jetzt wich José von dieser Gewohnheit ab. Er hatte sein Spielkapital ebenso aufgezehrt wie Indiana, und was in seiner Brieftasche war, das war wahrscheinlich sein letzter Monatslohn.

«Tu das lieber nicht«, sagte Indiana, als José zweihundert Dollar aus der Brieftasche nahm und sie auf den Tisch warf.»Wenn du das auch noch verlierst, dann muß ich dich den ganzen Monat durchfüttern und habe dich am Hals«, fügte er mit einem spöttischen Lächeln hinzu.

José blieb ernst.»Hältst du nun mit oder nicht?«fragte er. Seine Stimme klang gepreßt, und sein Blick flackerte.

Indiana war versucht, nein zu sagen. Der Tisch vor ihm war leer, alles, was er an diesem Abend gewonnen hatte, inklusive des Hunderters, mit dem er hierhergekommen war, lag jetzt im Pott. Seine Vernunft sagte ihm, daß er aufhören sollte. Wenn er verlor, dann hatte er genau einhundert Dollar verloren, nicht mehr und nicht weniger. Wenn José verlor, dann war er für die nächsten Monate ruiniert.

Auch sein Aussehen bereitete Indiana jetzt Sorge. Bis zu diesem Abend war José ein Gelegenheitsspieler gewesen, wie Indiana auch. Was er jetzt in seinen Augen sah, war das Flackern eines besessenen Spielers, der einfach nicht aufhören kann. Vielleicht würde ihm ein kleiner Dämpfer guttun. Indiana entschloß sich, ihm später zumindest einen Teil des Gewinns wiederzugeben, damit er in den nächsten Wochen über die Runden kommen könnte. Wahrscheinlich tat José ein kleiner, heilsamer Schock ganz gut.

Er legte ebenfalls sein Blatt aus der Hand, griff unter die Jacke und klappte die Brieftasche auf. Darin befanden sich drei Hunderter und ein Fünfzigdollarschein. Er nahm zweihundert Dollar heraus, legte sie auf den Tisch und sah José fragend an.»Du solltest aufhören«, sagte er noch einmal.

José schürzte trotzig die Lippen, griff abermals nach seiner Brieftasche und klappte sie auf. Indiana sah, daß darin noch genau dreihundert Dollar waren.

«Tu das nicht«, sagte er warnend.»Du ruinierst dich, mein Freund.«

José blickte ihn beinahe haßerfüllt an, nahm die drei Geldscheine und warf sie auf den Tisch.»Hältst du mit oder steigst du aus?«fragte er trotzig.

Indiana blickte in seine eigene Brieftasche. Er konnte nicht mithalten. Seine Barschaft reichte nicht aus.»Nimmst du einen Schuldschein von mir?«fragte er. Ohne Josés Antwort abzuwarten, zog er einen Bleistift hervor und suchte nach einem Stück Papier — aber José schüttelte den Kopf.

«He, he«, protestierte Indiana.»Ich bin dir doch wohl für fünfzig lausige Dollar gut, oder?«

«Kein Schuldschein«, sagte José knapp.»Leg das Geld auf den Tisch oder steig aus.«

«Das ist nicht fair«, protestierte Indiana.»Du versuchst, mich rauszudrängen.«

José zuckte gleichmütig mit den Achseln.»Wer hoch spielt, sollte genug Bargeld mithaben«, sagte er.»Hast du es?«

Allmählich wurde Indiana wirklich wütend.»Nein«, antwortete er gepreßt.»Aber wenn du mir eine Minute Zeit gibst, besorge ich es. «Er deutete mit einer ärgerlichen Kopfbewegung auf die Bar.»Ich denke, soviel Kredit habe ich sogar hier.«

Er wollte aufstehen, aber plötzlich hob José die Hand und winkte ab.»Spar dir die Mühe«, sagte er.

Indiana setzte sich wieder und sah ihn fragend an.

José wirkte ein bißchen verlegen. Offensichtlich taten ihm seine eigenen Worte bereits wieder leid.»Entschuldige«, sagte er.»Selbstverständlich bist du mir für fünfzig gut. Willst du mithalten?«

Indiana nickte.

José preßte die Lippen aufeinander, blickte die Rückseiten seiner Karten, die nebeneinander vor ihm auf dem Tisch lagen, sekundenlang durchdringend an und griff in die Jackentasche. Als er die Hand wieder hervorzog, hielt sie ein Bündel zerknitterter Dollarnoten. Er glättete sie sorgsam vor sich auf dem Tisch, zählte sie ab und warf sie dann oben auf den Haufen mit Geldscheinen.»Das sind jetzt noch einmal siebenundachtzig«, sagte er.

Indiana seufzte.»Du bist völlig wahnsinnig«, murmelte er.»Aber gut, wenn du es nicht anders willst — ich halte mit.«

José blickte ihn an.

«Das macht dann einhundertsiebenunddreißig, die ich dir schulde, wenn ich verliere«, sagte Indiana, schon wieder zornig.

«Würde es dir viel ausmachen, mir ein Pfand zu geben?«fragte José.

Indiana merkte, daß es ihm in der Tat viel ausmachte. Er fühlte sich gekränkt durch dieses völlig grundlose Mißtrauen. Immerhin war er kein Wildfremder, und wenn er auch einen etwas zweifelhaften Ruf genoß, so gehörte doch die Gewohnheit, seine Schulden nicht zu bezahlen, auf keinen Fall zu den Dingen, die man ihm nachsagen konnte. Wütend streifte er den Ärmel zurück, um seine Uhr abzuschnallen, aber José schüttelte den Kopf.

«Nein«, sagte er.

Indiana erstarrte mitten in der Bewegung und blickte José über den Tisch hinweg zornig an. Der Südamerikaner deutete auf die Kette, die unter Indianas Hemd sichtbar war.»Was ist das da?«fragte er.

Indiana zögerte. Einen Moment lang war er versucht, einfach aufzustehen und José samt seinem verdammten Geld sitzenzulassen, aber dann griff er doch unter sein Hemd und zog die Kette hervor, so daß José den kleinen Maya-Anhänger sehen konnte.

«Das ist Gold, nicht wahr?«fragte José.

Indiana nickte grimmig.»Ja, und das ist verdammt viel mehr wert als die lumpigen hundertsiebenunddreißig«, sagte er.

«Dann setze ich noch mal tausend«, sagte José und fügte mit einem dünnen, hämischen Lächeln hinzu:»Falls ich dir dafür gut bin, heißt das.«

«Aber natürlich«, antwortete Indiana gepreßt.»Du hast unbegrenzten Kredit bei mir, mein Freund.«

Mit einem Ruck zog er die Kette über den Kopf, warf sie auf den Tisch und starrte José an.»Dann zeig mal, was du hast.«

«Zuerst du«, sagte José.

Indiana zuckte mit den Achseln, deckte seine beiden Könige und die drei Asse auf und lehnte sich zurück. Eigentlich hatte er den Moment genießen und die Karten eine nach der anderen herumdrehen wollen, und zwar in einer Reihenfolge, die José bis zum letzten Moment im unklaren darüber gelassen hätte, was er wirklich hatte. Aber er hatte längst den Spaß an dieser Pokerpartie verloren. Es war ihm auch eigentlich gleichgültig, ob er gewann oder nicht. Das einzige, was er wollte, war, José eine Lektion zu erteilen.

Ein paar Sekunden später begriff er, daß er es war, der an diesem Abend eine Lektion bekam.

Josés Augen weiteten sich, als sie das Füll House von Indiana Jones sahen, aber es war kein Schrecken, der sich darin widerspiegelte, sondern ein wilder Triumph. Einen Moment lang lächelte er, dann begann er schallend zu lachen, griff nach seinen eigenen Karten und warf sie Indiana über den Tisch zu. Indiana fing sie auf, drehte sie herum und stieß enttäuscht die Luft zwischen den Zähnen aus, als er sah, welches Blatt José hatte.

Es war ein Straight bis zum As; dem letzten, das Indiana noch gefehlt hatte.

«Tja, Dr. Jones«, sagte José spöttisch.»Sieht so aus, als könnten Sie sogar von mir noch etwas lernen. «Grinsend beugte er sich über den Tisch und raffte den Einsatz an sich — weit mehr als zehntausend Dollar, schätzte Indiana. Mit ausdruckslosem Gesicht sah er zu, wie José das Geld vor sich zu kleinen, gleichmäßigen Stapeln sortierte, aber als der Mexikaner auch nach der Kette greifen wollte, hielt Indiana seine Hand zurück.»Das war nur ein Pfand«, erinnerte er ihn.

José nickte.»Ich weiß. Du bekommst es zurück — sobald du mir die elfhundertsiebenunddreißig Dollar bringst, die du mir schuldest.«

Indiana sparte sich eine Antwort. Das mit der Lektion hat ja prima geklappt, dachte er zornig. Nur dumm, daß er selbst es gewesen war, dem er sie erteilt hatte.

Er stand auf.»Morgen früh«, sagte er wütend.»Ich bringe dir das Geld ins Hotel. Wäre dir zehn Uhr recht?«

José schüttelte den Kopf.»Komm lieber um zwölf«, sagte er.»Ich habe das Gefühl, daß es heute nacht spät wird. Ich habe Grund zu feiern, weißt du?«

Indiana drehte sich so abrupt um, daß er in der Bewegung einen Stuhl umwarf, und stürmte davon. Es war fast Mitternacht, als er auf die Straße hinaustrat. Sein Kopf dröhnte, seine Augen brannten, und er hatte zuviel getrunken. Aber die klare, kalte Nachtluft half ihm. Er entfernte sich ein paar Schritte von dem Lokal, blieb stehen und lehnte sich mit geschlossenen Augen an eine Mauer, um einen Moment lang nichts anderes zu tun, als die frische Luft einzuatmen.

Und wieder zu sich selbst zu finden.

Er war zornig — und dieser Zorn galt sehr viel mehr ihm selbst als José. Dabei war es nicht einmal das verlorene Geld, das ihn so wütend machte. Er würde auch das überstehen, ohne ins Armenhaus gehen oder sich erschießen zu müssen. Was viel schlimmer war — er war von einem seiner eisernen Prinzipien abgewichen, nämlich dem, niemals mehr zu verspielen, als er bei sich hatte. Und was das Schlimmste war, er hatte etwas verspielt, was ihm nicht einmal gehörte.

Indiana hatte das Versprechen keineswegs vergessen, das er Swanson gegeben hatte. Er hatte den kleinen Anhänger die letzten drei Jahre ununterbrochen bei sich getragen, und er hatte intensiv nach Swansons Tochter gesucht, sie aber bisher nicht gefunden. Obwohl er die Stadt öfter besuchte, lag es diesmal zum größten Teil genau an diesem Anhänger, daß er in New Orleans war: Er war während der Semesterferien hierher gereist, weil ihm ein Kollege erzählt hatte, daß Swansons Tochter hier zu finden sei. Für den nächsten Tag hatte er eine Verabredung mit einem Rechtsanwalt, dem er schon vor drei Monaten schriftlich den Auftrag erteilt hatte, sie ausfindig zu machen.

Nun ja, bis dahin war Zeit genug, den Anhänger wieder auszulösen.

Er ging weiter. Es war sehr dunkel; am Himmel stand kein Mond, und während der Stunden, die er im PALLADIUM verbracht hatte, waren Wolken aufgezogen. Auf der anderen Seite des Hafens regnete es bereits, und die Luft, die ihm noch vor Augenblicken so erfrischend vorgekommen war, wurde nun bereits unangenehm kühl.

Indiana schlug den Jackenkragen hoch, rammte die Hände in die Taschen und ging mit gesenktem Kopf und schneller werdenden Schritten weiter. Er würde sich beeilen müssen, um rechtzeitig ins Hotel zu kommen und sich nicht nach der Pleite am Pokertisch auch noch eine kalte Dusche einzuhandeln.

Er überquerte die Straße, wandte sich nach rechts und blieb einen Moment unschlüssig stehen. Der Weg zum Hotel war nicht sehr weit, aber es wurde jetzt immer kälter, und der Wind wurde schneidender. Offensichtlich kam der Regen schneller heran, als er geglaubt hatte. Aber es gab eine Abkürzung. Nur wenige Schritte entfernt konnte er eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern erkennen — eigentlich kein richtiger Weg, sondern nur eine Lücke, die aus irgendeinem Grund nicht zugebaut worden war — und dahinter eine nicht einmal ganz zwei Meter hohe Ziegelsteinmauer. Auf der anderen Seite, das wußte er, lag die Straße, an der sein Hotel lag.

Er bog in die Gasse ein und näherte sich der Mauer, wobei er im Slalom gehen mußte, um überquellenden Mülltonnen und leeren Pappkartons auszuweichen. Sein Fuß stieß im Dunkeln gegen einen Mülltonnendeckel, der scheppernd davonflog. Einen Augenblick später ertönte aus dem hinteren Teil der Gasse ein wütendes Fauchen, und ein struppiger Schatten verschwand in der Dunkelheit.

Indiana erreichte die Mauer, streckte die Hände nach ihrer Krone aus — und drehte sich mit einem Ruck wieder herum.

Hinter ihm war etwas.

Er sah nichts. Er hörte nicht einmal etwas Verdächtiges, aber er spürte einfach, daß ihn jemand belauerte. Er war einfach ein paarmal zu oft verfolgt und gejagt worden, um nicht schon eine Art Instinkt für diese Art der Bedrohung entwickelt zu haben.

Sein Blick bohrte sich in die Dunkelheit. Dieser Schatten dort — war das wirklich eine Mülltonne oder eine zusammengekauerte Gestalt? Und die Bewegung gerade — er war jetzt nicht mehr sicher, daß das wirklich eine Katze gewesen war.

«Ist da jemand?«rief er in die Dunkelheit.

Keine Antwort.

«He — Freundchen!«rief Indiana.»Wenn du es auf meine Brieftasche abgesehen hast, spar dir die Mühe. Sie ist leer.«

Er bekam auch jetzt keine Antwort, aber das Gefühl, angestarrt zu werden, wurde immer intensiver.

Indianas Hand bewegte sich zur Jacke, die er hastig zurückschlug, dann kroch sie zum Gürtel. Seine Finger schlossen sich um den Griff der kurzstieligen, zusammengerollten Peitsche, die er fast immer dort trug, wenn er nicht gerade hinter seinem Pult an der Universität stand und Archäologie und Geschichte lehrte. Vor allem, wenn er Orte wie das PALLADIUM aufsuchte.

Und plötzlich ging alles rasend schnell:

Ein schepperndes Geräusch erklang, als eine der Mülltonnen umgestoßen wurde, dann sprang ein Schatten blitzschnell auf Indiana zu und versuchte, ihn von den Füßen zu reißen. Im letzten Moment wich er dem Angriff aus und duckte sich. Etwas zischte haarscharf über seinen Kopf hinweg, fegte seinen Hut herunter und riß Funken aus der Wand hinter ihm, und fast gleichzeitig traf ein Faustschlag seine Schulter und ließ ihn zurücktaumeln.

Aber noch im selben Moment hatte er seine Peitsche gelöst und holte aus.

Indiana Jones begriff einen kleinen Moment zu spät, daß eine Peitsche in einer nicht einmal eineinhalb Meter breiten Gasse eine erbärmliche Waffe war. Er holte aus, aber die geflochtene Schnur prallte gegen die Wand, lange bevor er wirklich Schwung holen konnte. Und die Zeit, sich eine andere Taktik zurechtzulegen, hatte er nicht. Der schattenhafte Angreifer fuhr herum, schlug ein zweites Mal nach ihm — und diesmal traf er.

Indiana taumelte unter einem heftigen Schlag zurück, stieß ein zweites Mal sehr unsanft gegen die Wand und brach in die Knie. Sein Kopf dröhnte. Seine linke Gesichtshälfte war taub, und er konnte nicht mehr richtig sehen. Der Kerl mußte entweder Kräfte wie ein Ochse haben, oder er hatte mit einer Waffe zugeschlagen.

Eine Hand packte Indiana an den Rockaufschlägen, riß ihn mit einem Ruck wieder in die Höhe und warf ihn zum dritten Mal gegen die Wand. Sein Hinterkopf prallte gegen hartes Mauerwerk, und der Schmerz ließ bunte Sterne und Kreise vor seinen Augen tanzen. Aber das machte ihn auch wütend.

Er ließ die nutzlose Peitsche fallen, duckte sich instinktiv, als er einen weiteren Hieb mehr spürte, als daß er ihn kommen sah, und machte einen Schritt zur Seite. Ein dunkles Krachen erklang, gefolgt von einem nur noch halb unterdrückten Schmerzenslaut. Und Indiana gestattete sich den Luxus eines flüchtigen Grinsens, als er sich vorstellte, daß die Faust, die eigentlich sein Gesicht hätte treffen sollen, mit ziemlicher Wucht gegen die Wand gekracht sein mußte.

Aber der Triumph hielt nicht lange vor. Er konnte seinen Gegner in der Dunkelheit immer noch nicht richtig erkennen, aber er sah zumindest, daß es sich um einen wahren Riesen handeln mußte. Ein Kerl von weit mehr als zwei Metern Größe und einer Schulterbreite, die jeder Beschreibung spottete. Und wenn ihm der Hieb gegen die Wand weh getan hatte, dann hatte das seine Wut höchstens noch geschürt. Indiana mußte sich plötzlich unter einem wahren Hagel von Schlägen ducken und taumelte rückwärts vor dem Angreifer zurück. Zwei, drei der wütenden Schwinger durchbrachen seine Deckung, und er hatte jedes Mal mehr Mühe, auf den Beinen zu bleiben.

Sein Fuß verhakte sich an etwas. Er stolperte, kämpfte eine Sekunde lang mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht und stürzte schließlich nach hinten. Es gelang ihm zwar, den Sturz abzufangen und ihm wenigstens seine größte Wucht zu nehmen, aber der andere nutzte die sekundenlange Schwäche aus, um sich sofort auf ihn zu werfen und seinen Körper mit den Knien an den Boden zu pressen. Ein riesiges, irgendwie sonderbares Gesicht tauchte über Indiana auf, und eine noch riesigere Faust ballte sich zum entscheidenden Schlag.

Indianas wild herumtastende Hände ergriffen etwas Hartes. Blindlings packte er es, raffte jedes bißchen Kraft zusammen, das er noch fand, und schlug zu.

Es gab ein Geräusch wie ein Paukenschlag, als der Mülleimerdeckel höchst unsanft im Gesicht des Angreifers landete. Im ersten Moment fürchtete Indiana schon, nicht einmal dieser Hieb würde den Riesen aufhalten — aber dann begann die Gestalt über ihm zu wanken. Er hörte ein leises, seufzendes Stöhnen, und nach einer weiteren Sekunde kippte der Kerl einfach von ihm herunter und blieb liegen.

Indiana rappelte sich mühsam auf, wich vorsichtshalber drei, vier, fünf Schritte von der reglosen Gestalt zurück und rang keuchend nach Atem. Er war alles andere als ein Schwächling, aber er wußte, daß er den ungleichen Kampf nur noch sekundenlang durchgestanden hätte.

Aber hätte und wenn, dachte er — er hatte gewonnen, und das allein zählte. Und dieser Umstand versöhnte ihn schon wieder ein bißchen mit dem Pech, das er vorher gehabt hatte.

«Siehst du, Freund«, sagte er feixend zu dem Bewußtlosen.»Manchmal triumphiert der Geist doch über die brutale Gewalt.«

Oder auch nicht.

Das letzte, was Indiana Jones für die nächsten zwei oder auch drei Stunden bewußt wahrnahm, war der Anblick des gleichen Mülleimerdeckels, mit dem er den Angreifer niedergeschlagen hatte. Nur, daß er plötzlich in der Hand eines zweiten riesigen Schattens lag und sich schnell, sehr schnell auf sein Gesicht zubewegte.

Rasend schnell sogar.

Selbst am nächsten Morgen hatte er noch Kopfschmerzen. Irgendwann im Laufe der Nacht war er in der schmutzigen Gasse aufgewacht und hatte sich zum Hotel geschleppt, wo ihn ein höchst verschreckter Portier in Empfang genommen und auf sein Zimmer geführt hatte. Nicht, ohne ihn mindestens zwanzig Mal zu fragen, ob er die Polizei oder einen Arzt oder besser gleich beides holen solle, was Indiana nur mit Mühe und Not hatte verhindern können.

Irgendwann, lange nach Sonnenaufgang, war er dann mit dröhnendem Kopf und einem widerwärtigen Geschmack im Mund wachgeworden, völlig angezogen und noch mit Hut und Stiefeln auf dem Bett liegend. Und dann, nachdem er ins Bad getaumelt war und den Kopf fünf Minuten lang unter eiskaltes Wasser gehalten hatte, hatte er eine Überraschung erlebt.

Er war nicht ausgeraubt worden.

Seine Uhr war noch da, seine Brieftasche mit allen Papieren und dem Kreditbrief der Bank of America, den er als Reserve für Notfälle stets mit sich führte, und auch der übrige Inhalt seiner Taschen.

Dafür hatten die Angreifer ihm das Hemd in Fetzen gerissen.

Er verstand das nicht — warum hatten sich die beiden Strauchdiebe solche Mühe mit ihm gemacht, um ihm dann nicht einmal seine Wertgegenstände abzunehmen?

Aber so lange er auch darüber nachdachte, er fand keine Antwort. Vielleicht hatte er die beiden ja mit seinem unerwartet heftigen Widerstand so eingeschüchtert, daß sie froh gewesen waren, davonzukommen, und ihn einfach liegengelassen hatten.

Er ahnte, daß das nicht die ganze Wahrheit war, aber er fühlte sich viel zu miserabel, um jetzt weiter über diese Frage nachzudenken. Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, lang und ausgiebig und eiskalt zu duschen und seine ramponierte Kleidung wieder in Ordnung zu bringen. Als er sich endlich wieder halbwegs menschlich fühlte, war es fast elf. Und der Blick auf die Uhr erinnerte ihn wieder daran, daß am vergangenen Abend noch mehr geschehen war, als der mißglückte Raubüberfall auf ihn.

Er hatte eine Verabredung mit José. Und da sich dessen Hotel nahezu am anderen Ende der Stadt befand und sein Magen mittlerweile hörbar knurrte, sollte er vielleicht nicht noch mehr Zeit damit vertrödeln, hier herumzustehen und sich selbst leid zu tun.

Indiana suchte das letzte bißchen Bargeld zusammen, das er noch in seinen verschiedenen Kleidungsstücken fand — alles in allem nicht einmal zehn Dollar —, verließ das Zimmer, ging in die Halle hinunter und betrat einen Frühstücksraum, in dem zwei übellaunig aussehende Kellner gerade damit beschäftigt waren, das letzte Geschirr abzuräumen. Nachdem er einen von ihnen mit einer zusammengefalteten Fünfdollarnote dazu überredet hatte, ihm doch noch ein Frühstück zu servieren — kalten Kaffee, pappige Brötchen und zwei Scheiben Wurst, die eindeutig älter waren als der Whisky im PALLADIUM —, schlang er alles lustlos herunter und verließ das Hotel. Er hatte jetzt noch eine halbe Stunde Zeit, um zur Bank zu gehen und dann noch pünktlich zu seiner Verabredung mit José zu kommen. Knapp, aber er konnte es schaffen.

Wie immer, wenn man wirklich eines braucht, war kein Taxi in der Nähe, und um ihm den Tag vollends zu vergällen, hatte sich der Himmel mit dunklen Wolken überzogen; es sah nach Regen aus. Indiana seufzte ergeben, rammte die Hände in die Jackentaschen, zog die Schultern hoch und ging los.

Die Bank, war nur zwei Straßenzüge entfernt. Er brauchte knapp zehn Minuten, um sie zu erreichen, und dann nicht einmal eine Dreiviertelstunde, bis die Schlange an dem einzigen geöffneten Schalter so weit vorgerückt war, daß er seinen Kreditbrief zücken und sein Konto um die Kleinigkeit von eintausendfünfhundert US-Dollar erleichtern konnte.

Der Anblick der sauber gebündelten Geldscheine erinnerte ihn wieder daran, wie närrisch er sich am vergangenen Abend benommen hatte. Und eigentlich hatte er noch Glück gehabt: Wäre José nicht zufällig ein alter Bekannter von ihm, dann hätte er jetzt nicht einmal das Amulett auslösen können. Der Goldwert des winzigen Anhängers betrug zwar nicht einmal annähernd die eintausendeinhundert Dollar, für die er es als Pfand hergegeben hatte, aber unter Sammlern würde es unter Umständen wesentlich mehr bringen.

Indiana stopfte das Geld achtlos in die Jackentasche und wandte sich um. Allmählich wurde die Zeit doch knapp. Zu seiner Verabredung mit José kam er ohnehin schon zu spät, aber wenn er weiter so herumtrödelte, dann würde er auch noch seinen Termin mit dem Rechtsanwalt verpassen. Er hoffte nur, daß José ihn nicht allzu lange aufhalten würde.

Als er durch die große, marmorverkleidete Halle lief, prallte er mit einer hochgewachsenen Gestalt zusammen. Indiana murmelte eine Entschuldigung, lief weiter — und blieb noch einmal stehen.

Irgend etwas an dieser Gestalt war …

Er wußte nicht, was — aber irgend etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Unauffällig drehte er sich noch einmal um und musterte den großen, breitschultrigen Mann genauer, den er um ein Haar über den Haufen gerannt hätte.

Er konnte sein Gesicht nicht sehen. Der Mann schlenderte — scheinbar ziellos — durch die Halle, hatte die rechte Hand in der Jackentasche und hielt in der linken den Stummel einer brennenden, filterlosen Zigarette. Aber das, was Indiana von hinten sah, das war an sich schon ungewöhnlich genug: Der Mann war ein Riese, weit über zwei Meter groß und mit der entsprechenden Schulterbreite. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der sich an Oberarmen und Brust über mächtigen Muskelpaketen wölbte, und auf Hochglanz polierte, schwarze Lackschuhe. Sein Haar war von der gleichen Farbe: ein dunkles, fast schon blauschimmerndes Schwarz, wie man es nur selten zu sehen bekam.

Und er bewegte sich merkwürdig.

Es dauerte einen Moment, bis Indiana begriff, was an seiner Art zu gehen so störend war: Es waren die Bewegungen eines Mannes, der weder diese Umgebung noch die Kleidung gewohnt war. Er wirkte unsicher, ungeschickt und beinahe ängstlich. Auf einmal blieb er ebenfalls stehen und drehte sich zur Seite. Und Indiana konnte ihn zumindest im Profil erkennen.

Und was für ein Profil!

Die kräftigen, ausgeprägten Kiefer, die leicht hervortretenden Wangenknochen, die scharfe Adlernase und die ganz leicht fliehende Stirn: Der Mann war ein Indianer, ein südamerikanischer Indianer, seiner Hautfarbe und dem charakteristischen Profil nach zu schließen ein Maya oder Azteke. Und Indiana glaubte jetzt auch zu verstehen, warum er sich so linkisch und unsicher bewegte. Selbst in einer Stadt wie New Orleans, die Fremde und Absonderlichkeiten gewohnt war, mußte ein Mann wie er auffallen, noch dazu ein solcher Riese.

Der Fremde vollendete seine Drehung und sah Indiana direkt ins Gesicht. Und nach ein paar Sekunden wurde Indiana klar, daß er ihn angestarrt hatte. Er lächelte verlegen, deutete ein Nicken an und beeilte sich, sich herumzudrehen und die Bank endgültig zu verlassen.

Diesmal fand er ein Taxi, und er hatte Glück — der Fahrer verzichtete darauf, den offensichtlich ortsunkundigen Passagier kreuz und quer durch die Stadt zu kutschieren, sondern gab sich mit dem Trinkgeld zufrieden, das Indiana ihm vorsichtshalber schon vor Antritt der Fahrt in die Hand gedrückt hatte, und fuhr auf direktem Wege zu Josés Hotel.

Indiana hatte halbwegs erwartet, José schon unten in der Halle anzutreffen, denn sie hatten sich fest verabredet, aber die Hotelhalle war leer bis auf eine dunkelhaarige, südamerikanische Schönheit, die auf einer kleinen Chaiselongue neben dem Eingang saß und ihn forschend musterte, als er sich dem Empfang näherte.

Er nannte Josés Namen und erwartete eine Zimmernummer als Antwort, aber statt dessen sah ihn der Mann hinter der Theke einen Moment lang nur beinahe erschrocken an und sagte dann:

«Sie sind Dr. Jones, nehme ich an.«

Indiana nickte verblüfft. Er konnte sich plötzlich des Gefühls nicht mehr erwehren, daß auch dieser Tag noch unangenehme Überraschungen für ihn bereithielt.

«Es tut mir leid, Dr. Jones«, fuhr der Empfangschef fort.»Aber Señor Perez ist heute morgen abgereist.«

«Abgereist?«wiederholte Indiana überrascht.

Der Empfangschef nickte.»Ja. Aber sehen Sie die Lady dort neben der Tür?«Er hob die Hand und deutete auf die Südamerikanerin, die Indiana immer noch wie hypnotisiert anstarrte, und Indiana nickte.»Sie hat eine Nachricht für Sie, Dr. Jones.«

Indiana bedankte sich, drehte sich um und ging auf die Frau zu. Sie sah ihm entgegen, rührte sich aber nicht, sondern blieb reglos sitzen, bis er bei ihr angekommen und wieder stehengeblieben war. Zwischen ihren Augenbrauen entstand eine steile Falte, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht war … sonderbar. Fragend, aber auch ein bißchen unsicher, fand Indiana; beinahe ängstlich.

Er räusperte sich gekünstelt, und endlich brach die Dunkelhaarige ihr Schweigen.»Dr. Jones?«

Indiana nickte.»Ja. Ich war mit …«

Sie unterbrach ihn mit einer Geste.»Sie sehen genauso aus, wie José Sie mir beschrieben hat«, sagte sie.»Ich war nur nicht ganz sicher. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie nicht gleich angesprochen habe.«

«Das macht doch nichts«, antwortete Indiana automatisch.»Darf ich fragen, wer Sie …?«

«Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte die Schwarzhaarige mit einem raschen, flüchtigen Lächeln.»Mein Name ist Anita. Ich bin Josés Frau.«

Jetzt war es Indiana, der überrascht war.»Ich wußte gar nicht, daß er verheiratet ist«, sagte er — und bedauerte die Worte fast auf der Stelle wieder, denn die Frau vor ihm hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, als daß nicht ein kurzer, betroffener Ausdruck über ihre Züge gehuscht wäre. Wie es aussah, hatte er da einen wunden Punkt getroffen.

«Entschuldigung«, murmelte er.

Anita machte eine wegwerfende Handbewegung und deutete fast übergangslos auf den Sessel ihr gegenüber. Indiana setzte sich und sah sie fragend an. Sekundenlang sagte keiner von ihnen etwas. Und das Schweigen, das sich in diesen wenigen Augenblicken zwischen ihnen ausbreitete, war irgendwie unangenehm. Indiana ahnte, daß das, was Josés Frau ihm sagen wollte, nicht besonders erfreulich sein würde.

«Ist irgend etwas … mit José?«fragte er unsicher.

Anita schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte sie.»Oder doch. Ja. Wie man es nimmt. «Sie lächelte flüchtig und fuhr mit einer erklärenden Geste fort:»Bitte verzeihen Sie, daß mein Mann nicht selbst mit Ihnen sprechen kann, Dr. Jones. Aber er mußte überraschend aufbrechen. Und auch ich habe leider nicht allzuviel Zeit.«

«Das macht doch nichts«, sagte Indiana.»Es ist nur …«

Er wurde wieder unterbrochen.»Ich weiß, weshalb Sie hier sind«, sagte Anita. Sie griff in ihre Handtasche und nahm ein weißes Papiertütchen heraus.»Sie wollen das hier«, sagte sie.

Indiana streckte die Hand aus und nahm das Päckchen entgegen. Er wußte bereits, was es enthielt, noch ehe er es auswickelte. Überrascht nahm er die Goldkette hoch, hielt sie einen Moment reglos fest und ließ sie dann in der geschlossenen Hand verschwinden.»José hat Ihnen erzählt, was passiert ist?«

Wieder nickte Anita, und wieder sah ihr Gesicht aus, als bedeute seine Frage für sie viel mehr, als er ahnte.»Ja«, sagte sie.»Sie haben gespielt, und Sie haben verloren, Dr. Jones.«

Indiana lächelte zerknirscht, ließ die Kette mit dem goldenen Anhänger rasch in der Jacke verschwinden und zog das Geld, das er von der Bank geholt hatte, aus der anderen Tasche.

Zu seiner Überraschung schüttelte Anita beinahe erschrocken den Kopf.»Das ist nicht nötig, Dr. Jones«, sagte sie hastig.

«Nicht nötig?«Indiana runzelte überrascht die Stirn.»Sie meinen, daß José …«

«Sie hätten niemals um dieses Medaillon spielen dürfen«, unterbrach ihn Anita.»Was gestern abend geschehen ist, tut José sehr leid. Ich soll Ihnen sagen, daß er sein Benehmen bedauert und sich bei Ihnen entschuldigt.«

«Aber ich war es, der …«, begann Indiana, aber nur, um schon wieder unterbrochen zu werden:

«Er hätte dieses Pfand nicht annehmen dürfen. Ich bin nur hiergeblieben, um es Ihnen zurückzugeben.«

«Und das … Geld?«fragte Indiana zögernd.

Anita winkte ab.»Ich glaube, José hat gestern abend genug gewonnen«, sagte sie. Dann stand sie auf, mit einer raschen, beinahe schon hastigen Bewegung, und Indiana entging auch keineswegs, daß sie sich sehr schnell, aber auch sehr aufmerksam umsah. Ihr Blick glitt rasch durch die Halle, blieb einen Moment am Treppenaufgang hängen und fiel dann auf die Straße jenseits der großen Fenster des Hotels. Draußen herrschte sehr wenig Verkehr. Nur auf der anderen Straßenseite stand jemand, der über die große Entfernung nur als Schatten erkennbar war. Dennoch blieb Anitas Blick einen Moment dort hängen, und Indiana sah, wie sich ihre Pupillen weiteten. Der Anblick dieser Gestalt überrascht sie nicht, dachte Indiana alarmiert, aber er erschreckt sie. Was ging hier vor?

«Ich muß jetzt gehen«, sagte Anita.»Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Dr. Jones.«

«He!«rief Indiana. Er sprang auf, aber Josés Frau war bereits auf der Stelle herumgefahren und schritt so rasch zum Ausgang, wie sie gerade noch gehen konnte, ohne zu rennen.

Verblüfft blickte Indiana ihr nach, machte einen Schritt, um ihr zu folgen, und besann sich dann eines Besseren. Er blieb stehen und wartete, bis sie das Hotel verlassen und in eines der auf der Straße wartenden Taxis gestiegen war. Dann ging er noch einmal zum Empfang zurück und wandte sich an den Mann hinter der Theke.

«Wann ist Señor Perez genau abgereist?«fragte er.

Der Empfangschef blickte ihn fragend an und schien der amerikanischen Sprache plötzlich nicht mehr mächtig zu sein.

Indiana seufzte, griff in die Tasche, zog einen seiner gerade wiedererlangten elfhundertsiebenunddreißig Dollar heraus und schob ihn über die Theke. Der Geldschein verschwand wie durch Zauberei, und der Empfangschef fand auch im gleichen Moment seine Sprache wieder.

«Heute morgen, Dr. Jones«, sagte er.»Noch vor dem Frühstück. Ich selbst war noch nicht im Dienst, aber ich glaube, es muß sechs Uhr oder noch früher gewesen sein.«

«Hatte er geplant, heute abzureisen?«erkundigte sich Indiana.

Der Mann schüttelte den Kopf.»Das Zimmer ist bis Ende der Woche reserviert — und im voraus bezahlt«, fügte er hinzu.

«Und Sie wissen nicht, warum Señor Perez so übereilt aufgebrochen ist?«fragte Indiana und legte eine zweite Dollarnote auf den Tisch.

Der Empfangschef ließ auch sie in seiner Jackentasche verschwinden, ehe er den Kopf schüttelte und antwortete:»Nein.«

Indiana war enttäuscht. Er spürte, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Die Frau — wenn sie wirklich Josés Frau war — hatte sich mehr als nur ein bißchen sonderbar benommen. Er war mittlerweile sicher, daß der Ausdruck, den er auf ihrem Gesicht gesehen hatte, als sie auf die Straße hinausgesehen und die Gestalt auf der anderen Seite erblickt hatte, Angst gewesen war.

Er verließ das Hotel und sah konzentriert in die gleiche Richtung. Der Bürgersteig auf der anderen Straßenseite war leer. Wenn dort überhaupt jemand gestanden hatte, dann war er jetzt verschwunden. Die ganze Angelegenheit begann immer merkwürdiger zu werden.

Aber die Hauptsache war, er hatte sein Amulett wieder.

Er versenkte die linke Hand in die Tasche, schloß die Finger darum und winkte mit der anderen ein Taxi herbei. Er hatte noch fast eine Stunde Zeit, um seine Verabredung mit dem Rechtsanwalt einzuhalten, der Swansons Tochter aufgespürt hatte. Aber der Tag hatte so unglücklich begonnen, daß er das Schicksal nicht noch weiter herausfordern wollte. Auf einem Sessel im Wartezimmer einer Rechtsanwaltskanzlei, überlegte er, würde ihm wahrscheinlich am wenigsten passieren.

Das war nicht der erste Irrtum, der ihm unterlief. Übrigens auch nicht der letzte.

Die Anwaltskanzlei Marten, Marten, Marten & Marten residierte im vierten Stock eines wuchtigen Sandsteingebäudes, das sich wie ein Fremdkörper zwischen den zierlichen Holzbauten von New Orleans erhob. Die Straße befand sich in der Nähe des Hafens, und durch das geöffnete Fenster im Warteraum drangen Salzwassergeruch und das Schreien einer einsamen Möwe herein. Wenn Indiana sich die Mühe gemacht hätte, ans Fenster zu treten, dann hätte er den Hafen und einen großen Teil der Stadt überblicken können, denn das Gebäude erhob sich auf einem der höchsten Hügel New Orleans’.

Aber er machte sich nicht die Mühe. Er war verwirrt, er war zornig, und außerdem war er viel zu sehr damit beschäftigt, sein Gegenüber anzublicken: ein äußerst reizendes Gegenüber überdies.

Sie war eine Handspanne kleiner als er, hatte hellblondes, kurzgeschnittenes Haar und befand sich genau in dem Alter, in dem sie nicht mehr ganz Mädchen, aber noch lange nicht Frau war. Ihr schmales Gesicht wurde von einem Paar großer, sehr wacher hellblauer Augen beherrscht, die Indiana einen Moment lang kühl und abschätzend gemustert und sich dann wieder der Lektüre der Zeitschrift gewidmet hatten, die auf ihren übereinandergeschla-genen Knien lag. Ihre Hände waren schlank, wirkten aber nicht zerbrechlich, und an ihrem Hals glitzerte eine dünne Goldkette mit einem Anhänger, der unter ihrer Bluse verschwand.

Es war eigentlich nicht Indianas Art, Frauen anzustarren, aber irgend etwas war an diesem Mädchen, das ihn interessierte; vielleicht sogar faszinierte. Es war etwas schwer in Worte zu Fassendes, aber Deutliches. Es war wie ein Gefühl, sie zu kennen, obwohl er eben ganz genau wußte, ihr noch niemals begegnet zu sein. Aber etwas in ihm sagte ihm, daß er sie kennen sollte.

Nach einer Weile räusperte er sich und beugte sich leicht in dem ebenso teuren wie unbequemen Sessel vor, auf den er sich gesetzt hatte:»Entschuldigen Sie«, begann er.»Aber …«

Es schien an diesem Tag sein Schicksal zu sein, niemals zu Ende reden zu können, denn die Blonde ließ mit einem Ruck ihre Zeitung sinken, hob mit einem ebenso heftigen Ruck den Kopf und blitzte ihn so zornig aus ihren hellblauen Augen an, daß ihm der Rest des Satzes im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stek-kenblieb.

«Wenn Sie mich jetzt fragen, ob es möglich ist, daß wir uns schon einmal gesehen haben«, sagte sie mit einem Lächeln, das ungefähr so warm war wie ein Eisberg,»dann werfe ich mit einem Stuhl nach Ihnen.«

Indiana richtete sich verschreckt wieder auf und klappte den Mund zu.

Aber die Blonde, einmal in Fahrt gekommen, funkelte ihn weiter zornig an.»Sie sitzen seit geschlagenen fünfzehn Minuten dort und starren mich an«, sagte sie.»Hab’ ich vier Augen im Gesicht oder ein drittes Bein unter dem Rock, oder warum?«

Indiana lächelte schief, versuchte, sich in einer Ritze des Sessels zu verkriechen und murmelte ein halblautes» Entschuldigung«.

Was eindeutig nicht genug war, denn das Mädchen blickte ihn noch wütender an und holte sichtlich Atem zu einer neuen Attak-ke.

Indiana zog es vor, dem drohenden Streit auszuweichen und stand auf. Rasch durchquerte er das Wartezimmer, trat, ohne anzuklopfen, durch die angrenzende Tür und handelte sich damit schon wieder einen vorwurfsvollen Blick ein; diesmal von der ältlichen Sekretärin, die ihn vor einer Viertelstunde empfangen und gebeten hatte, draußen im Wartezimmer Platz zu nehmen.

«Entschuldigung«, sagte er mit einem gekünstelten Räuspern,»aber ist Mr. Marten jetzt frei?«Er machte eine erklärende Geste.»Ich habe nicht allzuviel Zeit, wissen Sie.«

Die Sekretärin seufzte ergeben und schüttelte den Kopf, stand aber trotzdem auf und kam mit kleinen, trippelnden Schritten hinter ihrem Schreibtisch hervor. Nachdem sie Indiana mit einer Handbewegung zu verstehen gegeben hatte, daß er warten solle, trat sie an eine der insgesamt fünf Türen, die aus dem weitläufigen Empfangszimmer hinausführten, klopfte an und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie schloß die Tür wieder hinter sich, aber Indiana hörte sie leise mit jemandem reden, und als sie wieder hereinkam, wirkte sie schon nicht mehr ganz so verärgert wie vorher.

«Dr. Marten kann Sie jetzt empfangen«, sagte sie.»Bitte, treten Sie ein.«

Marten saß in einem Ledersessel, der so riesig war, daß seine Gestalt darin zu versinken schien, und telefonierte, als Indiana eintrat. Er sah genau so aus, wie man sich einen Rechtsanwalt vorstellt: grauhaarig, klein und in einem altmodischen Anzug mit Fliege. Aber ganz gegen diesen verstaubten Eindruck hob er die Hand und lächelte Indiana jovial zu, er solle Platz nehmen, während er weiter telefonierte. Er unterbrach sein Gespräch aber auch nicht, sondern drehte sich von seinem gewaltigen Sessel zum Fenster herum, wobei er um ein Haar das Telefon vom Schreibtisch gerissen hätte, schwang die Füße hoch und legte sie übereinander auf das Fensterbrett, um weiterzureden. Und weiterzureden. Und weiterzureden.

Er sprach ungefähr fünf Minuten lang, schnell und laut, aber in einem solch breiten Slang, daß Indiana kaum ein Wort verstand, ehe er sich endlich dazu bequemte, sich wieder herumzudrehen, den Telefonhörer einzuhängen und Indiana mit einem verzeihungheischenden Lächeln anzusehen.

«Dr. Jones. Es tut mir leid, daß Sie warten mußten«, sagte er.»Aber wir waren für …«— er griff in die Tasche, zog eine Dek-keluhr heraus und sah sehr lange auf das Zifferblatt —»… für zwei verabredet«, sagte er dann.

Indiana sah demonstrativ auf die große Standuhr, die sich unweit des Schreibtisches erhob. Es war drei Minuten vor zwei.

«Nun gut, das macht ja nichts«, fuhr Marten gönnerhaft fort.»Wenn Sie einmal da sind, können wir auch gleich anfangen. Wie es der Zufall will, habe ich gerade ein paar Minuten frei.«

Er riß eine Schreibtischschublade auf, zog einen schmalen Aktenordner hervor und klappte ihn auf. Der Blick, den er darauf warf, war eindeutlich nicht lang genug, als daß er mehr als zwei oder drei Worte hätte lesen können, aber er nickte trotzdem zufrieden, und Indiana beschloß, ihm seinen kleinen Auftritt zu gönnen. Wenn es ihm Spaß machte, warum nicht?

«Sie haben die Anwaltskanzlei Marten, Marten, Marten & Marten beauftragt, die Tochter eines gewissen Greg Swanson ausfindig zu machen, der vor drei Jahren hier in New Orleans gelebt hat«, begann er umständlich.

Indianas Geduld neigte sich nun tatsächlich bald dem Ende zu.»Das habe ich«, sagte er, eine Spur unfreundlicher, als er ursprünglich vorgehabt hatte.

Marten lächelte, als hätte er ihm ein Kompliment gemacht.»Sie haben eine gute Wahl getroffen, Dr. Jones«, sagte er.»Sie müssen wissen, daß die Anwaltskanzlei Marten, Marten, Marten Marten eine der ältesten und — wie ich nicht ohne berechtigten Stolz sagen kann — wohl auch renommiertesten in New Orleans ist. Unsere Kunden …«

«Haben Sie sie gefunden?«unterbrach ihn Indiana.

Marten schwieg eine halbe Sekunde und blickte ihn vorwurfsvoll an. Er schien ein bißchen irritiert; aber nicht sehr — zumindest nicht so sehr, daß es seinen Redefluß nennenswert eingedämmt hätte.»Wir sind ein Unternehmen, das es sich zur obersten Maxime gemacht hat, seine Klienten immer zufriedenzustellen«, antwortete er,»selbst wenn es sich um einen etwas ungewöhnlichen Auftrag wie diesen handelt.«

Indiana seufzte.»Sie haben sie also gefunden?«fragte er.

Marten nickte. Ein zufriedenes Lächeln überzog sein schmales Gesicht.»Wie ich Ihnen bereits eingangs sagte, Dr. Jones«, antwortete er,»war es eine gute Wahl, sich an die Anwaltskanzlei Marten, Marten, Marten & …«

«Marten«, unterbrach ihn Indiana gereizt.»Ich weiß.«

«… & Marten zu wenden«, fuhr Marten ungerührt fort.»Es war nicht leicht. Sie müssen wissen, daß Dr. Swanson vor drei Jahren spurlos verschwunden ist.«

«Ich glaube, das weiß ich besser als Sie«, unterbrach ihn Indiana.»Er ist gestorben. Ich war dabei.«

Für eine halbe Sekunde verwandelte sich der Ausdruck auf Martens Gesicht in Betroffenheit.»Oh«, sagte er,»das tut mir leid. War er ein Freund von Ihnen?«

«Ein sehr guter Freund«, antwortete Indiana.»Und kurz bevor er starb, bat er mich, seiner Tochter etwas zu geben. Deshalb habe ich Sie beauftragt, sie zu finden.«

Marten lächelte zufrieden und faltete die Finger vor sich auf der Schreibtischplatte.»Nun, Dr. Jones«, sagte er,»es war richtig, daß Sie sich mit dieser Aufgabe an uns gewandt haben. Es ist uns gelungen, den Aufenthaltsort von Joana Swanson ausfindig zu machen, obwohl es nicht leicht war, wie ich zugeben muß.«

Indiana dachte an die gesalzene Rechnung, die er bereits von dem Anwaltsbüro erhalten hatte, und schluckte im letzten Moment eine entsprechende Bemerkung hinunter. Er hatte wenig Lust, sich einen ein- oder auch zweistündigen Vortrag anzuhören, wie viele Unkosten Marten, Marten, Marten & Marten entstanden waren.

«Hören Sie, Mr. Marten«, begann er.

«Dr. Marten«, unterbrach ihn Marten.»Soviel Zeit muß sein. Mr. Jones.«

«Dr. Jones«, sagte Indiana gereizt.»Also bitte, Dr. Marten, ich danke Ihnen herzlich für Ihre Bemühungen, aber es reicht vollkommen, wenn Sie mir sagen, wo ich Miss Swanson jetzt finde. Alles andere schaffe ich dann schon allein.«

«Aber das ist doch gar nicht nötig«, sagte Marten.»Sie brauchen sie nicht zu suchen, Miss Swanson ist hier.«

«Hier?«wiederholte Indiana überrascht.

Marten nickte so heftig, daß Indiana eigentlich erwartete, daß sein Kopf ein paarmal auf die Tischplatte aufschlagen würde.»Wir dachten uns nach Ihrem Anruf, daß Ihnen daran gelegen ist, Miss Swanson so schnell wie möglich zu finden. Deswegen habe ich mir die Freiheit genommen, ein Zusammentreffen hier bei uns zu arrangieren«, sagte er lächelnd.

Indiana überkam plötzlich ein sehr ungutes Gefühl. Aber er sagte nichts, und Marten schien sein Schweigen wohl mehr als Überraschung zu deuten, denn sein Lächeln wurde noch breiter. Er stand auf — wobei er nicht größer, sondern kleiner wurde, denn der wuchtige Ledersessel, in dem er gesessen hatte, war tatsächlich so groß, wie Indiana im ersten Moment angenommen hatte — und breitete die Hände aus, als wolle er Indiana vor lauter Freude umarmen. Indiana versteifte sich leicht in seinem Stuhl, als Mar-ten mit kurzen Schritten um seinen Schreibtisch herumtrippelte.

«Mary«, rief er laut.»Bitte, holen Sie doch Miss Swanson herein.«

Wenige Augenblicke später ging die Tür zu Martens Büro auf, und Indianas ungutes Gefühl wurde zur Gewißheit, denn niemand anderes als die blonde Schönheit aus dem Vorzimmer kam herein.

Ihre Augen weiteten sich erstaunt, als sie Indiana erblickte, und diesmal schien sogar Marten mitzubekommen, daß der Ausdruck darin alles andere als freudige Überraschung war, denn er wirkte für einen Moment sehr hilflos.

«Darf ich vorstellen«, begann er unsicher. Und mit einer Geste auf das Mädchen:»Miss Joana Swanson. «Er deutete auf Indiana,»Dr. Indiana Jones. Ich habe Ihnen von ihm erzählt, Miss Swan-son.«

«Das haben Sie«, antwortete Joana.»Aber ich muß gestehen, Mr. Marten, daß ich mir nach Ihren Worten Dr. Jones etwas … anders vorgestellt habe.«

Umgekehrt erging es Indiana ebenso. Joana entsprach in nichts alldem, was er sich vorgestellt hatte. Swanson und er waren gute Freunde gewesen, aber es war eine Freundschaft, die sich einzig auf ihren Beruf und ihr Hobby (was für sie dasselbe gewesen war) beschränkte. Sie hatten sehr wenig privat miteinander geredet. Indiana hatte zwar gewußt, daß er eine Tochter hatte, aber weder, ob es das einzige Kind war, noch wie alt sie war. Und Swanson war noch relativ jung gewesen, zwar älter als er, aber keinesfalls so alt, daß man annehmen konnte, er hätte bereits erwachsene Kinder. Infolgedessen hatte Indiana auch ein Kind erwartet, ein zehn-, vielleicht auch zwölfjähriges Mädchen, nicht eine fast erwachsene Frau.

Marten räusperte sich übertrieben.»Ich sehe schon«, sagte er,»die Freude scheint Sie ja beide zu überwältigen.«

Er lächelte verlegen, als Joana ihm einen zornsprühenden Blick zuwarf, und fügte hastig hinzu:»Ich denke, es wird das beste sein, ich lasse Sie einfach einen Moment miteinander allein. Da wir ja ohnehin einen Termin für zwei Uhr hatten, Dr. Jones, brauche ich das Büro für die nächste Viertelstunde nicht. Sie entschuldigen mich also. «Er wartete die Antwort nicht ab, sondern verließ beinahe fluchtartig das Büro.

«Sie sind also Dr. Jones«, begann Joana nach einer Weile. Sie wirkte ein bißchen verlegen.

«Indiana Jones«, sagte Indiana.»Richtig. Und Sie sind Joana. Ihr Vater hat viel von Ihnen erzählt«, fügte er hinzu, was eine glatte Lüge war, aber er hatte das Gefühl, sie wäre im Moment angebracht.

«Von Ihnen auch«, antwortete Joana. Sie kam näher, sah sich einen Moment suchend um und ließ sich schließlich in Ermangelung einer anderen Möglichkeit auf den gleichen Sessel sinken, in dem Marten bisher gesessen hatte.

Wieder vergingen Sekunden, in denen keiner von ihnen ein Wort sagte. Sie sahen sich nur stumm über den gewaltigen Schreibtisch hinweg an, und ein sonderbares Gefühl überkam Indiana.

Jetzt war ihm klar, warum er geglaubt hatte, dieses Mädchen kennen zu müssen. Die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war unübersehbar. Natürlich — sie war eine Frau, sie war sehr jung, aller-höchstens achtzehn oder neunzehn Jahre alt, aber der wache Blick, der energische Zug um ihren Mund und die kleinen, zielbewußten Bewegungen, das alles war Greg Swanson par excel-lence. Er hätte sie gleich erkennen müssen. Und im Grunde hatte er das ja auch.

«Indiana«, begann Joana nachdenklich.»Ein ungewöhnlicher Name. «Plötzlich lächelte sie.»Stimmt es, daß der Hund Ihres Vaters so hieß?«

Indiana lächelte auch, aber das fiel sehr viel gequälter aus als bei Joana.»Es stimmt«, sagte er leise. Gleichzeitig verfluchte er sich in Gedanken. Es gab ein paar Dinge, die man wohl doch besser für sich behielt; selbst seinem vermeintlich besten Freund gegenüber.

«Ich … es tut mir leid, wenn ich gerade etwas grob zu Ihnen war«, begann Joana nach einer Weile von neuem, als Indiana keine Anstalten machte, von sich aus das Gespräch zu eröffnen.»Aber ich hatte einen unangenehmen Morgen. Das scheint einer von diesen Tagen zu sein, die man am besten aus dem Kalender streicht.«

Dem konnte Indiana nur zustimmen. Laut sagte er:»Es macht nichts. Ich habe Sie wirklich angestarrt. Bitte entschuldigen Sie. Aber ich …«Er suchte einen Moment krampfhaft nach Worten.»Ich hatte wirklich das Gefühl, Sie schon einmal gesehen zu haben. Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich.«

Joana machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte, und zum ersten Mal wirkte es wirklich echt.»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Dr. Jones«, sagte sie.»Wir vergessen den häßlichen Zwischenfall und fangen einfach noch einmal von vorne an. Einverstanden?«

«Einverstanden«, nickte er.

«Ich habe mich gefragt, was für ein Mensch Sie wohl sind«, setzte sie erneut an.»Mein Vater hat sehr viel von Ihnen erzählt, wissen Sie das?«

Indiana schüttelte den Kopf, und Joana fuhr mit einem heftigen Nicken fort:»Er hat nur in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen. Er meinte, Sie wären der fähigste Archäologe, dem er jemals begegnet ist.«

«Unsinn«, sagte Indiana.»Greg war …«

«Aber er meinte das ernst«, unterbrach ihn Joana.»Vor seiner letzten Expedition plante er, Sie mitzunehmen. «Plötzlich flog ein Schatten über ihr Gesicht, und ihre Stimme wurde ein wenig leiser und hörbar trauriger.»Aber das wissen Sie ja wahrscheinlich besser als ich.«

«Ja«, sagte Indiana leise.»Es tut mir leid, daß wir uns aus diesem Anlaß kennenlernen müssen.«

Joana seufzte, starrte eine Sekunde an Indiana vorbei ins Leere und zwang sich dann zu einem neuerlichen Lächeln.»Das macht nichts. Es ist genug Zeit vergangen. Ich bin über den Schmerz hinweg. «Aber ihr Blick und die Tränen, die plötzlich in ihren Augen schimmerten, behaupteten das Gegenteil.

Indiana sah taktvoll weg und räusperte sich ein paarmal.»Ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier, Joana«, begann er.»Sie wissen, daß ich dabei war, als Ihr Vater starb.«

Joana nickte. Sie sagte nichts, sondern sah ihn nur fragend an.

«Es war schrecklich«, sagte Indiana.»Wissen Sie, ich habe versucht, ihn von diesem Vorhaben abzubringen, aber er wollte nicht auf mich hören. Ich gebe mir ein bißchen selbst die Schuld an dem, was passiert ist.«

«Es war ein Vulkanausbruch, oder?«fragte Joana.

Indiana nickte.

«Niemand kann etwas für einen Vulkanausbruch«, sagte Joana.»Und außerdem weiß ich gut genug, was für ein Mensch mein Vater war. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte nichts und niemand ihn davon abbringen. Auch Sie nicht.«

Indiana sah sie sehr ernst an. Es fiel ihm schwer, weiterzusprechen, aber gleichzeitig konnte er auch nicht mehr aufhören. Er hatte es zu lange mit sich herumgetragen. Zu lange mit niemandem wirklich darüber reden können, um jetzt noch zu schweigen.»Wissen Sie, daß er sein eigenes Leben geopfert hat, um meines zu retten?«fragte er.

Joana preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und deutete ein Kopf schütteln an.»Woher?«fragte sie.»Aber ich glaube Ihnen. So etwas sieht ihm ähnlich.«

Und wieder schwieg Indiana lange Zeit. Diesmal nicht Sekunden, sondern mehrere Minuten, in denen Joana ihn nur ansah und gar nicht mehr versuchte, gegen die Tränen zu kämpfen, die lautlos über ihr Gesicht rollten.

Und schließlich begann er mit leiser Stimme zu erzählen. Er berichtete Joana von der letzten gemeinsamen Reise, von der Fahrt durch den Dschungel und dem Ausflug zum Krater des Vulkans, in dem ihr Vater ein uraltes Geheimnis vermutete.»Als der Vulkan dann plötzlich ausbrach«, schloß er endlich,»da stand ich unmittelbar am Krater. Es ging alles so schnell, daß keiner von uns noch etwas tun konnte. Ich wäre verloren gewesen, hätte Greg mich nicht zurückgerissen und sich selbst schützend vor mich gestellt.«

«War er … sofort tot?«fragte Joana leise.

Indiana schüttelte traurig den Kopf.»Nein. Ich hätte Ihnen gern erzählt, daß er nicht gelitten hat, aber das wäre nicht die Wahrheit. Er war schwer verletzt. Ich habe ihn den Berg hinuntergetragen und versucht, ihn durch den Dschungel zu schleppen, aber es ging nicht. Unser Wagen war defekt, und meine Kräfte reichten nicht, um ihn bis zur Stadt zurückzutragen. Er starb in meinen Armen. «Eine Sekunde lang überlegte er, ihr auch von dem Maya zu erzählen, tat es dann aber nicht. Es war lange her, und es spielte auch keine Rolle mehr.

Langsam griff er in die Tasche, schloß die Hand um den kleinen goldenen Anhänger, zog sie aber noch nicht hervor.»Seine letzten Worte galten Ihnen, Joana«, sagte er.»Er bat mich, Ihnen etwas zu geben, das …«

Draußen im Vorzimmer ertönte ein spitzer Schrei, ein Poltern, und einen Sekundenbruchteil später traf ein fürchterlicher Schlag die Tür zu Martens Büro und riß sie fast aus den Angeln. Krachend flog sie gegen die Wand und blieb zitternd stehen, und in der Öffnung erschien eine riesenhafte Gestalt.

Indiana war im ersten Moment so verblüfft, daß er kaum reagieren konnte. Es war nicht nur die Größe des Mannes, der sich gewaltsam Zutritt verschafft hatte. Es war die Tatsache, daß er ihn kannte!

Es war der Riese, dem er heute morgen in der Bank begegnet war.

Und der verschwendete keine Sekunde darauf, Indiana so verblüfft anzustarren wie der ihn, sondern stürmte mit einem zornigen Knurren auf ihn zu. Und plötzlich blitzte in seiner Hand das gewaltigste Messer, das Indiana je gesehen hatte.

Joana schrie gellend auf, und Indiana ließ sich instinktiv seitwärts aus dem Stuhl fallen, als die Machete des Indianers eine pfeifende Bahn durch die Luft schnitt und von der Lehne seines Stuhles die oberen zwanzig Zentimeter absäbelte.

Blitzschnell rollte er sich herum und versuchte, auf die Füße zu kommen. Aber so schnell er auch war, der andere war schneller. Er schlug abermals mit seiner Machete nach ihm. Indiana warf sich mitten in der Bewegung herum und verlor dadurch wieder das Gleichgewicht, und was sein eigener Schwung nicht schaffte, das holte der Riese mit einem Fußtritt nach, der zielsicher in Indianas Gesicht landete. Der Schlag schmetterte ihn mit furchtbarer Wucht zu Boden, ließ ihn hilflos über den gebohnerten Holzfußboden schlittern und mit solcher Wucht gegen den Schreibtisch prallen, daß bunte Sterne und Kreise vor seinen Augen erschienen. Für einen Moment wich alle Kraft aus seinen Gliedern. Er sackte zusammen, versuchte vergeblich, die Augen offenzuhalten, und spürte, wie dunkle Bewußtlosigkeit nach seinen Gedanken griff.

Doch dann hörte er Joana abermals schreien und Augenblicke später die polternden Geräusche eines verbissenen Zweikampfes. Und er begriff, daß gar nicht er, sondern sie es gewesen war, der der Angriff wirklich galt.

Mit aller Macht zwang er sich, die Augen zu öffnen, blinzelte die grellen Kreise und Punkte weg, die noch immer davor tanzten, und taumelte auf die Füße.

Der Riese hatte nun seine Machete auf den Schreibtisch geworfen und rang mit bloßen Händen mit Joana. Ihre Kräfte waren den seinen hoffnungslos unterlegen, aber sie wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung, und sie war erstaunlich geschickt. Der Indianer hielt sie unerbittlich gepackt, aber sie wand sich und zappelte mit aller Kraft in seinem Griff, und gleichzeitig versuchte sie, ihm die Augen auszukratzen. Mit einem ärgerlichen Knurren drehte er hastig den Kopf weg, aber Joanas Fingernägel hinterließen trotzdem tiefe, blutige Spuren auf seinen Wangen. Gleichzeitig trat sie ihn immer wieder abwechselnd mit dem rechten und dem linken Fuß vor das jeweilige Schienbein.

Indianas Hand glitt an seinen Gürtel — aber da war nichts, eben nur der Gürtel. Er hatte seine Peitsche in seinem Zimmer im Hotel zurückgelassen. Doch warum auch nicht? Schließlich war er nur aus dem Haus gegangen, um José und später den Rechtsanwalt zu treffen.

Er beschloß, sich später für dieses Versäumnis zu beschimpfen, war mit zwei Schritten um den Schreibtisch herum und sprang den riesigen Indianer an. Seine Hände schlossen sich von hinten um seinen Hals, während er ihn gleichzeitig mit den Beinen umklammerte und versuchte, ihn mit aller Gewalt aus dem Gleichgewicht zu zerren.

Es blieb bei dem Versuch.

Ebensogut hätte er versuchen können, einen Baum mit bloßen Händen aus dem Boden zu ziehen. Der Maya wankte nicht einmal. Er knurrte nur etwas wütender, versuchte, Indiana abzuschütteln und drehte sich schließlich mit einem Ruck herum, als es ihm nicht gelang. Mit aller Macht warf er sich nach hinten und quetschte Indianas Körper zwischen seinem eigenen und der Schreibtischkante ein.

Ein furchtbarer Schmerz schoß durch Indianas Rücken. Aber er ließ nicht los, sondern klammerte sich nur noch fester an den Riesen und versuchte, seinen Kopf in den Nacken zu ziehen. Gleichzeitig zerkratzte Joana weiter sein Gesicht — und auch Indianas Hände, die sich mit aller Kraft am Gesicht des Riesen festhielten.

Der Maya schüttelte sich, machte einen Schritt nach vorn und warf sich dann blitzschnell ein zweites Mal nach hinten. Diesmal versuchte er nicht, Indiana gegen die Schreibtischkante zu schleudern, sondern warf sich einfach rückwärts über den Tisch.

Indiana hatte das Gefühl, unter einem zusammenbrechenden Berg begraben zu werden. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, so daß er nicht einmal schreien konnte, und lähmte ihn fast völlig. Seine Arme erschlafften. Er spürte, wie seine Hände vom Gesicht des Riesen herunterglitten, dann traf ein wütender Ellbogenstoß des gigantischen Maya seine Rippen und ließ sie knacken, und vor seinen Augen entstanden abermals bunte Kreise und Sterne. Mit einem Ruck richtete der Indio sich auf, fuhr mit einem wütenden Knurren herum und ballte eine seiner gewaltigen Fäuste, um sie Indiana ins Gesicht zu schlagen.

Joana kreischte, warf sich ihm in den Arm und wurde kurzerhand mitgerissen. Aber ihre Bewegung nahm dem Hieb des Riesen immerhin so viel Schwung, daß Indiana es fertigbrachte, im letzten Moment den Kopf zur Seite zu drehen, so daß der Schlag nicht sein Gesicht, sondern nur die Tischplatte neben diesem zerschmetterte.

Der Indio wich mit ein paar wütenden Schritten zurück, wobei er Joana, die sich immer noch an seinen Arm klammerte, einfach mit sich zerrte, griff auch mit der zweiten Hand zu und schüttelte sie so heftig, daß Indiana ihre Zähne aufeinanderklappern hören konnte. Dann holte er aus und versetzte ihr eine fürchterliche Ohrfeige.

Joana hörte auf zu kreischen. Haltlos taumelte sie zurück, prallte gegen Martens Ledersessel und riß ihn mit sich zu Boden, als sie bewußtlos zusammenbrach.

Irgendwie brachte Indiana das Kunststück fertig, sich noch einmal in die Höhe zu arbeiten, obwohl er das Gefühl hatte, im ganzen Körper keinen einzigen Knochen zu haben, der nicht gebrochen war. Aber die Angst um Joana gab ihm noch einmal Kraft. Als sich der Indio herumdrehte und sich dem bewußtlosen Mädchen näherte, sprang er vor, packte ihn an der Schulter und riß ihn herum. Gleichzeitig schlug er mit aller Kraft zu, die er aufbringen konnte.

Der Hieb traf genau. Aber er hatte nicht die mindeste Wirkung — sah man von der neuerlichen Explosion greller Schmerzen ab, die durch Indianas Faust ins Ellbogengelenk und dann bis in die Schulter hinaufschoß. Der Indio blinzelte, blickte ihn einen Moment lang mit unbewegtem Gesicht an — und versetzte ihm dann eine ebensolche Ohrfeige, wie sie Augenblicke zuvor noch Joana einstecken mußte.

Und wie sie taumelte Indiana hilflos drei, vier, fünf Schritte zurück durch das Zimmer, bis er über irgend etwas stolperte und der Länge nach hinschlug. Er verlor auch jetzt nicht das Bewußtsein, aber er blieb benommen liegen und war unfähig, sich zu rühren. Er konnte hören, wie der Riese wieder um den Schreibtisch herumging, Martens schweren Sessel einfach zur Seite fegte, so daß er gegen die Wand prallte und krachend zerbrach, und sich dann neben Joana auf die Knie fallen ließ. Ein schleifendes Geräusch erklang. Stoff zerriß.

Was weiter geschah, konnte Indiana hinterher nicht mehr sagen, denn ihm schwanden nun doch die Sinne. Er verlor nicht wirklich das Bewußtsein, aber minutenlang balancierte er auf dem schmalen Grat zwischen Ohnmacht und Wachsein entlang und nahm nichts von dem wahr, was rings um ihn herum vorging.

Als die grauen Spinnweben über seinen Gedanken endlich wieder zerrissen, hörte er ein leises Schluchzen.

Seufzend öffnete er die Augen, stemmte sich in die Höhe und verbarg für einen Moment ächzend das Gesicht zwischen den Händen. Er fühlte sich, als wären Attilas Hunnenreiter über ihn hinweggaloppiert. Zwölfmal. Aus zwölf verschiedenen Richtungen. Er wollte nichts anderes, als sich auf die Seite legen und leiden. Aber da war noch immer dieses Stöhnen, und er begriff plötzlich, daß es Joana war, die vielleicht verletzt war und seine Hilfe brauchte.

Mühsam stemmte er sich hoch, machte einen unsicheren Schritt und mußte sich an der Schreibtischkante festhalten, weil ihm schwindelig wurde. Schritt für Schritt schleppte er sich weiter, bis er das Möbelstück umkreist hatte und Joana auf dem Boden liegen sah.

Sie wimmerte leise. Ihr Gesicht war rot und würde wahrscheinlich in einer Stunde blau sein, und ihr linkes Auge begann sich zu schließen. Ihre Bluse war zerrissen, und um ihren Hals lief eine dünne, rote Linie. Mehr taumelnd als gehend schleppte sich Indiana zu ihr, fiel neben ihr auf die Knie und hob ihren Kopf an.

Sie öffnete die Augen, als sie die Berührung fühlte, blinzelte — und versetzte Indiana blitzartig einen Fausthieb auf die Nase.

Indiana plumpste schwer zu Boden und schlug die Hand vor die Nase, während Joana ihn einen Moment lang völlig irritiert anblinzelte, ehe sich ihr Blick ganz allmählich klärte.

Im ersten Moment sah er nichts als Schrecken in ihren Augen, dann erkannte sie ihn, und aus ihrem angstvollen Wimmern wurde endlich ein ungehemmtes Schluchzen. Sie streckte die Arme aus, klammerte sich an ihn und begann haltlos zu weinen.

Indiana wehrte sich nicht gegen ihre Umarmung, versuchte aber den Kopf zur Seite zu drehen, um ihre Bluse nicht mit dem Blut zu besudeln, das aus seiner Nase lief.

«Bist du okay?«fragte Indiana. Angesichts der Umstände war das eine ziemlich dämliche Frage, aber Joana nickte trotzdem, während ihre Tränen Indianas Hemd durchnäßten und Indianas Blut häßliche Flecken auf ihrer Bluse hinterließen.

Er gab ihr ein paar Augenblicke, um sich auszuweinen und mit dem schlimmsten Schrecken fertigzuwerden, dann stand er auf, zog sie vorsichtig mit sich in die Höhe und führte sie zu dem Stuhl, auf dem er zuvor selbst gesessen hatte. Behutsam setzte er sie darauf, ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und hob ihr Gesicht mit der Hand an, um es zu untersuchen. Ihr Auge sah schlimm aus — sie würde ein wunderschönes Veilchen bekommen, noch ehe eine Stunde vergangen war. Aber sie schien — zumindest äußerlich — wenigstens nicht schwer verletzt zu sein.

«Alles in Ordnung?«fragte er noch einmal.

Joana verbarg das Gesicht zwischen den Händen und schluchzte noch lauter. Aber sie nickte, und nach ein paar Augenblicken nahm sie die Hände wieder herunter und sah ihn voller Schrecken an.»Wer war das?«fragte sie.

Indiana zuckte mit den Achseln. Er hatte den Mann zwar am Morgen gesehen, aber er wußte ebensowenig wie sie, wer er war, geschweige denn, warum er sie überfallen hatte.

«Ich weiß es nicht«, sagte er.»Ich habe den Burschen heute morgen gesehen, aber ich dachte, das wäre Zufall.«

Joana sah ihn verstört an.»Sie auch?«

«Wieso ich auch?«fragte Indiana verwirrt.

«Ich … hab’ ihn auch gesehen«, sagte Joana.»Er ist mir gefolgt, durch die halbe Stadt. Ich hatte schon Angst.«

Indiana schwieg einen Moment. Das konnte kein Zufall mehr sein. Aber noch gelang es ihm nicht, Sinn in dieses Puzzle zu bringen.

Sein Blick streifte wieder Joanas zerrissene Bluse, und er räusperte sich verlegen. Sie war vielleicht noch ein Kind, aber körperlich schon fast eine Frau; und sie trug weder Unterhemd noch einen Büstenhalter.»Deine Bluse …«, sagte er.

Joana hob erschrocken die Hand, um ihre zerrissene Bluse zu schließen, und dann fuhr sie noch einmal erschrocken zusammen und griff an ihren Hals.»Meine Kette!«

Sie sprang auf, vergaß ihre zerfetzte Bluse und tastete einen Moment lang wie wild mit beiden Händen über ihren Hals und die dünne, rote Linie darauf.»Meine Kette ist fort!«rief sie.»Er hat mir meinen Anhänger gestohlen!«

«Was für einen Anhänger?«

«Mein Vater hat ihn mir geschenkt!«sagte Joana. Sie war völlig aufgelöst. Der Verlust der Kette schien sie mehr zu erregen als das, was erst vor Augenblicken passiert war.»Es war eine dünne Goldkette mit einem Anhänger, der irgendeinen indianischen Gott zeigte. Quedsa…«

«Quetzalcoatl«, sagte Indiana und zog die linke Hand aus der Tasche. Zwischen seinen Fingern sah der kleine goldene Anhänger an der Kette heraus, den Greg ihm gegeben hatte.»Quetzal-coatl«, sagte er noch einmal.»Die gefiederte Schlange.«

Joanas Augen weiteten sich. Sie streckte die Hand aus, um nach der Kette zu greifen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.»Da ist sie ja. Aber wie …?«

«Das ist nicht deine Kette«, sagte Indiana ernst.»Das ist der Grund, aus dem ich hier bin.«

Joana sah ihn fragend an.

«Aber das muß sie sein. Ich erkenne sie ganz genau.«

Indiana schüttelte den Kopf.»Du hattest dieselbe?«

Joana nickte. Ihr Blick wanderte verwirrt zwischen dem kleinen goldenen Anhänger und Indianas Gesicht hin und her.»Ja, aber wieso … Ich meine … wie kommen Sie daran?«

«Dein Vater hat ihn mir gegeben«, antwortete Indiana.»Es war das letzte, worum er mich noch bitten konnte. Er hat ihn mir gegeben, damit ich ihn dir bringe. Das ist der einzige Grund, aus dem ich überhaupt hier bin.«

«Aber warum sollte er … das tun?«wunderte sich Joana.»Ich meine, wenn ich doch schon denselben Anhänger hatte.«

«Das frage ich mich auch«, sagte Indiana.»Vor allem frage ich mich, warum dieser Kerl hierher kommt, nur um dir diese Kette abzunehmen. Und noch etwas«, fügte er nachdenklich hinzu.»Ich bin gestern abend ebenfalls überfallen worden. Sie haben mich niedergeschlagen und meine Taschen durchsucht, aber sie haben mir nichts gestohlen. Nur mein Hemd zerrissen.«

Joana sah ihn aus großen Augen an.»Du meinst … Verzeihung, Sie meinen …«

«Bleib ruhig dabei«, sagte Indiana.»Ich duze dich ja auch.«

Joana lächelte und begann noch einmal:»Du meinst, sie hätten es auf diese Kette abgesehen?«

«Hast du eine bessere Erklärung?«gab Indiana zurück.

Joana schüttelte den Kopf, aber sie wirkte nicht sehr überzeugend.»Aber sie ist völlig wertlos«, sagte sie.»Ich meine, sicher, sie besteht aus Gold, aber so wertvoll ist sie nun auch wieder nicht.«

«Ich glaube nicht, daß der Bursche es auf das Gold abgesehen hatte«, sagte Indiana nachdenklich.

«Aber wieso dann?«

«Wieso?«

Indiana zögerte noch einen Moment. Dann erzählte er ihr von seiner ersten Begegnung mit einem mordlustigen Riesen mit Maya-Gesicht; vor drei Jahren.»Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich es für bedeutungslos hielt«, schloß er.»Aber jetzt … weißt du, je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich eigentlich, daß auch dieser Indianer damals die Kette haben wollte, mehr nicht. Er hatte mich ja schon. Ich meine, ich war wehrlos. Er hätte mich umbringen können, wenn er gewollt hätte. Aber dann hat er plötzlich jedes Interesse an mir verloren und sich deinem Vater zugewandt. Es muß … etwas mit diesem Anhänger zu tun haben.«

Indiana zuckte mit den Schultern, schloß wieder die Hand um den Anhänger und ließ ihn nach kurzem Zögern erneut in der Tasche verschwinden. Ihn Joana zu geben oder auch wieder selbst am Hals zu tragen, beides erschien ihm im Moment nicht besonders ratsam.

«Das weiß ich nicht«, sagte er.»Aber ich glaube, ich werde dieser wunderschönen Señora Perez noch einmal einen Besuch abstatten. «Für die nächsten beiden Stunden jedenfalls kam er nicht dazu. Marten hatte die Polizei gerufen, und Indiana und Joana mußten die Geschichte von dem Überfall und dem Handgemenge mit dem Indio mindestens ein Dutzend Mal einem Dutzend verschiedener Polizeibeamten erzählen. Sie hatten sich, bevor die Beamten eintrafen, auf eine Geschichte geeinigt, die die beiden Medaillons unerwähnt ließ. Indiana wußte nicht genau, warum, aber er hatte das Gefühl, daß es im Moment noch besser war, wenn er dieses Geheimnis für sich behielt, und Joana hatte sofort zugestimmt. Vielleicht spürte sie es so wie er, vielleicht war sie auch einfach noch Kind genug, um sich dem Gefühl von Abenteuer hinzugeben, das dieses Verschweigen eines wichtigen Details für sie bedeuten mußte.

So hatten sie sich einfach auf die Version geeinigt, daß der Indio hereingestürmt sei und versucht hätte, Joana Gewalt anzutun, und es Indiana schließlich gelungen sei, ihn in die Flucht zu schlagen. Eine Geschichte, die ihnen keiner der Polizisten glaubte, wie unschwer auf ihren Gesichtern abzulesen war.

Trotzdem mußten sie sich wohl oder übel damit zufriedengeben, denn sowohl Indiana als auch Joana beharrten auf dieser Version, und nachdem man ihnen eingeschärft hatte, daß sie erstens am Nachmittag auf der zuständigen Polizeiwache erscheinen und das Protokoll unterschreiben und zweitens die Stadt in den nächsten achtundvierzig Stunden nicht verlassen sollten, durften sie gehen.

Indiana winkte ein Taxi herbei und fuhr mit Joana ins nächstbeste Kaufhaus, wo er eine Bluse für sie erstand. Danach verfrachtete er das Mädchen wieder in dasselbe Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse des Hotels, in dem Joana wohnte. Sie protestierte zwar und bestand darauf, ihn zu begleiten, aber Indiana blieb eisern. Der Zwischenfall von gestern abend und der von gerade hatten ihm eindeutig bewiesen, daß das hier kein Spaß war. Der Indio hätte keine Sekunde gezögert, ihn zu töten, wäre es nötig gewesen. Es reichte völlig, wenn sich einer von ihnen in Lebensgefahr begab.

Er versprach Joana, sie noch am gleichen Tag zu besuchen und ihr zu erzählen, was er herausgefunden hatte, wartete, bis das Taxi abgefahren war und winkte dann einen anderen Wagen herbei. Nicht einmal zehn Minuten später stieg er vor Josés Hotel wieder aus und beschied dem Fahrer, auf ihn zu warten.

Der Mann hinter der Theke blickte erstaunt auf, als Indiana zum zweiten Mal an diesem Tage auf ihn zukam.»Dr. Jones? Kann ich noch irgend etwas für Sie tun?«

Indiana nickte, sah sich sichernd nach recht und links um und fragte dann mit gesenkter Stimme:»Ist das Zimmer, in dem Se-ñor Perez und seine Frau gewohnt haben, schon saubergemacht worden?«

Verwirrt schüttelte der Mann den Kopf.»Noch nicht.«

«Das ist gut«, sagte Indiana und legte diesmal gleich zehn Dollar auf die Theke.»Wissen Sie, es wäre für mich sehr wichtig, wenn ich einmal einen Blick hineinwerfen dürfte.«

Der Mann steckte die zehn Dollar ein und starrte Indiana mit unbewegtem Gesicht an.»Das ist ein sehr ungewöhnlicher Wunsch, Dr. Jones. «Indiana schob ihm zehn weitere Dollar zu.»Ich weiß. Aber wissen Sie, Señor Perez und ich sind gute Freunde. Wir haben uns leider verpaßt, und ich weiß nicht, wohin er abgereist ist. Möglicherweise hat er irgendetwas zurückgelassen, was mir weiterhilft.«

Der Mann zögerte noch immer. Sein Blick streifte kurz und gierig die Tasche, aus der Indiana die beiden Zehndollarnoten herausgezogen hatte, und Indiana tat ihm den Gefallen, einen dritten Zehner zu zücken, den er allerdings in der Hand behielt.»Ich habe nicht vor, irgend etwas zu beschädigen oder mitzunehmen«, sagte er.»Sie können mich gern begleiten. Ich möchte mich einfach nur umsehen. «Einige wenige Sekunden lang schwankte der Ausdruck im Blick des Mannes noch zwischen Pflichtbewußtsein und Gier, aber zu Indianas Erleichterung gewann seine Gier die Oberhand. Er drehte sich um, nahm einen Zimmerschlüssel vom Haken und kam hinter seiner Theke hervor.

Sie fuhren mit dem Aufzug in die dritte Etage, wo der Portier sich abermals kurz und prüfend umsah, ehe er die Tür des Zimmers ganz am Ende des Korridors auf schloß und Indiana mit einer einladenden Geste an sich vorbeiließ. Indiana überreichte ihm den Zehndollarschein, und der Mann war taktvoll genug, ihn zu nehmen und zu erklären:»Ich lasse den Schlüssel von außen stecken. Schließen Sie bitte ab und bringen ihn mir zurück, sobald Sie fertig sind, Dr. Jones.«

Indiana schloß mit einem dankbaren Nicken die Tür hinter ihm und wandte sich dann um.

Das Hotelzimmer war überraschend groß und hell. Durch ein Fenster, das fast die gesamte Südseite einnahm, strömte helles Sonnenlicht herein. Die Möblierung war zwar sparsam, aber von auserlesenem Geschmack.

Und es war völlig leer.

Indiana kämpfte das Gefühl der Enttäuschung nieder, das ihn beim Anblick des vollkommen aufgeräumten Zimmers überkam, drehte sich einmal im Kreis und sah sich dabei aufmerksam um, ehe er das Zimmer sorgfältig zu durchsuchen begann.

Er öffnete jede Schublade, schob die Bettdecke zurück, schaute sogar unter das Bett und ging schließlich in das kleine Bad, um sich auch dort gründlich umzusehen.

Aber er fand nichts, und seine Enttäuschung wuchs. Perez schien entweder damit gerechnet zu haben, daß jemand das Zimmer gründlich durchsuchte, oder er war ein durch und durch ordentlicher Mensch — was eigentlich nicht zu dem José paßte, den Indiana kannte. Er fand nicht den winzigkleinsten Hinweis auf seinen Verbleib, keine Notiz, keinen Schmierzettel, kein vergessenes Stückchen Papier — nichts. Wenn nicht der Hotelportier gelogen hatte und das Zimmer schon aufgeräumt worden war, so mußte Perez jede noch so winzige Spur seiner Anwesenheit getilgt haben. Und das wiederum ließ darauf schließen, daß er einen Grund hatte, seine Spur zu verwischen. Einen sehr wichtigen Grund.

Aber vielleicht gab es doch etwas.

Indianas Blick fiel auf einen Notizblock, der auf einem der beiden Nachttische lag, und den Bleistift daneben. Auch auf dem anderen Nachttisch lag ein Notizblock aus feinem weißem Papier und ein Bleistift. Aber dieser Stift war spitzer. Offensichtlich war er nicht benutzt worden, der andere dagegen schon.

Plötzlich war Indiana aufgeregt, ging um das Bett herum und warf einen Blick auf den Notizblock. Das obere Blatt war offensichtlich beschrieben und abgerissen worden, aber wenn man ganz genau hinsah, konnte man die Abdrücke, die der Bleistift hinterlassen hatte, auf dem nächsten Blatt noch erkennen. Indiana grinste still in sich hinein. Wenn da nicht der alte Trick funktionierte, dachte er, den Conan Doyle schon weiland Sherlock Holmes hatte ausprobieren lassen, dann wollte er nicht mehr Indiana Jones heißen. Vielleicht hatte der ach-so-vorsichtige José nun doch einen Fehler gemacht.

Indiana streckte die Hand nach dem Bleistift aus, fuhr damit vorsichtig über das Blatt und beugte sich vor, und fast gleichzeitig schlug etwas klirrend durch die Fensterscheibe und sauste so dicht über seinen Nacken hinweg, daß er den Luftzug spüren konnte, ehe es mit einem dumpfen Klatschen in die Wand über dem Bett fuhr.

Indiana ließ sich instinktiv fallen.

Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, daß irgend etwas geschah — ein zweites Geschoß auf ihn abgefeuert wurde oder jemand hereinkam oder sonst irgend etwas.

Aber alles blieb ruhig.

Trotzdem blieb er länger als eine Minute eng gegen den Boden gepreßt liegen und wagte es gerade, den Kopf zu heben, um das zerschossene Fenster zu betrachten.

Aus seinem Blickwinkel heraus konnte er nichts als den Himmel erkennen. Der Schuß mußte aus einem der gegenüberliegenden Häuser abgegeben worden sein. Von dort oder von einem Dach.

Indiana drehte vorsichtig den Kopf und besah sich das, was ihn beinahe getroffen hätte. Es war ein winziger, kaum fingerlanger Pfeil mit drei rot-grün gestreiften Federn an dem hinteren Ende. Er war nicht viel dicker als eine Stricknadel. Aber irgendwie sah er bösartig aus, fand Indiana.

Langsam kroch er um das Bett herum, arbeitete sich auf Knien und Ellbogen zum Fenster vor und zog sich vorsichtig an der darunter angebrachten Heizung in die Höhe. Er rechnete jeden Sekundenbruchteil damit, sich wieder in Deckung werfen zu müssen, aber auch jetzt geschah nichts.

Schließlich wagte er es, ganz behutsam den Kopf über seiner Deckung hervorzuheben und das gegenüberliegende Haus anzusehen.

Es war ein Hotel wie das, in dem er selbst sich befand. Die meisten großen Gebäude in dieser Straße waren Hotels oder Geschäftshäuser. Einige der Indiana zugewandten Fenster waren offen, aber dahinter war nichts zu erkennen. Wenn der heimtük-kische Schütze noch dort stand und auf ihn wartete, dann hatte er sich gut getarnt.

Indiana kroch zurück zum Nachttisch, hob vorsichtig die Hand und klaubte den Notizblock herunter. Dann arbeitete er sich Zentimeter für Zentimeter auf das Bett hoch, mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven und jederzeit darauf gefaßt, sich schnell in Deckung zu werfen. Vorsichtig streckte er die Hand aus und zog den Pfeil aus der Wand.

Er war mit solcher Wucht in den Putz gefahren, daß Indiana ihn nicht völlig herausbekam und ihn schließlich abbrach. Wahrscheinlich ist es auch besser so, dachte er. Das Ding war mit Sicherheit vergiftet.

Er steckte den abgebrochenen Pfeil in die rechte und das zusammengefaltete obere Blatt des Blocks in die linke Hand und kroch, noch immer auf Knien und Ellbogen, zur Tür. Und selbst dann richtete er sich nicht auf, sondern hob nur blitzschnell den Arm, drückte die Klinke herunter und kroch auf den Flur hinaus, ehe er es wagte, aufzustehen und hastig die Tür hinter sich zuzuziehen. Auf der anderen Seite fuhr etwas mit einem dumpfen Laut in die Tür, und er beglückwünschte sich innerlich für seine Vorsicht. Pech gehabt, mein Freund, dachte er.

Mit einem hörbar erleichterten Aufatmen drehte Indiana den Schlüssel herum, zog ihn ab und ließ ihn ebenfalls in der Tasche verschwinden.

Als er sich herumdrehte, bemerkte er, daß er nicht allein war. Ein älteres Ehepaar war aus einem der Zimmer auf den Flur herausgetreten und blickte ihn mit großen Augen an.

Indiana lächelte schief, tippte sich grüßend an den Hut und ging mit raschen Schritten zum Lift. Die beiden alten Leute sahen ihm verdattert nach, und er sagte lächelnd:»Es ist ein sehr kleines Zimmer, wissen Sie? Ich hatte darum gebeten, aber irgendwie müssen die das falsch verstanden haben.«

Die Augen des alten Mannes wurden so groß und rund vor Erstaunen, als würden sie jeden Moment aus den Höhlen quellen, und der Unterkiefer der Frau klappte herunter. Indiana lächelte noch einmal zum Abschied und beeilte sich, in die Liftkabine zu treten. Die beiden machten nicht einmal den Versuch, ihm zu folgen, obwohl sich die Tür nur sehr langsam schloß.

Indianas Lächeln erlosch wie abgeschnitten, kaum daß sich die Liftkabine in Bewegung gesetzt hatte. Es gehörte nicht allzuviel Phantasie dazu, sich auszumalen, wer diese Pfeile auf ihn abgeschossen hatte. Nachdenklich drehte er den abgebrochenen Pfeil in der Hand, den er aus der Wand des Hotelzimmers gezogen hatte.

Es war kein normaler Pfeil, sondern eines jener nadeldünnen, fast immer vergifteten Geschossen, wie es die südamerikanischen Indianer mit ihren Blasrohren verschossen.

Von südamerikanischen Indios genau wie dem, der ihm heute morgen in der Bank begegnet war. Demselben, der vor etwas mehr als zwei Stunden versucht hatte, ihm den Scheitel mit einer Machete geradezuziehen.

Indiana konnte sich zwar nicht erklären, warum es so war, aber es gab keinen Zweifel: Irgend jemand trachtete ihm nach dem Leben. Und der war dabei nicht besonders wählerisch in der Wahl seiner Mittel. Dafür aber sehr phantasievoll …

Er trat aus der Liftkabine und ging mit raschen Schritten auf die Empfangstheke zu. Dabei schweifte sein Blick durch die Halle. Sie war nicht mehr so leer wie am Morgen. Zwei, drei Paare saßen an den kleinen Tischen und unterhielten sich leise; auf der Chaiselongue, auf der Anita am Morgen gesessen hatte, saß jetzt ein grauhaariger Mann und studierte aufmerksam seine Zeitung, und vor der Tür lümmelte ein abgerissener Bursche mit dem Gesicht eines Tagediebes herum, der vielleicht darauf wartete, daß jemand herauskam, dem er für einen Penny den Koffer zum Taxi tragen konnte. Oder auch stehlen, je nachdem.

«Alles in Ordnung, Dr. Jones?«fragte der Hotelportier, als er den Schlüssel auf den Tisch legte.

Indiana nickte.»Ja. Warum fragen Sie?«

Der Mann schien verlegen, er lächelte flüchtig und nicht besonders echt.»Sie sind ein wenig blaß«, sagte er.

«Das ist nur die Enttäuschung«, log Indiana.»Ich habe leider nichts gefunden. Mein Freund ist ein sehr ordentlicher Mensch, müssen Sie wissen.«

«Wenn Sie mir sagen, wonach Sie gesucht haben …«

Indiana zögerte. Der Mann war ihm ein bißchen zu neugierig für seinen Geschmack. Aber vielleicht begann er auch schon, Gespenster zu sehen. Nach allem, was passiert war.»Eigentlich nach nichts Besonderem«, gestand er.»Wie gesagt, ich muß Se-ñor Perez unbedingt sprechen. Ich dachte, er hätte irgendeinen Hinweis hinterlassen, aber das Zimmer ist völlig leer.«

Der Portier zögerte einen Moment, während sich ein nachdenklicher Ausdruck auf seinen Zügen breitmachte.»Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit«, sagte er.

Indiana wurde hellhörig.»Ja?«

«Wie gesagt«, begann der Portier,»ich selbst war noch nicht im Dienst, aber ich weiß von meinem Kollegen, daß Señor Perez mit einem Taxi weggefahren ist. Und ich kenne eigentlich alle Fahrer, die hier auf der Straße ihren Standort haben. Ich könnte mich umhören.«

«Das wäre phantastisch«, sagte Indiana. Seine Hand kroch schon wieder in die Tasche, doch dann begriff er, daß er auf dem besten Wege war, die Preise zu verderben, und zog sie leer wieder heraus. Der Portier schien ein ganz kleines bißchen enttäuscht, ließ sich aber nichts anmerken.

«Vielleicht tun Sie das«, sagte Indiana.»Ich werde später noch einmal vorbeikommen und sehen, was Sie herausgefunden haben. Es wird nicht Ihr Schaden sein.«

Dann verließ er mit raschen Schritten das Hotel, überquerte die Straße und betrat das gegenüberliegende Haus; eben das Hotel, von dem aus der unbekannte Schütze auf ihn angelegt haben mußte. Es war ja nicht etwa so, daß er nachtragend war — aber er brannte doch darauf, dem Indio die eine oder andere Frage zu stellen. Zum Beispiel die, warum er immer wieder versuchte, ihn umzubringen …

Das Hotel war wesentlich größer und teurer als das, in dem Pe-rez gewohnt hatte. Hinter der Empfangstheke standen gleich drei Portiers, die in ihren goldbetreßten Phantasieuniformen einen sehr offiziellen Eindruck machten; und ganz und gar nicht den, daß sie Indiana bereitwillig oder für ein kleines Bakschisch jede Auskunft geben würden wie ihr Kollege von gegenüber.

Indiana ging zum Empfang, suchte sich den ältesten der drei Männer aus — eine hochgewachsene Gestalt mit grauen Schläfen und dem Gesicht einer schlechtgelaunten Bulldogge — und versuchte, so hilflos wie möglich auszusehen.

«Entschuldigung«, begann er.

Der Portier maß ihn mit einem kurzen, abschätzenden Blick, dessen Ergebnis nicht allzu positiv auszufallen schien, zauberte aber ein berufsmäßiges Lächeln auf sein Gesicht und kam näher.»Kann ich Ihnen helfen, mein Herr?«

«Ich hoffe, Sie können es«, antwortete Indiana.»Wissen Sie, ich habe ein kleines Problem.«

«Und das wäre?«

«Nun, es ist ein wenig delikat. «Indiana räusperte sich.»Ich kann mich doch auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?«

Der Portier sah zugleich beleidigt wie auch geschmeichelt aus.»Selbstverständlich, mein Herr«, sagte er.

Indiana atmete sichtbar und übertrieben auf und senkte die Stimme zu einem halblauten Verschwörerflüstern.»Sehen Sie, es ist folgendes: Ich war gestern abend mit einigen Freunden in einem gewissen … Etablissement, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Er grinste verlegen, und der Portier beantwortete seine Worte mit einem pflichtschuldigen Lächeln und einem angedeuteten Nicken, während seine Augen Indiana mit eindeutiger Verachtung musterten.

«Nun ja«, fuhr der fort.»Und wie es nun einmal so ist, ich habe mich mit einigen der dortigen Damen amüsiert und wohl etwas über die Stränge geschlagen. Am Schluß blieb mir jedenfalls nicht genug Bargeld übrig, um die Rechnung in der Bar zu bezahlen.«

«Das war gewiß sehr unangenehm, mein Herr«, sagte der Portier, und sein Blick fügte lautlos hinzu: Und was zum Teufel geht mich das an?

«Nun, ich hatte Glück im Unglück«, fuhr Indiana fort.»Ein Fremder war so freundlich, mir mit einigen Dollars auszuhelfen. Ein Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, stellen Sie sich das vor. Es gibt tatsächlich noch echte Hilfsbereitschaft unter den Menschen. Er hat mir seinen Namen genannt, aber leider habe ich ihn vergessen. «Er lächelte wieder, und diesmal mußte er sich nicht einmal anstrengen, um dabei verlegen auszusehen. Er war es mittlerweile wirklich. Die Geschichte, die er dem armen Burschen aufband, war tatsächlich haarsträubend. Aber er hatte die Erfahrung gemacht, daß man manchmal mit verrückten Geschichten sehr viel eher durchkam als mit solchen, die glaubhafter waren.

«Wissen Sie, ich hatte ein wenig über den Durst getrunken und konnte mir seinen Namen einfach nicht merken. Aber er sagte, daß er in diesem Hotel wohne, und eigentlich müßten Sie ihn kennen, wenn ich ihn beschreibe. Er ist sehr groß, über zwei Meter schätze ich, und breitschultrig wie ein Preisboxer. Ich glaube, er war Mexikaner oder irgend so etwas.«

«Sie meinen Señor Guzman«, vermutete der Portier.»Ja, der wohnt tatsächlich seit ein paar Tagen hier. «Er drehte sich herum und warf einen Blick auf das Schlüsselbord hinter sich.»Er ist in seinem Zimmer. Wenn Sie es möchten, schicke ich einen Boy hinauf, der ihm das Geld bringt.«

Indiana winkte hastig ab.»Das ist nicht nötig«, sagte er.»Ich wollte mich ohnehin noch selbst bei ihm bedanken. Vielleicht sagen Sie mir einfach, in welchem Zimmer ich ihn finde, und ich gehe rasch hinauf.«

Seine Worte schienen nicht unbedingt auf Begeisterung zu stoßen, und im Blick des Portiers flackerte Mißtrauen auf. Indiana beeilte sich, hinzuzufügen:»Oder der Boy begleitet mich nach oben. Ist vielleicht sowieso besser, ehe ich mich in diesem Riesenhaus verlaufe.«

Der Portier zögerte noch immer, aber dann winkte er doch einen Jungen in einer beige-blauen Phantasieuniform herbei, und Augenblicke später trat Indiana zusammen mit ihm in den Aufzug, um in den fünften Stock hinaufzufahren.

Er gab dem Jungen ein Trinkgeld, woraufhin ihm dieser die Zimmernummer des Indios verriet und diskret zurückblieb, als der Aufzug anhielt und die Türen auseinanderglitten. Zu seiner Erleichterung war der Hotelflur leer. Hinter einigen Türen drangen gedämpfte Stimmen hervor, aber er sah niemanden, als er sich dem Zimmer mit der Nummer 538 näherte und vor der Tür stehenblieb. Einen Moment zögerte er noch. Höchstwahrscheinlich war der Indio sowieso nicht da. Er mußte gesehen haben, daß sein Anschlag mißlungen war, und hatte entweder die Flucht ergriffen — oder lag hier irgendwo auf der Lauer, weil er Indiana dabei beobachtet hatte, wie er das andere Hotel verließ und dieses hier betrat.

Er klopfte.

Niemand antwortete.

Er klopfte noch einmal, zählte in Gedanken bis fünf und drückte dann langsam die Klinke herunter.

Die Tür war nicht abgeschlossen. Indiana öffnete sie vorsichtig, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß niemand hinter der Tür stand und auf ihn lauerte, und schlüpfte dann hindurch.

Das Zimmer ähnelte dem Josés, war aber weitaus größer und komfortabler eingerichtet — und es war ebenso leer. Als hätte der Indio gewußt, daß Indiana hier auftauchen und nach Spuren suchen würde, und hätte ihm die Mühe ersparen wollen, standen sämtliche Schranktüren und Schubladen offen und gewährten ihm einen Blick auf leergeräumte Fächer und Bretter. Das Fenster stand offen, und als Indiana hinüberging, erkannte er, daß man von hier aus tatsächlich einen hervorragenden Blick auf das gegenüberliegende Hotel und Josés Zimmer hatte. Er konnte sogar das winzige Loch erkennen, das der Pfeil in der Scheibe hinterlassen hatte.

Er schauderte. Hätte er sich nicht durch einen reinen Zufall im richtigen Moment vorgebeugt, dann könnte man durch dieses Fenster jetzt mehr erkennen als ein leeres Zimmer: nämlich eines, auf dessen Bett eine zusammengesunkene, tote Gestalt mit blau angelaufenem Gesicht lag.

Er durchsuchte das Zimmer genauso gründlich wie das Josés. Aber das Ergebnis war noch magerer. Er fand auch hier in Schränken und Schubladen nichts, und der angebliche Señor Guzman war nicht einmal freundlich genug gewesen, ihm eine Notiz auf einem durchgedrückten Blatt Papier zu hinterlassen. Das Zimmer war so aufgeräumt, als wäre es nie bewohnt gewesen.

Enttäuscht verließ er es wieder und ging zum Aufzug zurück. Die Kabine war nicht da. Indiana drückte den roten Knopf und trat ein paar Schritte zurück, als der Lift wenige Augenblicke später heraufgefahren kam. Die Türen glitten auf. Indiana erwartete halbwegs, den Liftboy wiederzusehen, der ihn hinaufgebracht hatte, aber der Aufzug war leer. Er trat hinein, drückte den Knopf fürs Erdgeschoß und lehnte sich mit über der Brust verschränkten Armen gegen die Wand, als die Türen sich wieder schlossen und der Lift sich rasselnd in Bewegung setzte.

Indianas Blick glitt über die Leuchtanzeige über der Tür. Die gelbleuchtende 5 erlosch, machte der 4 Platz, dann der 3 — und dann kam der Aufzug mit einem so harten Ruck zwischen dem dritten und zweiten Stockwerk zum Stehen, daß Indiana um ein Haar von den Füßen gerissen worden wäre und erst im letzten Moment wieder an der Wand Halt fand.

Fluchend richtete er sich auf, sah sich einen Moment hilflos um und drückte dann mehrmals hintereinander den Knopf für das Erdgeschoß. Jedesmal erklang ein helles Klingelzeichen, aber das war auch alles: Der Lift rührte sich nicht.

Indiana fluchte ungehemmt vor sich hin. Das hatte ihm an diesem Tag wirklich noch gefehlt: in einem verdammten Lift stek-kenzubleiben und unter Umständen stundenlang zu warten, bis ein Mechaniker kam und ihn befreite!

Nun, zumindest brauchte er sich während der Wartezeit keine Sorgen zu machen. Plötzlich ertönte vom Dach der Liftkabine ein dumpfes Poltern, und nur Augenblicke später wurde direkt über Indianas Kopf eine getarnte Klappe geöffnet, und ein dunkles, von glänzendem blauschwarzem Haar umrahmtes Gesicht blickte zu ihm herein. Der Ausdruck darauf war nicht besonders freundlich …

Indiana ahnte die Bewegung mehr, als daß er sie wirklich sah. Ganz instinktiv ließ er sich zur Seite kippen, zog die Knie an den Körper und versuchte, mit einer Rolle wieder auf die Füße zu kommen, was in der Enge der Liftkabine allerdings schlecht möglich war. Aber immerhin brachte ihn die Bewegung aus der Flugbahn der kleinen Axt, die der Indio mit erstaunlicher Präzision nach ihm geschleudert hatte; und mit ebenso erstaunlicher Kraft, denn das Beil fuhr fast mit der ganzen Schneide ins Holz der Rückwand und blieb zitternd stecken.

Ein ärgerliches Knurren erklang, während Indiana noch versuchte, den Knoten aus seinen Beinen zu bekommen und sich wieder auf die Füße zu arbeiten. Es gelang ihm tatsächlich, aber noch bevor er sich herumdrehen konnte, erklang abermals ein dumpfes Poltern, und diesmal zitterte die gesamte Kabine unter riesigen Füßen. Als er seine Drehung vollendet hatte, blickte er genau auf den Adamsapfel des Indios, der sich zu ihm herabgeschwungen hatte, um mit bloßen Händen das zu vollenden, was er mit Blasrohr und Wurfaxt begonnen hatte.

Indiana duckte sich unter einem wahren Hagel von Schlägen und Hieben, die ihn einzig aus dem Grund nicht sofort niederstreckten, daß die Liftkabine einfach nicht groß genug für den Indio war, um mit seinen langen Armen richtig auszuholen. Trotzdem taumelte er gegen die Wand und mußte zwei, drei schwere Treffer an Brust und Gesicht hinnehmen, die ihm die Luft aus den Lungen trieben und nicht zum ersten Mal an diesem Tag bunte Sterne vor seinen Augen tanzen ließen. Hilflos hob er die Hände und versuchte, wenigstens sein Gesicht vor den ärgsten Schlägen zu schützen.

Der Indio packte ihn mit einem zornigen Knurren bei den Rockaufschlägen und riß ihn in die Höhe, so daß Indianas Füße plötzlich zwanzig Zentimeter über dem Boden pendelten. Dann holte er aus und schmetterte sein hilfloses Opfer mit aller Gewalt gegen die geschlossenen Aufzugtüren. Und Indiana mobilisierte sein letztes bißchen Kraft, um mit aller Gewalt das rechte Knie in die Höhe zu reißen und es dem Angreifer dorthin zu rammen, wo auch zweieinhalb Meter große Mayakrieger besonders empfindlich sind.

Die Augen des Indios wurden rund. Ein quietschender, fast komischer Ton kam über seine Lippen, und sein Gesicht verlor unter der Sonnenbräune jedes bißchen Farbe. Er taumelte, machte zwei, drei mühsame Schritte zurück — alles, ohne Indiana loszulassen —, prallte gegen die rückwärtige Kabinenwand und begann wie in Zeitlupe in die Knie zu brechen.

Indianas Füße berührten endlich wieder festen Boden. Mit einem heftigen Ruck sprengte er den Griff des Indios, riß seine Arme in die Höhe und ließ beide Hände flach auf die Ohren des Riesen klatschen.

Der Indio brüllte vor Schmerz, warf den Kopf in den Nacken und griff sich an die Schläfen, und die Stellung, in der er eine halbe Sekunde lang reglos dahockte und keuchte, war einfach zu verlockend, als daß Indiana der Einladung widerstehen konnte: Er schmetterte dem Riesen die Handkante vor den Kehlkopf, sprang rasch einen Schritt zurück und setzte drei, vier, fünf kurze, kraftvolle Faustschläge in seinen Magen hinterher.

Der Indio klappte zusammen wie ein zwei Meter zwanzig großes Taschenmesser, und Indiana riß zum zweitenmal sein Knie in die Höhe. Es traf mit aller Wucht ins Gesicht des Mayas und ließ seinen Kopf zum zweitenmal nach hinten und eine Sekunde später mit unangenehmer Wucht gegen die Kabinenwand knallen.

Und das war selbst für diesen Riesen zuviel.

Der Maya verdrehte die Augen, gab noch einmal diesen quietschenden Ton von sich und sackte zusammen.

Keuchend trat Indiana einen Schritt zurück und sah sich um. Der Maya war bewußtlos, aber Indiana war nicht davon überzeugt, daß dieser Zustand sehr lange anhalten würde. Er hatte zwar mit aller Gewalt zugeschlagen, aber der Indio hatte die Kraft von zehn Männern; und für den Moment, an dem er aufwachte, konnte Indiana sich auf Anhieb ungefähr vierundzwan-zigtausend andere Orte vorstellen, an denen er lieber wäre, als zusammen mit ihm in dieser Aufzugskabine.

Er sparte sich die Mühe, noch einmal den Knopf zu drücken, sondern legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben zu der geöffneten Klappe, durch die der Indio zu ihm hereingesprungen war. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte die Arme aus, aber er war nicht groß genug: Die Ränder der Klappe waren noch gut zwanzig Zentimeter von seinen ausgestreckten Fingern entfernt. Indiana federte zwei-, dreimal in den Knien ein, sammelte alle Kraft und stieß sich ab.

Beim ersten Mal sprang er daneben, aber beim zweiten Versuch bekam er mit der linken Hand den Rand der Klappe zu fassen und fand Augenblicke später auch mit der anderen Halt. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er sich in die Höhe, strampelte wild mit den Beinen, um sich irgendwo abzustützen, und trat dabei auf etwas Weiches, Nachgiebiges, das auf die grobe Behandlung mit einem wütenden Knurren reagierte.

Indianas Herz machte einen erschrockenen Hüpfer. Der Indio war wieder aufgewacht!

Die bloße Vorstellung verlieh ihm genug Kraft, sich mit einem einzigen Ruck nach oben und auf das Dach der Liftkabine zu ziehen. Hastig kroch er ein Stück von der Klappe weg, stieß mit der Schulter gegen eines der riesigen Umlenkräder, die die Stahltrosse, an der die Kabine hing, hielten, und hörte eine Reihe polternder, scharrender Geräusche aus der Liftkabine. Die Hände des Indios erschienen in der Klappe. Er war so groß, daß er nicht einmal zu springen brauchte, um festen Halt zu finden.

Indiana fluchte, sprang auf die Füße, suchte mit der rechten Hand an den Stahltrossen neben sich Halt und trat mit aller Kraft zu. Ein knirschendes Geräusch erklang, als er mit dem Absatz auf die Finger des Indios hieb, aber der Maya stieß einen mehr wütenden als schmerzerfüllten Schrei aus.

Die Hand verschwand aus der Öffnung. Indiana holte aus, trat noch einmal und mit noch größerer Kraft auch auf die andere Hand und registrierte befriedigt, daß der Indio auch sie zurückzog.

Aber sein Triumph währte nur eine Sekunde. Plötzlich schien der Boden unter ihm zu explodieren, und in der gewaltsam geschaffenen, gezackten Öffnung erschien eine geballte Faust, die fast so groß war wie Indianas Kopf. Indiana schrie vor Schreck auf, machte einen entsetzten Hüpfer zur Seite und griff mit beiden Händen nach den Stahlseilen. Unter ihm wiederholte sich das splitternde Bersten, und auch die zweite Hand des Indianers durchbrach die Kabinendecke so mühelos, als bestünde sie aus Pappe, nicht aus zollstarkem Eichenholz.

Mit verzweifelter Hast begann Indiana, in die Höhe zu klettern. Die Stahlseile waren dick und ölig und mit Millionen winziger scharfer Grate übersät, die seine Haut zerschnitten. Aber die pure Todesangst verlieh ihm für einen Moment übermenschliche Kräfte. Schnell und mit einer Geschicklichkeit, die er normalerweise gar nicht besaß, kletterte er an den schlüpfrigen Stahlseilen in die Höhe und entfernte sich rasch von der Kabine.

Sein Blick tastete durch das undurchdringliche Dunkel des Aufzugschachtes. Wenn er es schaffte, die nächste Etage zu erreichen, dann konnte er vielleicht die Tür von innen öffnen.

Er schaffte es nicht.

Indiana war noch gut zwei Meter von der Tür entfernt, als plötzlich ein solcher Ruck durch das Stahlseil lief, daß er um ein Haar den Halt verloren hätte. Mit einer verzweifelten Bewegung klammerte er sich fest und sah nach unten.

Der Indio war aus dem herausgestiegen, was er vom Dach der Liftkabine übriggelassen hatte. Er blickte aus böse funkelnden Augen zu Indiana hinauf. Mit der linken Hand zerrte er an dem Drahtseil, an dem Indiana sich festhielt, spannte es immer wieder an und ließ es los, wie die Saiten einer übergroßen, stählernen Harfe. Und bei jedem einzelnen Ruck fiel es Indiana schwerer, sich festzuhalten. Noch drei-, viermal, schätzte er, und er würde einfach den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen. Nicht einmal besonders weit, vielleicht fünf oder sechs Meter, aber selbst wenn er sich beim Aufprall auf das Kabinendach nicht alle Knochen brach, würde der Maya den Rest erledigen.

Aber offensichtlich ging seinem Kontrahenten dies nicht schnell genug. Denn plötzlich hörte er auf, an dem Seil zu reißen und zog etwas aus dem Gürtel: die Axt, mit der er nach Indiana geworfen hatte.

Indianas Augen weiteten sich entsetzt, als er sah, wie der Indio das kurzstielige Beil mit beiden Händen ergriff und die Schneide dann mit aller Gewalt gegen das Stahlseil prallen ließ.

Das Kabel riß. Einen Moment lang hatte Indiana das fürchterliche Gefühl, schwerelos im Nichts zu hängen, als die durchschnittene Drahtschleife sich von der Kabeltrommel fünf oder sechs Stockwerke über ihm unter dem Dach des Hotels abzuwickeln begann. Und für eine kostbare, halbe Sekunde klammerte er sich noch mit aller Gewalt an das nutzlose Seil. Im letzten Moment, als er schon fast zu stürzen begann, warf er sich herum und ergriff eines der anderen Taue.

Der Ruck schien seinen Körper in zwei Teile zu reißen. Das Stahlseil riß seine Hände endgültig auf, und das Kabel war plötzlich schlüpfrig von Indianas eigenem Blut. Aber er ignorierte den Schmerz, biß die Zähne zusammen und klammerte sich mit aller Macht fest.

Ungefähr fünfundvierzig Sekunden lang.

Genau so lange nämlich brauchte der Indio, um dem stürzenden Stahlseil auszuweichen, erneut festen Stand zu suchen und seine Axt ein zweites Mal zu schwingen.

Diesmal griff Indiana sofort nach einem anderen Seil.

Auch das Tau, an dem er gerade noch gehangen hatte, zersprang mit einem peitschenden Knall, und eine Sekunde später erscholl von oben ein sirrendes, immer lauter werdendes Geräusch. Indiana hob den Blick und zog dann erschrocken den Kopf zwischen die Schultern, als er das schwirrende Kabel erkannte, das wie eine stählerne Peitsche durch den Schacht heruntergestürzt kam.

Der Indio unter ihm brachte sich mit einer erschrockenen Bewegung in Sicherheit, um nicht von dem Drahtseil erschlagen zu werden, und Indiana nutzte die winzige Atempause, wieder einen Meter in die Höhe zu klettern. Seine Hände schmerzten fürchterlich. Er hatte kaum noch Kraft, und seine aufgerissenen Finger bluteten jetzt so heftig, daß das Drahtseil noch schlüpfriger wurde. Trotzdem zwang er sich, Hand über Hand weiter in die Höhe zu steigen. Die Liftkabine hing jetzt nur noch an zwei von ursprünglich vier Trossen, und der Moment war abzusehen, an dem ihr Gewicht auch diese beiden einfach zerreißen würde; zumal diesem Wahnsinnigen durchaus zuzutrauen war, auch noch das dritte Kabel durchzuschlagen.

Als hätte er nur auf diesen Gedanken gewartet, tat der Indio in diesem Moment ganz genau das. Indiana griff mit einer fast verzweifelten Bewegung nach dem letzten verbliebenen Seil, hangelte sich gleichzeitig einen halben Meter weiter in die Höhe und warf sich herum, als auch das dritte Kabelende vom Dach herabgestürzt kam. Diesmal entging er ihm nicht ganz. Die Trosse streifte ihn und riß sein linkes Hosenbein von der Hüfte bis zum Stiefelansatz auf, aber wie durch ein Wunder verletzte sie die Haut darunter nicht einmal.

Indiana sah nach unten. Die Kabine hing jetzt nur noch an einem einzigen Seil. Er glaubte, ein schwaches Zittern zu erkennen, war aber nicht sicher, und er verschwendete auch nicht viel Zeit damit, sich genauer zu überzeugen, denn in diesem Augenblick richtete sich der Maya wieder auf, blickte kurz zu ihm hoch und bückte sich, um seine Axt aufzuheben, die er fallen gelassen hatte.

Indiana starrte ihn fassungslos an. Sekundenlang weigerte er sich einfach zu glauben, was er sah. Was der Kerl da unten tat, das war Selbstmord!

«Laß das sein, du Idiot!« brüllte er.

Tatsächlich zögerte der Maya einen Moment. Er legte den Kopf schräg, sah zu ihm hoch und machte eine angefangene Bewegung, wie um seine Axt zu schleudern, aber er führte sie nicht zu Ende, sondern grinste plötzlich, schob das Beil unter den Gürtel seiner Hose und begann mit fast affenartiger Geschicklichkeit, an der Stahltrosse emporzuklettern.

Indiana fluchte und verdoppelte seine Anstrengungen, die Tür zu erreichen. Der Indio bewegte sich erstaunlich schnell und mit einem Geschick, das man einem Mann seiner Größe und Masse kaum zugetraut hätte. Aber Indiana hatte fünf oder sechs Meter Vorsprung. Die geschlossene Tür zur nächsten Etage befand sich jetzt schon fast zum Greifen nahe. Mit zusammengebissenen Zähnen kletterte er weiter, schlang das Bein um die Stahltrosse und suchte mit der linken Hand sicheren Halt, dann streckte er die rechte aus und tastete nach dem Hauch von einem Spalt zwischen den beiden Türhälften.

Er brach sich drei Fingernägel ab, bevor er einsah, daß es so nicht ging. Gehetzt blickte er nach unten. Der Indio war kaum mehr als eine Armeslänge von ihm entfernt. Er stieg mit so selbstverständlicher Gelassenheit an der Stahltrosse empor, als hätte er sein Lebtag lang nichts anderes getan.

Indiana setzte alles auf eine Karte. Als der Maya die Hand ausstreckte, um nach seinem Fuß zu greifen, ließ er sich einfach mit weit ausgestreckten Armen zur Seite kippen. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er abstürzen. Aber im allerletzten Augenblick fanden seine Finger Halt an einer schmalen Zementstufe unterhalb der Tür. Mit aller Kraft klammerte er sich fest, biß abermals die Zähne zusammen, als seine Knie schmerzhaft gegen die Schachtwand stießen, und zog sich Zentimeter für Zentimeter in die Höhe. Der Indio hinter ihm knurrte enttäuscht, aber natürlich gab er nicht auf.

Ganz im Gegenteil: Er löste seine Hand und einen Fuß von seinem Halt und versuchte, mit der anderen Faust nach Indiana zu schlagen. Trotz seiner enorm langen Arme und der damit verbundenen Reichweite erreichte er ihn nicht ganz. Seine Finger berührten nur ganz sacht Indianas Rücken, und er zog die Hand mit einem enttäuschten Laut wieder zurück. Allerdings nicht, um nun wirklich aufzugeben, wie Indiana einen Sekundenbruchteil später voller Schrecken erkannte, sondern einzig, um die Axt aus dem Gürtel zu ziehen und damit seine Reichweite genau um die zwanzig Zentimeter zu verlängern, die ihm fehlten, um ihm endgültig den Garaus zu machen.

Indiana duckte sich verzweifelt, als die Axt heranzischte und kaum einen Fingerbreit neben seiner Wange Funken aus dem Stein schlug. Hastig arbeitete er sich ein Stück weiter nach rechts, aber der Indio vollführte die Bewegung mit, schwang, wie Tarzan an seiner Liane nur an einem Arm und Fuß hängend, an dem Stahlseil herum und schlug zum zweiten Mal mit dem Beil nach ihm. Die Axtschneide fuhr splitternd eine Handbreit über Indiana ins Holz der Tür und verkantete sich darin. Der Maya begann wütend, am Stiel seiner Waffe zu zerren, und Indiana riskierte noch einmal alles und löste seinerseits die rechte Hand von der schmalen Betonstufe.

Mit aller Gewalt ließ er seine Handkante auf das Gelenk des Maya krachen. Der Maya brüllte vor Schmerz auf und öffnete leicht die Hand. Hastig packte Indiana die Axt.

Er zwang sich, nicht zu dem Indio zurückzusehen und auch nicht an den Abgrund zu denken, der unter ihm lauerte, sondern schwang das Beil mit aller Gewalt und ließ es zielsicher auf den Türspalt krachen.

Wahrscheinlich war es reiner Zufall, daß er genau traf; aber die Klinge fuhr direkt zwischen die beiden Türhälften und verbreiterte den haarfeinen Riß zu einem fingerbreiten Spalt. Indiana griff mit beiden Händen zu, quetschte und zog und zerrte so lange, bis die Türen widerstrebend weiter auseinanderglitten, und schließlich bekam er einen Arm in den Spalt. Jetzt hatte er einen Hebel, den er ansetzen und durch den er seine ganze Kraft nutzen konnte. Schleifend glitten die beiden Türhälften auseinander, und Indiana machte einen taumelnden Schritt auf den Korridor hinaus. Die Axt fiel polternd neben ihm zu Boden.

Als er den zweiten Schritt machen wollte, stolperte er, denn eine Hand hatte sich um sein Fußgelenk gelegt und hielt sie mit unerbittlicher Kraft fest.

Indiana warf sich herum, trat blindlings um sich und sah, daß der Indio wie er zuvor alles riskiert und sich einfach nach vorn geworfen hatte. Seine linke Hand hatte die Zementstufe ergriffen, an der auch Indiana Halt gefunden hatte, während sich seine rechte mit der Kraft eines Schraubstockes um Indianas Fußgelenk schloß und ihn langsam, aber unerbittlich wieder zurück auf den Schacht zu zerrte.

Indiana grub die Hände in den Teppich und trat mit dem freien Fuß zu. Drei, vier, fünf Mal hintereinander traf er das Gesicht des Indios. Dessen Lippen platzten auf, und auch aus seiner Nase floß Blut, aber er gab nicht auf. Im Gegenteil; der Schmerz schien ihn eher noch wütender zu machen. Immer heftiger zog und zerrte er an Indianas Fuß, so daß der weiter auf den Liftschacht zu gerissen wurde.

Auf einmal fiel sein Blick auf die Axt, die neben ihm auf dem Teppich lag. Ohne wirklich zu überlegen, ergriff er sie, drehte sie herum und ließ das stumpfe Ende wuchtig auf die Hand herunterkrachen, die seinen Fuß umklammerte.

Der Indio heulte vor Schmerz auf, ließ Indianas Fuß los und hing einen Moment lang nur noch an den Fingerspitzen der linken Hand über dem Abgrund; ganz genau so lange, wie Indiana brauchte, um sich auf die Knie hochzustemmen und das stumpfe Ende des Beils ein zweites Mal auch auf diese Finger runterkrachen zu lassen.

Mit einem keuchenden Schrei kippte der Indio nach hinten und verschwand in der Tiefe. Indiana beugte sich vor, um ihm nachzublicken. Der Maya stürzte wie ein Stein, prallte auf halber Strecke gegen das einzige noch verbliebene Stahlseil der Liftkabine und schlug mit solcher Wucht auf ihrem Dach auf, daß er es glatt durchbrach. Den Bruchteil einer Sekunde später ertönte ein gellender Schrei und ein lang anhaltendes Splittern und Krachen und Bersten aus dem Inneren der Liftkabine. Und plötzlich war auch der Boden des Aufzuges verschwunden. Ein gezacktes Loch gähnte dort, wo der Indio eigentlich hätte liegen sollen …

Der Lift zitterte. Das letzte Stahlseil begann wie eine Bogensehne zu schwirren, und für einen Augenblick rechnete Indiana ernsthaft damit, daß es reißen und die ganze Kabine abstürzen würde. Aber wie durch ein Wunder hielt diese eine Trosse den Aufzug trotz seines Gewichts immer noch.

Indiana richtete sich auf, stemmte die Hände auf die Oberschenkel und atmete keuchend mehrmals hintereinander sehr tief ein und aus. Alles drehte sich um ihn. Seine Hände brannten wie Feuer, und die Muskeln in seinen Armen fühlten sich an wie überdehnte Gummibänder. Daß er überhaupt noch am Leben war, war schlicht und einfach Glück. Der Indio hatte möglicherweise die Kraft eines Ochsen, aber auch nicht sehr viel mehr Gehirn. Wäre es anders gewesen, dann hätte Indiana kaum eine Chance gehabt, ihm zu entkommen.

Er stand auf, bückte sich dann noch einmal, um das kleine Beil aufzuheben und drehte es einen Moment nachdenklich in der Hand. Es war keine Indio-Waffe, sondern eine ganz normale Axt mit kurzem Stiel, wie man sie in jedem Eisenwarengeschäft erstehen konnte. Enttäuscht zuckte er mit den Schultern und warf sie in den Liftschacht.

Das Beil prallte klirrend gegen das zertrümmerte Aufzugdach und sprang davon ab wie ein Querschläger, und im gleichen Moment ertönte ein mahlendes, knirschendes Geräusch, das helle Quietschen von Eisen und das Kreischen überanspruchter Nieten und Schraubverbindungen. Indiana hatte gerade noch Zeit genug, mit einem entsetzten Schritt zurückzuweichen, als das überlastete Stahlseil endgültig nachgab und die zerrissenen Enden wie eine stählerne Peitsche durch den Schacht fuhren und tiefe Gräben in den Stein rissen. Mit einem urgewaltigen Poltern und Krachen begann die Liftkabine, den Schacht herabzustürzen, wobei sie immer wieder gegen die Wände prallte und sich auf dem Weg nach unten bereits in ihre Bestandteile auflöste. Dann ertönte ein letzter, ungeheurer Schlag, der das gesamte Hotel in seinen Grundfesten zu erschüttern schien.

Jetzt, als alles vorbei war, begannen Indianas Hände und Knie plötzlich zu zittern. Er war in Schweiß gebadet, und seine Handflächen meldeten sich mit bohrenden, brennenden Schmerzen protestierend zu Wort und erinnerten daran, daß er sie über die Maßen grob behandelt hatte. Er griff in die Jacke, zog mit spitzen Fingern ein Taschentuch hervor und begann, mit zusammengebissenen Zähnen das Gemisch von Blut und Schmieröl von seinen Handflächen abzutupfen. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, und er machte es eher schlimmer als besser, so daß er es nach einigen Augenblicken auch aufgab und auch das Taschentuch zusammengeknüllt in den Aufzugschacht hinunterwarf. Dann sah er sich nach beiden Seiten um — so unglaublich es schien, aber auf dieser Etage schien niemand von dem Höllenlärm Notiz genommen zu haben — und wandte sich zur Treppe. Verständlicherweise war er im Moment nicht besonders erpicht darauf, den zweiten Aufzug zu benutzen.

Der Lärm schlug ihm bereits entgegen, als er auf der Höhe der ersten Etage war, und in der Empfangshalle angekommen, gewahrte er einen wahren Menschenauflauf vor den offenstehenden Türen einer der beiden Liftkabinen. Rasch, aber nicht so schnell, daß seine Hast aufgefallen wäre, durchquerte er die Halle, wandte pflichtschuldig den Kopf, um mit geschauspielerter Neugier nach dem Grund der Aufregung zu sehen, und näherte sich dabei unauffällig dem Ausgang. Ein paar von den Leuten, die sich um die Lifttüren drängten, blickten ihn erstaunt an. Natürlich fiel er in seiner zerfetzten, blut- und ölverschmierten Kleidung auf. Aber offensichtlich war das, was mit dem Aufzug geschehen war, noch interessanter als ein Mann in zerrissenen Hosen und mit blutenden Händen, denn niemand nahm wirklich Notiz von ihm, und Indiana nutzte die Gelegenheit, noch schneller auszuschreiten und sich dem Ausgang zu nähern. Aber dann blieb er doch noch einmal stehen. In dem aufgeregten Durcheinander aus Stimmen und Schreien hatte sich plötzlich etwas geändert. Mit einem Male wich die Menge mit einem überraschten Murmeln zurück und bildete eine Gasse, durch die Indiana die Lifttüren sehen konnte.

Sie — und die riesenhafte, blutige Hand, die sich um die Schwelle klammerte!

Plötzlich hatte er es sehr eilig, das Hotel zu verlassen. Ohne nach rechts oder links zu schauen, überquerte er die Straße und steuerte den Taxistand an der gegenüberliegenden Ecke an, als sich plötzlich die Glastüren von Josés Hotel öffneten und ein aufgeregter Portier herausgestürmt kam und ihm zuwinkte.

«Dr. Jones!«

Indiana verdrehte die Augen, sah aber ein, daß der Mann, wenn er nicht stehenblieb, höchstens noch lauter brüllen und seinen Verfolger damit unweigerlich auf seine Spur lenken würde. Resigniert wandte er sich um.

Der Portier kam mit weit ausgreifenden Schritten auf ihn zugerannt und blieb kurzatmig vor ihm stehen.»Dr. Jones! Ich hab’ die Information.«

Im ersten Moment wußte Indiana gar nicht genau, worauf der Mann hinauswollte. Dann begriff er: das Taxi.

«Gut«, sagte er und griff in die Tasche. Der Blick des Portiers folgte der Geste. Sein Gesicht verzog sich überrascht, als er Indianas geschundene, blutige Hände sah und bemerkte, in welch desolatem Zustand sich dessen Kleidung befand. Aber das gierige Funkeln in seinen Augen wurde kein bißchen schwächer.

Wortlos wartete er, bis Indiana ihm eine Zehndollarnote ausgehändigt hatte, steckte sie ungeachtet des Schmieröls und Blutes daran in die Jackentasche und sagte:»Señor Perez ist heute morgen zum Hafen gefahren. Er hatte es ziemlich eilig.«

«Und das ist alles?«fragte Indiana enttäuscht.

Der Portier nickte, aber er lächelte weiter.»Das ist gar nicht so schlecht«, sagte er.»Ich habe mit dem Taxifahrer gesprochen, müssen Sie wissen. Señor Perez hat ihm ein hohes Trinkgeld geboten, wenn er vor sieben den Hafen erreicht.«

Indiana begriff. Es gab für diese Hast nur einen einzigen Grund: nämlich den, daß José ein Schiff erreichen mußte, das um sieben auslief. Wenigstens hoffte er, daß es so war; denn wenn nicht, dann hatte er seine einzige Spur in dieser immer undurchsichtiger werdenden Geschichte ebenso rasch verloren, wie er sie gefunden hatte.

Er bedankte sich mit einem Nicken bei dem Mann und wollte weitergehen, aber der Portier hielt ihn noch einmal zurück.»Ich habe all das bereits Ihrer Assistentin gesagt«, sagte er.

Indiana blieb wie vom Donner gerührt stehen.»Meiner was?«fragte er ungläubig.

«Ihrer Assistentin«, wiederholte der Portier.»Das war doch richtig, oder?«

Indiana zog die Augenbrauen zusammen.»Einer jungen Dame?«fragte er.»Siebzehn oder achtzehn, mit kurzgeschnittenem, blondem Haar?«

Das Gesicht des Portiers hellte sich auf.»Genau das war sie«, sagte er.

«Wie lange ist das her?«fragte Indiana.

«Nicht sehr lange. Fünf Minuten, allerhöchstens. Sie ist gleich in ein Taxi gestiegen, um zum Hafen zu fahren.«

Indiana fluchte halblaut, fuhr auf der Stelle herum und rannte, so schnell er konnte, zur Ecke. Wahllos stürzte er in das erste Taxi und bellte ein» zum Hafen!!!«, noch bevor er die Tür ganz hinter sich schließen konnte.»Und schnell!«fügte er im gleichen Tonfall hinzu.

Was er kaum eine Sekunde später schon bedauerte. Denn der Taxifahrer gab so rücksichtslos Gas, daß Indiana nach hinten geworfen und in die Polster gedrückt wurde, während der Ford mit durchdrehenden Reifen losschoß.

Mühsam rappelte er sich wieder auf, warf dem Mann hinter dem Lenkrad einen schrägen Blick zu und ballte seine blutigen Hände zu Fäusten, damit der sie nicht sah.

«Auf der Flucht oder hinter jemandem her?«fragte der Taxifahrer feixend. Indiana warf ihm einen feindseligen Blick zu und ersparte sich jede Antwort, aber der Mann gab so rasch nicht auf:

«Ich frag’ ja nur, weil es heute jedermann eilig zu haben scheint«, fuhr er fort.»Die Kleine, die vorhin mit dem Spanier in den Wagen gestiegen ist …«

Indiana richtete sich kerzengerade auf.»Welche Kleine?!«

Der Taxifahrer zuckte mit den Achseln und bog mit kreischenden Reifen in eine Seitenstraße ein. Ein Fußgänger brachte sich mit einem entsetzten Sprung in Sicherheit und schickte dem Wagen einen Fluch von Verwünschungen und Beschimpfungen hinterher, aber das schien er gar nicht zu bemerken.»Ein junges Ding eben«, antwortete er achselzuckend.»So sechzehn, vielleicht achtzehn Jahre alt. Schien es verdammt eilig zu haben.«

«Schlank? Blond?«vergewisserte sich Indiana.

Der Mann nickte.»Genau die. Kennen Sie sie? Sind Sie hinter ihr her? Oder hinter dem Kerl, der sie begleitet?«

Indiana blickte fragend.

«So ein riesiger Kerl«, sagte der Fahrer.»Muß ein Mexikaner oder Spanier gewesen sein, oder sonstwas.«

«An die zwei Meter groß? Schwarzes Haar und Maßanzug?«fragte Indiana mit klopfendem Herzen.

Ein neuerliches Nicken.»Genau der. Und er ging, als liefe er auf Eiern.«

Indiana ließ sich in den Sitz zurücksinken und schloß die Augen. Für einen Moment hatte er das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Irgend etwas stimmte hier nicht. Der Indio konnte schließlich schlecht an zwei Orten zugleich sein. Davon abgesehen, daß sein Maßanzug mittlerweise bestimmt nicht mehr wie ein Maßanzug aussah …

«Sind Sie sicher, daß die zum Hafen gefahren sind?«fragte er.

«Hundertprozentig. Ich war noch wütend, wissen Sie? War eigentlich meine Fuhre. «Der Taxifahrer machte eine erklärende Handbewegung und ließ den Wagen auf zwei Rädern um die nächste Kurve schliddern, während Indiana sich verzweifelt am Türgriff festklammerte.»Das geht bei uns alles schön der Reihe nach. Der erste in der Reihe bekommt auch den ersten Fahrgast, der zweite den zweiten und so weiter«, sagte der Fahrer.»Aber dieser große Tölpel ist einfach in den Wagen hinter mir gesprungen und hat dem Fahrer einen Zehner hingehalten, und schon waren sie weg.«

Indiana begriff.

Zähneknirschend langte er in die Tasche und zog einen weiteren Geldschein heraus.»Den Zehner kriegen Sie von mir auch«, sagte er,»wenn Sie Ihren Kollegen einholen. «Der Fahrer grinste und trat das Gaspedal bis zum Boden durch, und Indiana fügte hastig hinzu:»Und einen weiteren Zehner, wenn wir es lebend schaffen.«

Sie schafften es. Indiana wußte hinterher selbst nicht, wie, aber irgendwie kamen sie lebendig und beinahe unversehrt am Hafen an. Er hörte irgendwann auf, mitzuzählen, aber bevor er einhielt, registrierte er ungefähr zweiundvierzig Verkehrsübertretungen und mindestens sieben, wahrscheinlich aber acht oder neun Situationen, in denen sie sich in akuter Lebensgefahr befanden — die, die er gar nicht mitbekam, nicht einmal mitgerechnet. Aber die Götter schienen an diesem Tag auf seiner Seite zu sein, wenigstens was diese Fahrt anging. Nicht einmal zehn Minuten später hielt der Wagen mit kreischenden Bremsen vor der Hafenmeiste-rei, und Indiana torkelte mit zitternden Knien und grüner Nase ins Freie.

Er verschwendete noch einmal kostbare zwei Minuten darauf, sich eine Toilette zu suchen und sich wenigstens den schlimmsten Schmutz von den Händen zu waschen. Dann fragte er den Erstbesten nach dem Büro des Hafenmeisters und stürmte die drei Treppen hinauf. Er rannte durch die Tür, ohne anzuklopfen — und blieb wie vom Donner gerührt stehen.

Der Raum bot einen Anblick fast vollkommener Verwüstung. Mehrere Stühle und ein Schreibtisch waren zertrümmert, und einer der großen Aktenschränke war umgeworfen worden, so daß sich sein Inhalt im ganzen Raum verteilt hatte; Tausende von engbeschriebenen, weißen Blättern, die ein heilloses Chaos auf dem Fußboden, den Möbeln und sogar den Fensterbrettern bildeten. Inmitten dieses Tohuwabohu hockte ein kleiner, grauhaariger Mann in weißem Hemd, Weste und Ärmelschonern, der sich stöhnend den Kopf hielt und aus der Nase blutete. Ein zweiter Mann, auf eine ähnliche Art gekleidet, der zwar nicht grauhaarig, dafür aber vor Schreck grau im Gesicht war, saß auf den Knien neben ihm und tastete mit spitzen Fingern seine Schneidezähne ab, als wäre er nicht ganz sicher, ob sie noch da waren.

Als Indiana hineinstürmte, blickten beide hoch, und zumindest im Gesicht des Grauhaarigen erkannte er einen Ausdruck abgrundtiefen Schreckens, der sich erst nach einigen Sekunden in vorsichtige Erleichterung wandelte.

«Was ist denn hier passiert?«fragte Indiana — obwohl er glaubte, die Antwort schon zu wissen.

«Ein Verrückter«, nuschelte der Graugesichtige.»Kam einfach hereingestürmt und hat hier alles kurz- und kleingeschlagen, nur weil er eine Auskunft haben wollte.«

«Ein riesiger Kerl mit schwarzem Haar, der ein Mädchen mit sich schleifte?«vergewisserte sich Indiana.

Der Schrecken im Gesicht des Grauhaarigen flackerte neu auf, und auch der andere sah ihn mit mehr Mißtrauen als Überraschung an.»Genau der«, sagte er.»Woher wissen Sie das?«

«Ich brauche auch eine Auskunft«, antwortete Indiana, die Frage des Mannes ignorierend.»Heute morgen ist ein Freund von mir auf ein Schiff gegangen. Ich muß wissen, wie es hieß und wohin es ausgelaufen ist.«

«O nein«, stöhnte der Graugesichtige,»nicht schon wieder. «Er sah ihn verwirrt an.

«Es ist die Santa Roga«, sagte er sehr hastig.»Sie ist nach Kuba ausgelaufen, um fünf Minuten nach sieben.«

«Aber das dürfen wir Ihnen eigentlich gar nicht …«

Indiana blickte den Grauhaarigen drohend an, und der Mann verstummte mitten im Satz.

«Schon gut«, sagte er.»Wenn das alles ist, was Sie möchten …«

«An welchem Pier hat sie gelegen?«fragte Indiana.

«Siebenundzwanzig«, antwortete der Grauhaarige hastig.»Und bevor Sie fragen, das nächste Schiff in diese Richtung geht in vier Tagen.«

Indiana bedankte sich mit dem freundlichsten Lächeln, das er zustande bringen konnte, drehte sich auf der Stelle herum und verließ das Büro. So leise er konnte, zog er die Tür hinter sich zu, ging, um nicht aufzufallen, mit gemessenen Schritten über den Flur bis zur Treppe — und rannte dann los. Den Worten des Taxifahrers und vor allem dem Zustand des Büros und seiner beiden unglücklichen Bewohner zufolge konnten Joana und der Indio nur noch wenige Minuten Vorsprung haben. Hätten sie den Hafen bereits wieder verlassen, dann hätte er sie gesehen, denn es gab nur diese eine Straße hier, über die ihn der amoklaufende Taxifahrer kutschiert hatte.

Und außerdem hatte er verdammt wenig Zeit. Die beiden dort oben würden früher oder später ihren Schrecken überwinden und das einzig Logische tun, nämlich die Polizei alarmieren, und Indiana hatte keine Lust, schon wieder Dutzende von neugierigen Fragen zu beantworten; oder gar einfach auf Verdacht erst einmal eingesperrt zu werden, was nach allem, was sich in den letzten vierundzwanzig Stunden in seiner unmittelbaren Umgebung zugetragen hatte, die wahrscheinlichste Reaktion der Polizei war.

Er rannte aus dem Haus, wandte sich nach rechts dem Hafenbecken zu und sah sich im Laufen um, ohne sein Tempo herabzusetzen. Pier 27 — das lag fast am anderen Ende des Hafens. Wenn Joana und der Indio dorthin unterwegs waren, dann hatte er eine gute Chance, sie einzuholen. Obwohl er Joana noch nicht besonders gut kannte, konnte er sich einfach nicht vorstellen, daß Swansons Tochter sich so völlig widerstandslos mitzerren lassen würde.

Es sei denn, flüsterte eine dünne, böse Stimme hinter seiner Stirn, sie gehört mit dazu. Letztendlich hatte er keinen Beweis, daß der Überfall in Martens Büro wirklich Joana gegolten hatte und nicht ihm. Schließlich hatte der Indio zweimal versucht, ihn umzubringen, nicht sie.

Er verscheuchte den Gedanken und lief noch schneller, wobei er die irritierten Blicke ignorierte, die ihm von Hafenarbeitern und Passanten zugeworfen wurden. Indiana war sich darüber im klaren, daß er auffallen mußte. Seine Kleidung war völlig zerrissen und voller Schmutz und Blut, und sein Gesichtsausdruck war wahrscheinlich auch alles andere als heiter.

Er näherte sich der Kaimauer und damit dem ersten Pier, warf einen raschen Blick in die Runde und hetzte weiter. Sein Mut sank, als er sah, wie viele Schiffe hier im Hafen lagen. Es waren nur drei oder vier wirklich große, aber dafür Dutzende, wenn nicht Hunderte von kleinen Yachten, Kähnen und Motor- und Ruderbooten, und auf jedem einzelnen konnten sich der Indio und Joana mühelos verstecken und ihn einfach an sich vorüberlaufen lassen.

Doch er hatte gar keine andere Wahl, als blindlings weiterzusu-chen. Wenn er Joana verlor, dann war alles aus. Kuba war groß, entschieden zu groß, um einen einzelnen Indio dort aufzuspüren, noch dazu, wenn dieser sich nicht aufspüren lassen wollte.

Aber er hatte auch diesmal Glück. Er rannte noch ein paar hundert Meter, und sein Atem wurde bereits knapp, als er plötzlich stehenblieb. Er sah Joana und den riesigen, schwarzhaarigen Indio.

Sie befanden sich in einem kleinen Ruderboot, das genau in diesem Moment vom Kai ablegte, nicht einmal besonders weit von Indiana entfernt. Joana lag vornübergesunken im Bug des Schiffchens — wahrscheinlich hatte der Indio sie gefesselt oder bewußtlos geschlagen —, während der Maya pullte, daß sich das Schiffchen fast mit der Geschwindigkeit eines Motorbootes bewegte. Indiana versuchte, seinen Kurs in Gedanken zu verlängern und fuhr überrascht zusammen, als er sah, wohin er sich wandte.

Es war kein Schiff, sondern ein kleines Flugzeug, das auf zwei gewaltigen Schwimmkufen im Hafenbecken dümpelte. Der Motor lief bereits, und hinter der Kabinenscheibe konnte Indiana einen verzerrten Schatten wahrnehmen.

Er rannte los, so schnell er konnte. Er wußte, daß er keine Chance hatte, den Indio auf dem Wasser einzuholen. Selbst wenn er innerhalb von Sekunden ein Motorboot gefunden hätte, hätte der Lärm den Maya aufgeschreckt, und Indianas erste Erfahrungen aus dem Faustkampf mit diesem Riesen waren nicht derart, daß er Lust auf eine zweite Runde hatte. Aber es gab einen schmalen Landungssteg, der bis auf dreißig oder vierzig Meter an die Position des Wasserflugzeugs heranreichte, aber so lag, daß der Mann hinter dem Steuer ihn kaum einsehen konnte.

Indiana raste los, vergrößerte sein Tempo noch einmal und stieß sich mit einem gewaltigen Satz ab, als er das Ende des Steges erreicht hatte. Mit einem eleganten Hechtsprung landete er im Wasser, tauchte unter und legte gute zehn oder fünfzehn Meter unter Wasser zurück, bis er prustend wieder auftauchte und mit raschen, kraftvollen Zügen zu schwimmen begann. Das Ruderboot hatte sich auf der anderen Seite dem Wasserflugzeug jetzt auf ungefähr die gleiche Distanz genähert. Er hatte keine Ahnung, ob man ihn bereits entdeckt hatte oder nicht, aber darauf mußte er es einfach ankommen lassen. Indiana atmete noch einmal tief ein, tauchte unter und legte den Rest der Strecke abermals unter Wasser zurück.

Mit kreischenden Lungen und klopfendem Herzen tauchte er zwischen den Kufen der Cessna wieder auf, rang einen Moment würgend nach Luft und streckte die Hand aus. Seine Finger fanden festen Halt an einem der Schwimmkörper, während hinter ihm das Ruderboot mit einem dumpfen Laut gegen die andere Kufe prallte. Indiana hörte Worte in einer ihm unverständlichen Sprache und dann ein rauhes Lachen. Entdeckt hatte man ihn also offensichtlich noch nicht. Wenigstens hoffte er, daß das Lachen nicht der Tatsache seines Hierseins galt …

Vorsichtig arbeitete er sich auf die Oberseite des Schwimmkörpers hoch, sah sich noch einmal um und richtete sich auf, so gut er konnte. Die Tür auf der linken Seite der Cessna war geschlossen, aber nicht verriegelt. Ganz behutsam zog Indiana sich hoch, warf einen raschen Blick durch das Fenster ins Innere der Maschine und sah, daß der Pilot sich auf der anderen Seite durch die geöffnete Tür herabgebeugt hatte, um eine sich heftig wehrende und um sich schlagende Joana in die Kabine zu ziehen.

Mit einem Ruck riß er die Tür auf und schwang sich ins Innere des Flugzeuges. Der Pilot richtete sich überrascht auf und drehte den Kopf — freundlicherweise ganz genau im richtigen Moment und im richtigen Winkel, daß Indianas Faust sein Kinn mit aller Kraft treffen konnte.

Der Mann verdrehte die Augen und brach lautlos zusammen. Gleichzeitig ließ er Joana los, die mit einem spitzen Schrei wieder nach hinten kippte.

Indiana warf sich über den Sitz und den reglosen Piloten, ergriff im letzten Moment Joanas Hand und zog sie mit einem derben Ruck wieder in die Höhe und halbwegs in die Kabine hinein. Der Indio unten im Boot rief irgend etwas, aber seine Tonlage verriet Indiana, daß er noch gar nicht mitbekommen hatte, was überhaupt geschah. Während Joanas Augen groß vor Staunen wurden, legte Indiana den Zeigefinger warnend auf die Lippen und zerrte sie hastig ganz in die Kabine hinein.

Einen Augenblick später erschien eine gewaltige Hand an der Unterkante der Flugzeugtür und klammerte sich fest, dann eine zweite und dann ein Paar ehrfurchtgebietend breite Schultern, über denen ein braungebranntes Aztekengesicht mit schwarzem Haar thronte.

Indiana placierte seinen rechten Stiefelabsatz zielsicher genau eine Handbreit unter diesem schwarzen Haar und hörte zufrieden, wie das Nasenbein des Indios unter dieser groben Behandlung nachgab. Der Maya brüllte vor Schmerz und Wut, riß instinktiv beide Hände ans Gesicht und kapierte einen Sekundenbruchteil zu spät, daß er keine dritte hatte, um sich damit festzuhalten. Hilflos kippte er nach hinten und verschwand mit einem gewaltigen Platsch im Wasser.

Indiana zerrte Joana hastig vollends zu sich hinein, warf die Tür zu und legte den Riegel um. Fast in der gleichen Bewegung fuhr er herum, beugte sich über den bewußtlosen Piloten und hievte ihn ächzend und mit letzter Kraft auf der anderen Seite ins Freie. Auch bei diesem Mann handelte es sich um einen Indio. Und er ähnelte dem, der Joana entführt hatte, wie ein eineiiger Zwilling, nur daß er keinen Maßanzug, sondern einen einfachen blauen Overall trug. Er schien Tonnen zu wiegen. Es kostete Indiana jedes bißchen Kraft, den reglosen Körper aus der Kabine herauszuschieben und zu — schubsen, bis er sich zu seinem Bruder ins Wasser des Hafenbeckens gesellte. Mit einer letzten Anstrengung zog er auch die linke Kabinentür zu und verriegelte sie.

«Das war knapp«, sagte er keuchend, während er sich zu Joana umwandte.»Verdammt, was fällt dir ein, mir nachzuspionieren? Um ein Haar hätten sie dich erwischt!«

Joana schien ihm gar nicht zuzuhören. Nach vorn gebeugt und mit konzentriertem Gesichtsausdruck saß sie hinter dem Steuer des Flugzeuges und musterte die Instrumente.

«Was tust du da?«fragte Indiana unwillig.»Wir müssen weg. Die beiden kommen gleich zurück.«

Er machte sich nichts vor. Er hatte zwar die Türen verriegelt, aber der Indio war durchaus stark genug, um sie einfach aus dem Rahmen zu reißen. Und seine Aussichten, ihn ein zweites Mal zu überraschen, waren alles andere als gut.

«Hör mit dem Unsinn auf!«sagte er, als Joanas Finger über die Kontrollen der Cessna zu huschen begannen. Joana reagierte auch jetzt nicht auf seine Worte. Aber ihr Gesichtsausdruck hellte sich plötzlich auf. Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, beugte sie sich vor, betätigte rasch hintereinander einige Schalter und Hebel und legte beide Hände auf das Steuerruder.

«Was tust du da?«wiederholte Indiana seine Frage. In seiner Stimme war ein leichter, fast hysterischer Unterton.»Du hast doch nicht etwa vor …«

Aber genau das hatte sie. Und sie tat es.

Der Motor der Cessna brüllte auf, als Joana den Gashebel nach vorn schob und gleichzeitig am Steuer drehte. Das Flugzeug setzte sich schwerfällig in Bewegung, vollführte einen zitternden Halbkreis und entfernte sich, immer schneller werdend, von den beiden Mayas, die heftig hinter ihnen im Wasser planschten.

Indianas Zorn verflog wie weggeblasen. Und plötzlich konnte er sich eines schadenfrohen Grinsens nicht mehr erwehren. Auf die Idee, den beiden einfach mit Hilfe ihres eigenen Flugzeuges davonzufahren, hätte er auch selbst kommen können.

Schadenfroh beobachtete er, wie die beiden wütend im Wasser die Fäuste schüttelten. Aber das Flugzeug war mittlerweile schon gut dreimal so schnell wie auch der schnellste Schwimmer, und es beschleunigte immer weiter.

«Mein Kompliment«, sagte er.»Das war keine schlechte Idee. «Er sah sich suchend um und deutete auf einen Punkt auf der anderen Seite des Hafens, vielleicht drei oder vier Meilen entfernt. Der dünne weiße Streifen dort drüben mußte ein Sandstrand sein, an dem sie bequem an Land gehen und aus dem Flugzeug steigen konnten.

«Dort drüben«, sagte er.»Bis sie dorthin geschwommen sind, sind wir schon am anderen Ende der Stadt.«

Joana ignorierte ihn auch jetzt, und zu Indianas Entsetzen machte sie auch keinerlei Anstalten, die Nase des Flugzeuges auf den Strand auszurichten, sondern drehte die Cessna im Gegenteil weiter, bis vor ihnen nur noch das offene Meer lag — und schob den Gashebel mit einem Ruck bis zum Anschlag durch.

Indiana schrie erschrocken auf, als die Cessna einen regelrechten Satz machte und mit unerwartet hoher Geschwindigkeit durch das Wasser zu pflügen begann.»Bist du wahnsinnig geworden!?«kreischte er.»Was soll denn das?«

Zum ersten Mal sah Joana ihn an. Sie wirkte blaß und sehr erschrocken, aber sie lächelte trotzdem. Sie antwortete auch jetzt nicht, aber das, was sie tat, beantwortete Indianas Frage sehr viel besser, als sie selbst es gekonnt hätte: Das Flugzeug wurde immer schneller, und plötzlich begann sie sacht, das Steuerruder an sich heranzuziehen. Voller Entsetzen registrierte Indiana, wie der Rumpf der Cessna zu vibrieren begann, sich aus dem Wasser hob, nach ein paar Metern mit einem heftigen Ruck wieder zurückklatschte — und dann vollends abhob.

«Das ist doch nicht dein Ernst«, brüllte er.»Hör sofort mit diesem Unsinn auf, Kind.«

Aber Joana zog ganz im Gegenteil die Nase des Flugzeuges immer höher. Unter ihnen waren plötzlich fünf Meter Luft, dann zehn, fünfzig, hundert … Und schließlich lag der Hafen wie eine Spielzeuglandschaft unter dem Flugzeug.

Joana legte die Cessna in eine sanfte Linkskurve, ging wieder etwas tiefer und flog eine weitgezogene Schleife über das gesamte Hafenbecken, ehe sie den Propeller in südliche Richtung ausrichtete und ein wenig Gas zurücknahm. Aus dem zornigen Brüllen des Motors wurde ein gleichmäßiges Summen, und die Maschine hörte auf zu zittern und zu bocken.

«Du … kannst so ein Ding fliegen?«vergewisserte sich Indiana.

Joana nickte.»Ich habe keinen Pilotenschein, wenn du das meinst«, sagte sie,»aber mein Vater war ein begeisterter HobbyFlieger. Ich war elf Jahre alt, als ich das erste Mal hinter dem Steuer einer Maschine saß«, fuhr Joana ungerührt fort.»Und mit fünfzehn habe ich meine erste Landung geschafft.«

Indiana blickte sie ungläubig an.

«Sagte ich nicht, daß du mich noch brauchen wirst?«fragte Joana.

Indiana schüttelte grimmig den Kopf.»Nein«, knurrte er,»das sagtest du nicht.«

«Dann tue ich es jetzt«, antwortete Joana fröhlich.»Also, so wie ich die Sache sehe, willst du deinen Freund José einholen, um ihm die eine oder andere Frage zu stellen.«

«Stimmt«, sagte Indiana ärgerlich.»Und vielleicht auch, um ihm den einen oder anderen Knochen zu brechen. Aber du hast es ganz richtig gesagt: Ich will das tun.«

«Aber du weißt nicht, wo er ist?«vermutete Joana.

Indiana blickte sie böse an und nickte abermals.

«Siehst du«, sagte Joana fröhlich.»Ich weiß es.«

«Dann sag es mir«, antwortete Indiana,»und dann bring diese verdammte Kiste wieder nach unten. Wir sind jetzt weit genug vom Hafen entfernt.«

Joana schüttelte den Kopf, warf einen Blick auf die Instrumente und schüttelte noch einmal und heftiger den Kopf.»Das wäre ziemlich dumm«, sagte sie.»Die Tanks sind voll, der Treibstoff reicht allemal.«

«Wozu?«fragte Indiana mit einem sehr unguten Gefühl.

«Um nach Kuba zu kommen«, antwortete Joana.»Wenn wir nicht in einen Sturm geraten oder einen Motorschaden bekommen, dann sind wir zwei Tage vor deinem Freund dort.«

Indiana atmete tief ein.»Jetzt hör mir mal zu, Kleine«, sagte er, so ruhig und ernst er konnte.»Das hier ist kein Spaß. Diese Männer wollten mich umbringen, und sie werden keine Sekunde zögern, auch dich zu töten, wenn es sein muß.«

«Ich weiß«, sagte Joana.

«Aber du weißt anscheinend nicht genug über mich«, antwortete Indiana ernst.»Ich werde José finden und ihn fragen, was das alles zu bedeuten hat. Aber das werde ich allein tun, hast du das verstanden?«

«Sicher«, antwortete Joana.»Wenn du darauf bestehst, dann lande ich und lasse dich von Bord. Aber du wirst verdammt lange suchen müssen, um deinen Freund zu finden. Und vor allem wirst du nach Kuba schwimmen müssen. Ich glaube nicht, daß du ihn findest, wenn er erst einmal von Bord des Schiffes ist.«

«Warum überläßt du das nicht mir?«knurrte Indiana böse.»Ich werde ihn schon irgendwo auftreiben.«

«Sicher«, nickte Joana.»Aber ich weiß, wohin er will — du auch?«

Indiana starrte sie eine geschlagene Minute lang zornig an.»Das ist Erpressung«, sagte er schließlich.

«Ich weiß«, antwortete Joana fröhlich.