158192.fb2 Indiana Jones Die Gefiederte Schlange - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

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Hacienda de la Toiro

Da Kuba nicht sehr groß und die Hacienda nicht allzuweit von Havanna entfernt war, hätte der Flug dorthin normalerweise nur wenig mehr als eine Stunde gedauert. Aber Joana hatte keineswegs übertrieben, als sie gesagt hatte, es wäre lange her, daß sie das letzte Mal dort gewesen war — sie verflog sich drei- oder viermal, und obwohl sie es nicht zugab, las Indiana an ihrem Gesichtsausdruck deutlich ab, daß sie einer Verzweiflung nahe war. Dazu kam, daß sich der Treibstoffanzeiger der Cessna langsam, aber unerbittlich der Null näherte. Als sie die Hacienda schließlich fanden, flogen sie bereits auf Reserve.

Joana ließ die Maschine tiefer sinken, bis sie nurmehr wenige Meter über die Wipfel der Bäume hinwegglitten, und flog eine weitgezogene Schleife über das riesige Anwesen. Die Hacienda bestand aus einem großen, U-förmig angelegten Gebäudetrakt in spanischem Stil: hellrote Ziegeldächer, die sich über weiß getünchten Wänden und überreichlich vorhandenen Säulengängen und Arkaden spannten. Etliche hundert Meter nördlich davon erhob sich die Ruine einer alten Kirche, deren Turm Indiana selbst aus der Höhe viel zu wuchtig und schwer erschien: ein festungsähnliches Gebilde aus groben Felsblöcken, das von einer Reihe fast mannshoher Zinnen gekrönt wurde. Wahrscheinlich ein Überbleibsel aus der Kolonisationszeit dieser Insel.

«Wo ist denn der Fluß, von dem du gesprochen hast?«erkundigte er sich. Sosehr er sich auch anstrengte, er sah keinen Fluß.

Joana deutete auf ein dünnes, glitzerndes Rinnsal, das sich in zahllosen Kehren und Windungen durch die Weiden und Wiesen schlängelte, die die Hacienda umgaben. Indiana ächzte.»Das ist ein Fluß?«

«Als was würdest du es bezeichnen?«gab Joana achselzuckend zurück.

«Als Bach!«erwiderte Indiana heftig.»Allerhöchstens!«

«Das ist Ansichtssache.«

«Du willst doch nicht etwa darauf landen?«erkundigte sich Indiana nervös.

«Und ob ich das will«, antwortete Joana.»Es sei denn, du bestehst darauf, daß wir zur Küste zurückfliegen. Wir werden allerdings nicht allzuweit kommen«, fügte sie mit einer Kopfbewegung auf die Treibstoffkontrolle hinzu.»In spätestens fünf Minuten ist der Sprit zu Ende.«

Indiana blickte nervös aus dem Fenster. Von hier oben aus betrachtet, sah der Bach nicht einmal wie ein Bach aus, sondern allerhöchstem wie ein Rinnsal: vielleicht knietief und einen Meter breit. Mit einem Wasserflugzeug landen? Darauf! Lächerlich!

Aber Joana hatte natürlich recht. Der Treibstoff würde nicht mehr annähernd bis zur Küste zurück reichen.»Dann versuch es«, flüsterte er ergeben.»Mehr als den Hals brechen können wir uns ja nicht.«

Joana warf ihm einen flüchtigen Blick zu und lächelte.»Dein Vertrauen ehrt mich«, sagte sie.»Aber keine Sorge. Ich bin schon auf ganz anderen Pfützen gelandet.«

Sie machte allerdings keine Anstalten, diese Behauptung unter Beweis zu stellen, sondern legte die Cessna im Gegenteil in eine scharfe Linkskurve, um eine weitere Schleife über dem Anwesen zu fliegen.

«Worauf wartest du noch?«erkundigte sich Indiana nervös.»Ich denke, unser Treibstoff ist knapp?«

Joana zuckte mit den Achseln, biß sich auf die Unterlippe und ließ die Maschine so weit durchsacken, daß sie fast den Dachfirst der Hacienda berührt hätte.»Ich weiß nicht …«, murmelte sie.»Irgend etwas stimmt hier nicht.«

Indiana blickte neugierig aus dem Fenster und richtete sich hastig wieder auf, als er sah, wie dicht der Boden unter den Kufen der Cessna entlangjagte.»Was?«

Abermals zuckte Joana mit den Schultern.»Ich weiß es nicht«, gestand sie.»Es ist so still. Wo sind sie alle? Hier leben an die hundert Menschen. Von den fünftausend Rindern abgesehen, die Professor Norten hält.«

Indiana beugte sich abermals vor. Joana hatte recht — das gewaltige Anwesen lag wie ausgestorben unter ihnen, obwohl die Cessna, die im Tiefflug zum dritten Mal über das Dach hinwegjagte, genug Lärm machte, um selbst Tote aufzuwecken. Und nicht nur das menschliche Leben schien das Anwesen verlassen zu haben — unter ihnen rührte sich im wahrsten Sinne des Wortes nichts. Es wurde beinahe unheimlich.

«Vielleicht sind sie alle weggegangen«, murmelte er.»Zur Kirche, oder sonstwohin.«

Der Blick, den Joana ihm aus den Augenwinkeln zuwarf, machte deutlich, was sie von dieser Erklärung hielt. Aber sie sagte nichts mehr dazu, sondern ließ die Maschine noch einmal ein wenig höher steigen und setzte dann zur Landung an.

Indiana klammerte sich instinktiv fester an seinen Sitz, als das schmale blaue Band des Baches näherrückte. Wenn es auch nicht einmal halb so kräftig schien, wie ihm lieb gewesen wäre.

Es war tatsächlich nur ein Rinnsal — zwar nicht einen, wie er geglaubt hatte, aber doch allerhöchstens zweieinhalb Meter breit und wahrscheinlich nur knietief. Auf Joanas Gesicht erschien ein angespannter Zug, und ihre Hände schlossen sich fester um den Steuerknüppel der Cessna. Vorsichtig nahm sie Gas weg, ließ die Maschine tiefer sinken und schloß zu Indianas Entsetzen die Augen; einen Sekundenbruchteil, bevor die Schwimmkufen das Wasser berührten.

Der vernichtende Aufprall, auf den er gewartet hatte, kam nicht. Die Cessna begann für einen Moment bedrohlich zu schlingern und zu hüpfen, und zwei- oder dreimal schlug etwas wuchtig von unten gegen die Schwimmkufen, aber das Flugzeug verlor immer mehr an Geschwindigkeit und hörte schließlich auf zu rütteln und zu bocken. Joana atmete erleichtert auf.»Das wäre geschafft!«Indiana blinzelte mißtrauisch zu ihr hinüber.»Ich denke, du bist schon auf ganz anderen Pfützen gelandet?«Joana nickte heftig.»Sicher. Auf breiteren. «Indiana verlängerte im Geiste die Liste der Dinge, über die er ein ernsthaftes Wort mit ihr reden mußte, um einen weiteren Punkt und verwendete den Rest seiner Energie dazu, sich weiter an seinem Sitz festzuklammern. Beiläufig fragte er sich, wie Joana das Flugzeug auf diesem Bach wieder starten wollte, zog es aber vor, nicht weiter über diese Frage nachzudenken, da er das sichere Gefühl hatte, daß ihm die Antwort nicht gefallen würde. Das Flugzeug bewegte sich immer noch sehr schnell, verlor jetzt aber zusehends an Geschwindigkeit. Als sie sich dem Hauptgebäude näherten, glitt es nur noch mit dem Tempo eines Ruderbootes über das Wasser. Knapp hundert Meter vor dem Anwesen kam es völlig zum Stillstand, und Joana schaltete den Motor ab. Indiana schickte in Gedanken ein Stoßgebet zum Himmel, öffnete die Tür und kletterte mit zitternden Knien auf die Schwimmkufe hinaus. Sein Herz machte einen neuerlichen, erschrockenen Hüpfer, als er in das glasklare Wasser des Baches hinabblickte und sah, daß er tatsächlich nur knietief war. Und so schmal, daß er nur einen Schritt machen mußte, um das Ufer zu erreichen.

Er bekam dann doch noch nasse Füße, denn er war auf der falschen Seite aus der Maschine gestiegen und mußte um die Maschine herumgehen und durch den Bach waten. Aber es war so warm, daß seine Hosen wahrscheinlich schon wieder trocken sein würden, ehe sie das Haus erreichten.

«Willst du die Maschine nicht festmachen?«fragte er, als auch Joana aus der Cessna kletterte.

«Wozu?«Joana schüttelte den Kopf.»Glaubst du, daß sie jemand stiehlt?«Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.»Kaum. Und selbst wenn — es ist völlig unmöglich, auf dieser Pfütze zu starten. «Indiana verzichtete auf eine Antwort und schenkte ihr nur einen unheilschwangeren Blick. Als er sich zum Haus umwenden wollte, glaubte er, eine Bewegung am Waldrand wahrzunehmen. Aber als er ein zweites Mal und genauer hinsah, da lag der Busch so still und regungslos vor ihm wie alles hier. Wie ausgestorben. Nicht einmal ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen. Und diese Stille folgte ihnen, als sie sich dem Haus näherten. Es war fast unheimlich — die Hacienda lag in einer beinahe paradiesischen Landschaft, an zwei Seiten eingefaßt vom Busch, an den beiden anderen an schier endlose Weiden und Wiesen grenzend. Aber all diese Wiesen und Weiden waren leer. Sie hörten nicht den mindesten Laut. Kein Vogel sang, kein Hund kam ihnen kläffend entgegen, nirgends regte sich etwas. Joana hatte recht gehabt, dachte Indiana alarmierend. Irgend etwas stimmte hier nicht. Sein Blick glitt nervös über die Gebäudefront. Erst jetzt fiel ihm auf, daß sämtliche Läden vorgelegt waren.

Das hieß — nicht alle. Einige standen einen Spaltbreit offen, und als er genauer hinsah, erkannte er ein gutes halbes Dutzend Gewehrläufe, das drohend auf Joana und ihn gerichtet war.

Abrupt blieb er stehen.

«Was hast du?«fragte Joana aufgeschreckt.

Indiana deutete zum Haus.»Frag mich lieber, was sie haben«, sagte er.»Oder ist das vielleicht das, was Professor Norten unter einer herzlichen Begrüßung versteht?«

Joana sah ihn irritiert an, blickte dann mit gerunzelter Stirn zum Haus hinüber und machte eine hilflose Handbewegung. Offensichtlich sah sie gar nicht, was Indiana ihr hatte zeigen wollen.»Ich verstehe nicht ganz, was …«

Die Tür zum Hauptgebäude flog auf, und eine Gestalt in einem weißen Leinenanzug und mit Panamahut trat einen halben Schritt heraus und winkte ihnen hektisch zu.

«Seid ihr lebensmüde, ihr beiden?«schrie sie.»Lauft, bevor sie euch erwischen!«

Indiana fand nicht einmal Zeit, sich darüber zu wundern, daß die Gestalt englisch gesprochen hatte, denn in diesem Moment erwachte der Waldrand schlagartig zum Leben. Ein, zwei Dutzend schattenhafter, geduckter Gestalten traten zwischen den Büschen hervor, und mit einem Male war die Luft voller schwirrender Schatten. Ein winziger Pfeil verfehlte Indiana nur so knapp, daß er spüren konnte, wie die Federn an seinem Ende seine Wange streiften, ein zweiter bohrte sich in die Krempe seines Filzhutes und blieb zitternd stecken.

Indiana ergriff blitzschnell Joanas Hand und rannte hakenschlagend los. Rings um sie herum regneten weitere Pfeile zu Boden, und wahrscheinlich hätten sie es niemals bis zum Haus geschafft, hätten die Männer hinter den Fenstern nicht in diesem Moment das Feuer aus ihren Gewehren eröffnet. Der Pfeilregen hörte nicht auf, nahm aber an Intensität ab, während sich Indiana und Joana mit verzweifelten Sprüngen dem Haus näherten. Mehrere der kleinen, gefiederten Todesboten verfehlten sie im wahrsten Sinne des Wortes um Haaresbreite. Aus den Augenwinkeln sah er, wie zwei der Angreifer mit gewaltigen Sprüngen auf sie zurannten und plötzlich zurückprallten, als die Männer im Haus ihr Gewehrfeuer auf sie konzentrierten. Wie durch ein Wunder wurden sie nicht getroffen, mußten sich aber hastig in den Schutz des Waldes zurückziehen.

Indiana warf sich mit einem verzweifelten Satz durch die Tür, wobei er Joana einfach mit sich zerrte, so daß sie beide gemeinsam den Mann mit dem Panamahut von den Füßen rissen, der ihnen die Arme entgegengestreckt, es aber nicht gewagt hatte, das Haus zu verlassen. Aneinandergeklammert schlitterten sie ein Stück weit über die spiegelblank gebohnerten Fliesen, während jemand hinter ihnen wuchtig die Tür zuwarf und einen Riegel vorlegte. Ein Geräusch wie das Trommeln von Hagelkörnern erklang; eine ganze Salve der kleinen Blasrohrgeschosse, die sich in das Holz der Tür bohrte.

Indiana befreite sich mühsam aus dem Durcheinander von Armen, Beinen und Körpern, in dem sie zu Boden gestürzt waren. Vollkommen verwirrt und mit brummendem Schädel sah er sich um. Joana hockte neben ihm auf den Knien und schien die Situation so wenig zu verstehen wie er, und der Mann mit dem weißen Panamahut hatte selbigen verloren, dafür aber beide Hände vor das Gesicht geschlagen, das noch unsanfter als Indianas Schädel auf die Fliesen geprallt war. Ein halbes Dutzend weiterer Gestalten in weißen Hosen, ärmellosen, weißen Hemden und mit südamerikanisch geschnittenen Gesichtern stand an den verbarrikadierten Fenstern und gab ab und zu einen Schuß ab. Aber offensichtlich gab es draußen nicht mehr sehr viele Ziele; das Feuer wurde immer weniger, und das Trommeln der Pfeile gegen Tür und Fenster hatte vollständig aufgehört. Die Angreifer zogen sich zurück, als klar wurde, daß ihre Opfer entwischt waren.

Aber vielleicht waren sie das gar nicht, dachte Indiana düster. Vielleicht waren sie nicht entkommen, sondern freiwillig in genau die Falle gelaufen, in der sie sie hatten haben wollen.

«Alles in Ordnung?«wandte sich Indiana an Joana. Das Mädchen nickte, während der Mann ohne Panamahut Indiana einen zornigen Blick über seine Hände hinweg zuwarf, die er noch immer gegen Mund und Nase preßte. Der schmale Rest seines Gesichtes, der darüber erkennbar war, kam Indiana bekannt vor, aber er verschwendete im Moment wenig mehr als einen Gedanken darauf, sondern stand auf und trat neben einen der Mexikaner ans Fenster. Der Mann zielte durch einen schmalen Spalt in den Läden auf den Waldrand. Aber er hatte wie alle anderen aufgehört zu schießen. Die schattenhaften Gestalten, die Indiana und Joana gesehen hatten, waren verschwunden. Dort draußen rührte sich nichts mehr.

«Was um alles in der Welt geht hier vor?«fragte Indiana, drehte sich herum — und riß erstaunt die Augen auf.

Joana und der Mann im weißen Leinenanzug hatten sich erhoben, und der Fremde hatte die Hände vom Gesicht genommen, so daß Indiana nicht nur sehen konnte, daß seine Nase heftig blutete, sondern ihn auch erkannte.

«José«, rief er erstaunt.

José blickte ihn finster an, fuhr sich mit der Hand über die Nase und sah dann vorwurfsvoll auf seinen Handrücken hinab, auf dem rotes Blut glänzte.»Es freut mich, daß du mich wenigstens noch erkennst«, sagte er.»Schlägst du Leuten, die dir gerade das Leben gerettet haben, eigentlich immer zum Dank den Schädel ein?«

«Es tut mir leid«, sagte Indiana. Dann deutete er über die Schulter zurück auf das Fenster.»Was geht dort draußen vor? Was waren das für Männer?«

«Ich habe keine Ahnung«, antwortete José und zog ein Taschentuch aus der Jacke, wobei er eine Spur häßlicher roter Flek-ke auf dem weißen Stoff hinterließ.»Und bevor du fragst — das war die Antwort auf beide Fragen«, fuhr er fort, während er mit sehr wenig Erfolg versuchte, mit dem Taschentuch den Blutstrom aus seiner Nase zu stillen.

«Wie kommst du überhaupt hierher?«fragte Indiana.»Ich denke, du bist an Bord dieses Schiffes?«

«Das solltest du auch denken«, antwortete José und preßte das zusammengerollte Taschentuch so fest gegen seine Nase, daß Indiana seine Worte kaum noch verstand.»Verdammt, was tust du hier? Wir haben auch ohne dich schon genug Ärger!«

«Und du kriegst gleich noch sehr viel mehr davon«, fügte Indiana drohend hinzu,»wenn ich nicht eine Menge Antworten auf eine Menge Fragen bekomme, alter Freund.«

«Joana!«

Indiana und Swansons Tochter drehten sich gleichzeitig um. Unter einer Tür am anderen Ende des Raumes war ein grauhaariger Mann erschienen, der auf die gleiche Weise wie José gekleidet war: weißer Leinenanzug und Panamahut. Aber dazu trug er einen breiten Patronengurt, aus dessen Halftern die perlmuttbesetzten Griffe zweier langläufiger Colts ragten, hielt in der linken Hand eine Maschinenpistole und in der rechten eine Machete mit einer gut eineinhalb Meter langen Klinge. Zusammen mit seinen grauen Schläfen, dem dünnen, sorgsam gestutzten Oberlippenbart und dem durchdringenden Blick seiner Augen verlieh ihm diese martialische Aufmachung etwas von einem Pistolero, der sich im Jahrhundert geirrt hat; sehr wenig von einem Museumsdirektor. Aber das mußte er wohl sein, denn Joanas Gesicht hellte sich bei seinem Anblick schlagartig auf, und sie eilte dem Grauhaarigen mit ausgebreiteten Armen entgegen.

«Onkel Norten!«rief sie.»Gott sei Dank! Dir ist nichts passiert!«

Sie umarmte Norten so heftig, daß er wankte und um ein Haar die Machete fallen gelassen hätte. Der Museumsdirektor ließ ihre stürmische Begrüßung eine halbe Minute lang über sich ergehen, dann löste er sich mit sanfter Gewalt aus ihrer Umarmung und schob sie ein Stück weit von sich fort.»Joana?«fragte er noch einmal, während er das Mädchen mit einer Mischung aus Erleichterung und Staunen von Kopf bis Fuß musterte.»Bist du es wirklich?«Joana nickte so heftig, daß ihr kurzgeschnittenes blondes Haar flog.»Natürlich«, antwortete sie.»Erkennst du mich denn nicht?«Norten nickte zögernd.»Doch«, sagte er.»Aber du bist … groß geworden.«

«Es ist ein paar Jahre her, daß wir uns gesehen haben«, erwiderte Joana.

Norten blickte sie noch einen Moment lang an, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Indiana zu.»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

«Mein Name ist Jones«, antwortete Indiana. Sein Blick wanderte verwirrt zwischen Norten, José und den bewaffneten Männern am Fenster hin und her.

«Jones? Dr. Indiana Jones?«

«Das ist richtig«, antwortete Indiana.»Sie kennen mich?«

«Greg hat sehr viel von Ihnen erzählt«, antwortete Norten. Aber er zögerte eine halbe Sekunde, bevor er es tat, und etwas im Klang seiner Stimme verriet Indiana, daß Swanson offensichtlich nicht der einzige gewesen war, aus dessen Mund Norten seinen Namen gehört hatte. Und daß sich seine Begeisterung, ihn hier zu sehen, in Grenzen hielt — vorsichtig ausgedrückt.

«Was geht hier vor?«fragte er.»Was sind das für Männer dort draußen? Wieso … belagern sie Ihre Ranch?«

«Hacienda«, antwortete Norten geistesabwesend.»Man nennt es Hacienda hier auf Kuba, Dr. Jones. Und um Ihre Frage zu beantworten: Ich weiß es nicht. Sie tauchten gestern in aller Frühe auf und fingen an, auf alles zu schießen, was sich bewegte. Und seither sitzen wir hier fest.«

«Gestern morgen?«Indiana warf einen zweifelnden Blick in Josés Richtung.

«Eine Stunde, nachdem wir angekommen sind«, sagte José, und Indiana spürte, daß auch das eine Lüge war. Aber bevor er weiter darauf eingehen konnte, drehte sich José um und ging auf die Treppe zu.

«José!«rief Indiana.»Bleib gefälligst hier. Wir sind noch nicht fertig miteinander.«

José blieb tatsächlich stehen, drehte sich aber nicht um, sondern warf ihm nur einen zornigen Blick über die Schulter hinweg zu.»Ich beantworte dir deine blöden Fragen ja«, maulte er.»Aber vielleicht gestattest du, daß ich mich erst einmal um meine Verletzung kümmere. Es sei denn, du bestehst darauf, daß ich verblute. Dann könnte ich dir allerdings nicht mehr allzu viele Fragen beantworten.«

Indiana schluckte die ärgerliche Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, schickte José noch einen bösen Blick hinterher und folgte Joana und ihrem Onkel in den weitläufigen Wohnraum, der sich an die Halle anschloß. Auch hier drinnen herrschte ein schattiges Halbdunkel, denn vor sämtlichen Fenstern waren die Läden vorgelegt. Ein weißgekleideter Mexikaner und ein hünenhafter Schwarzer, der nur eine verschossene alte Armeehose trug, standen davor und spähten aufmerksam hinaus.

Norten legte die Machete und seine Maschinenpistole achtlos auf einen kleinen Tisch neben der Tür, wies auf eine Sitzgruppe und steuerte selbst eine Ecke neben dem Kamin an, in der sich eine Bar im spanischen Stil befand.»Nehmen Sie Platz, Dr. Jones«, sagte er.»Ich denke, nach dem Schrecken können Sie einen kräftigen Schluck gebrauchen.«

Indiana setzte sich zögernd, und auch erst, nachdem Joana Platz genommen und ihm einen auffordernden Blick zugeworfen hatte.

Jetzt, nachdem die unmittelbare Gefahr überstanden und der Schrecken halbwegs von ihm abgefallen war, begann sich sein Mißtrauen wieder zu regen. Die Geschichte, die José und anschließend Norten ihm erzählt hatten, klang ungefähr so überzeugend wie das Märchen vom Osterhasen. Die beiden wußten sehr wohl, wer diese Männer dort draußen waren. Und erst recht, was sie von ihnen wollten.

Norten schenkte aus einer Karaffe Whisky in zwei Gläser und aus einem lackierten Tonkrug Milch in ein drittes.»Ich habe Ihre Landung beobachtet, Dr. Jones«, sagte er, während er die Gläser auf ein Tablett lud und damit zum Tisch zurückkam.»Das war verdammt gewagt. Aber auch verdammt gekonnt. Meinen Glückwunsch.«

«Das war ich nicht«, sagte Indiana.

Norton stellte das Tablett auf den Tisch und sah ihn irritiert an.»Wer dann?«fragte er, während er sich setzte und sich eines der mehr als zur Hälfte gefüllten Whisky-Gläser nahm. Joana beugte sich rasch vor und griff nach dem zweiten.

«Ich. «In ihren Augen blitzte es schadenfroh, als sie den vorwurfsvollen Blick registrierte, den Indiana dem Tablett zuwarf, auf dem jetzt nur noch das Milchglas stand. Dann nahm sie einen so gewaltigen Schluck Whisky, daß vermutlich selbst Indiana einen Hustenanfall bekommen hätte. Ihr Gesicht verlor schlagartig jede Farbe, und ihre Augen weiteten sich erstaunt. Aber sie gab keinen Ton von sich.

Indiana angelte nach dem Milchglas, nippte daran und machte eine bestätigende Kopfbewegung, während er Joana schadenfroh zulächelte.»Sie sagt die Wahrheit«, sagte er.

«Sie hat dieses Ding geflogen. Ich weiß nicht einmal, wie man den Motor anläßt.«

Nortens Verblüffung war nicht zu übersehen. Aber Indiana war nicht ganz sicher, ob sie seiner Behauptung oder der Schnelligkeit galt, mit der Joana das Whisky-Glas leerte.

«Das war eine Meisterleistung«, sagte er schließlich.»Aber ihr beiden habt trotzdem verdammtes Glück, daß ihr überhaupt noch am Leben seid.«

«Das Gefühl hatte ich in den letzten Tagen mehrmals«, sagte Indiana.»Ich hoffe, es bleibt noch eine Weile so. «Er schlug Joa-na leicht auf die Finger, als sie sich vorbeugen und nach der Karaffe mit dem Whisky greifen wollte, stellte sein eigenes, zu einem Drittel geleertes Milchglas vor sie auf den Tisch und goß sich selbst einen Drink ein, der allerdings kaum halb so groß ausfiel wie der, den Joana hinuntergestürzt hatte.

«Sie behaupten also im Ernst, nicht zu wissen, wer diese Männer sind, oder warum sie Ihre Hacienda belagern?«

«Ich behaupte es nicht, Dr. Jones«, erwiderte Norten konsterniert.»Es entspricht den Tatsachen. «Er bewegte sich ärgerlich in dem schweren, geschnitzten Stuhl, und für den Bruchteil einer Sekunde sah Indiana etwas Kleines, Goldenes an seinem Hals aufblitzen. Die Kette mit dem Quetzalcoatl-Anhänger, von dem Joana gesprochen hatte. Aber bevor er genauer hinsehen konnte, beugte sich Norten vor, und der Anhänger verschwand wieder im Ausschnitt seines Hemdes.»Ich verstehe Ihre Verwirrung, Dr. Jones«, fuhr er fort.»Aber glauben Sie mir — uns allen hier ergeht es nicht anders. Drei meiner Männer wurden getötet, ehe wir überhaupt begriffen, was los war. Und im Grunde verstehe ich es immer noch nicht. Niemand versteht es. Ich habe weder Feinde noch Neider; jedenfalls keine, die mächtig genug wären, so etwas zu tun.«

«Was zu tun?«hakte Indiana blitzschnell nach.

Um ein Haar hätte der Trick funktioniert. Norten setzte zu einer Antwort an, stockte dann aber, beugte sich vor und griff an Indianas Hut.»Das«, sagte er, als er die Hand wieder zurückzog.

In seinen Fingern lag ein kaum zehn Zentimeter langer Pfeil mit drei rot und grün und gelb gestreiften Federn am hinteren Ende. Indiana erinnerte sich erst jetzt wieder, daß das Geschoß in seine Hutkrempe gefahren war.

«Seien Sie vorsichtig damit«, sagte er.

Norten sah ihn stirnrunzelnd an.»Sie wissen, was das ist?«

«Ein Pfeil«, antwortete Indiana überflüssigerweise.»Und wahrscheinlich mit Curare vergiftet.«

«Nicht wahrscheinlich«, verbesserte ihn Norten.»Auf der anderen Seite des Hauses liegen drei meiner Männer, die von diesen Teufelsdingern getroffen wurden. Einer hat nur einen Kratzer abbekommen. Er starb keine dreißig Sekunden später. «Sein Blick wurde fragend, fast lauernd.»Sie scheinen sich gut mit solchen Dingen auszukennen, Dr. Jones.«

«Ich hatte … vor kurzer Zeit Gelegenheit, eingehende Studien zu betreiben«, antwortete Indiana ausweichend.»Curare ist ein südamerikanisches Pfeilgift«, fügte er hinzu,»das normalerweise nicht auf Kuba verwendet wird.«

«Normalerweise laufen auf Kuba auch keine schießwütigen Verrückten herum, die harmlose Landarbeiter umbringen«, gab Norten im gleichen Tonfall zurück.

Die Spannung, die plötzlich zwischen ihnen herrschte, war beinahe greifbar. Nortens Blick wurde eisig, und Indiana konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er spürte, daß Indiana mehr wußte, als er zugab, und ganz offensichtlich dachte er krampfhaft über eine Möglichkeit nach, herauszubekommen, was er tatsächlich wußte. Und Indiana seinerseits spürte immer deutlicher, daß Norton log. Oder ihm zumindest etwas Wichtiges verschwieg.

«Habt ihr versucht, Hilfe zu rufen?«fragte Joana mit schwerer Zunge. Ihre Augen wirkten leicht glasig, und ihr Gesicht hatte sich gerötet. Offensichtlich begann der Whisky, den sie hinuntergestürzt hatte, bereits zu wirken.

Norten nickte betrübt.»Ja. Ich habe zwei Männer losgeschickt. Einen gestern und einen heute morgen.«

«Aber sie sind nicht durchgekommen«, vermutete Indiana. Nor-ten zögerte eine Sekunde.»Ich weiß es nicht«, gestand er.»Es ist ein weiter Weg zu Fuß zur nächsten Hacienda. Aber ich fürchte — nein. Ich werde jedenfalls nicht das Leben eines dritten Mannes aufs Spiel setzen.«

«Wie viele Männer haben Sie hier?«

«Leider nicht annähernd genug«, gestand Norten.»Normalerweise sind es fast hundert. Es ist ein sehr großes Anwesen, müssen Sie wissen.«

«Normalerweise?«

«Ich mußte eine Anzahl Angestellter entlassen«, sagte Norten.»Dieses Anwesen war immer nur so eine Art Hobby von mir. Ein sehr einträgliches Hobby, wie ich zugebe, aber in den letzten zwei, drei Jahren sind die Geschäfte immer schlechter gegangen. Im vergangenen Winter hatten wir eine Milzbrandepidemie, die fast zwei Drittel der Herde vernichtet hat. Fast den gesamten Restbestand habe ich vor drei Tagen zur nächsten Bahnstation treiben lassen, um ihn in Havanna zu verkaufen.«

«Und die Männer, die den Treck begleiteten, sind noch nicht zurück«, vermutete Indiana.

«Nein«, sagte Norten.»Im Augenblick sind wir noch achtzehn Personen hier — zwanzig, Sie und Joana mitgerechnet.«

«Das klingt nicht so, als würden Sie einer Belagerung noch lange standhalten können«, sagte Indiana. Aber Norten schüttelte den Kopf.

«Das müssen wir auch nicht«, sagte er.»Spätestens morgen kommen die Männer zurück, die die Herde weggetrieben haben. Und dann sieht die Situation völlig anders aus.«

«Sie werden sie draußen im Wald überfallen und niedermachen.«

«Unsinn!«sagte Norten heftig.»Überschätzen Sie diese Irren nicht, Dr. Jones. Wir sind hier nicht im Krieg oder in einem Wildwestroman. Es sind nur ein paar Wegelagerer, die vermutlich mitbekommen haben, daß die meisten Männer das Anwesen verlassen haben. Ich schätze, sie haben geglaubt, sie hätten leichtes Spiel mit uns. Sobald sie sich sechzig Männern gegenüber sehen, werden sie schneller verschwinden, als sie aufgetaucht sind.«

«Wegelagerer, die mit Blasrohren schießen?«fragte Indiana zweifelnd.

Norten lächelte humorlos.»Wären Ihnen Maschinenpistolen lieber gewesen, Dr. Jones?«

Ein Geräusch an der Tür hinderte Indiana daran zu antworten. Er drehte sich herum, darauf gefaßt, José zu sehen, der seine blutende Nase endlich versorgt haben mußte und endlich zurückgekommen war. Aber es war nicht José. Es war Anita, seine Frau. Indiana erschrak, als er ihr Gesicht sah. Ihre linke Wange war angeschwollen und das Auge blau und geschlossen. Sie versuchte zu lächeln, als sie ihn erkannte, aber das, was mit ihrem Gesicht passiert war, machte eine Grimasse daraus. Ihr linker Mundwinkel war aufgeplatzt und dick verschorft.

«Um Gottes willen!«sagte Indiana.»Was ist Ihnen passiert?«

«Nichts«, antwortete Anita, entschieden zu hastig, um überzeugt zu klingen.»Ein Unfall. Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müßten. Es sieht schlimmer aus, als es ist.«

Indiana wollte aufstehen, aber Anita winkte hastig ab und ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei zur Bar, um sich etwas zu trinken einzuschütten.»Es ist wirklich nichts, Dr. Jones«, sagte sie.»Unfälle kommen vor.«

«Heißt dieser Unfall zufällig José?«erkundigte sich Indiana grollend.

Anita tat so, als hätte sie diese Frage nicht gehört, schenkte sich ein Glas Wein ein und kam zum Tisch zurück, wobei sie einen respektvollen Bogen um die geschlossenen Fenster schlug.

«Warum hat er Sie geschlagen?«bohrte Indiana weiter.

«Ich glaube nicht, daß dich das etwas angeht, mein Freund«, unterbrach ihn eine Stimme von der Tür her.

Indiana drehte sich verärgert um. José hatte Hemd und Jacke gewechselt, hielt aber immer noch das blutige Taschentuch unter die Nase gedrückt.»Aber du hast dich ja schon immer gern in Dinge gemischt, die dich nichts angehen.«

«Es war wegen der Kette«, vermutete Indiana.»Das warst gar nicht du, der sie mir zurückgeschickt hat.«

José zuckte mit den Schultern, deutete etwas wie die völlig mißlungene Karikatur eines Lächelns an und ließ sich zwischen Anita und Joana auf die Couch fallen.»Möglich«, sagte er.

«Wenn das so ist«, sagte Indiana,»dann geht es mich sehr wohl etwas an. Immerhin bin ich wegen dieser Kette ein paarmal fast umgebracht worden, und Joana hier …«Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Mädchen, das José einen Moment lang aus trüben Augen musterte und dann ungeschickt versuchte, nach der Whisky-Karaffe zu angeln,»… ebenfalls. Ich finde also schon, daß du uns ein paar Erklärungen schuldig bist.«

«Das ist Ansichtssache«, antwortete José.»Wie gesagt — du hast dich ja schon immer gern in Dinge gemischt, die dich nichts angehen. Irgendwann wird deine krankhafte Neugier dich noch einmal den Hals kosten.«

«Vielleicht bist du ja dabei, wenn es passiert«, konterte Indiana und machte eine Geste zum Fenster.»Ich verwette noch einmal denselben Betrag, den du mir beim Pokerspiel abgenommen hast …«

«… und den du mir immer noch schuldest«, sagte José, aber Indiana ignorierte ihn.

«… daß diese Belagerung etwas mit dem Anhänger zu tun hat. Oder genauer gesagt, mit den Anhängern. «Er maß Norten mit einem langen, durchdringenden Blick.»Sie haben auch einen davon, höre ich?«

Norten nickte. Mit Blicken führte er ein stummes Gespräch mit José, und die beiden gaben sich nicht einmal Mühe, dies vor Indiana zu verbergen.»Ja«, sagte er schließlich» Ebenso wie Señor Perez und Miss Swanson. Und Sie, Dr. Jones.«

«Ich fürchte, da muß ich Sie enttäuschen«, sagte Indiana, wobei er sich eines leisen Gefühles von Schadenfreude weder erwehren konnte noch versuchte, es zu verbergen.

Norten sah plötzlich sehr alarmiert aus.»Was meinen Sie damit?«

«Ich meine damit«, antwortete Indiana,»daß Joana ihren Anhänger nicht mehr hat.«

«Wo ist er?!«fragte José und Norten wie aus einem Mund. Und auch Anita blickte Indiana bestürzt an.

Indiana deutete wieder zum Fenster.»Ich schätze, sie haben ihn — wer immer sie sein mögen.«

«Das ist völliger Unsinn«, protestierte Norten.»Wir sind hier auf Kuba und sie …«

«Natürlich nicht die Männer dort draußen«, unterbrach ihn Indiana.»Aber irgend jemand hat sie geschickt. Und der gleiche Irgend jemand hat einen Mann nach New Orleans geschickt, der mich um ein Haar umgebracht hätte und Joana überfallen hat.«

«Soll das heißen, sie haben Ihnen den Anhänger abgenommen?«fragte José, an Joana gewandt.

Joana schwankte leicht auf der Couch hin und her und starrte José aus verschleierten Augen an. Sie schien nicht einmal verstanden zu haben, was er sagte.

«Gib dir keine Mühe«, sagte Indiana.»Du erfährst kein Wort. Es sei denn, du beantwortest zuerst mir einige Fragen.«

«Genau«, lallte Joana mit schwerer Zunge, versuchte nach der Whisky-Karaffe zu greifen und warf dabei das Milchglas um, dessen Inhalt sich über Josés Hosenbeine ergoß.

José sprang halb in die Höhe, ließ sich wieder zurücksinken und warf abwechselnd Joana und Indiana mordlüsterne Blicke zu. Joana kicherte, tat so, als wolle sie das umgestürzte Glas wieder aufheben und griff dann blitzschnell nach dem Whiskyglas des Professors, dessen Inhalt sie hinunterstürzte, ehe Indiana sie daran hindern konnte.

Indiana schüttelte mit einem lautlosen Seufzen den Kopf, sagte aber nichts mehr dazu, sondern wandte sich wieder an José.»Jetzt hör mir mal zu, mein Freund«, sagte er in einer Art und Weise, die das Wort Freund fast zu einer Drohung werden ließ.»So wie es aussieht, sitzen wir im Moment alle im gleichen Boot. Und wenn du meine Meinung hören willst, dann hat dieses Boot bereits ein verdammt großes Leck. Ich schätze, wir brauchen jedes bißchen Glück, das wir kriegen können, um hier lebend hinauszukommen. Warum also erzählst du mir nicht, was es mit diesen Anhängern auf sich hat, und ich erzähle dir, was ich weiß? Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung.«

«Ich glaube nicht, daß Sie irgend etwas von Bedeutung wissen, Dr. Jones«, sagte Norten ruhig.»Wäre es so, dann wären Sie wahrscheinlich nicht hier. Ich möchte sogar sagen, ich hoffe, daß Sie nichts wissen. Um Ihretwillen. Diese Anhänger sind gefährlich. «Er lächelte flüchtig und vollkommen humorlos.»Leute, die sie über längere Zeit besitzen, entwickeln eine fatale Neigung, auf unerquickliche Weise ums Leben zu kommen.«

«Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Indiana böse.»Ich frage mich nur, wieso.«

«Fragen Sie sich das lieber nicht«, sagte Norten.»Die ganze Geschichte geht Sie wirklich nichts an.«

«Sind Sie sicher?«fragte Indiana.»Vergessen Sie nicht: Ich war dabei, als Greg starb.«

«Was hat er dir verraten?«schnappte José.

«Eine Menge«, antwortete Indiana. Was gelogen war. Aber das konnte José schließlich nicht wissen, und dem Leuchten in seinen Augen nach zu schließen, fiel er auch tatsächlich auf Indianas Bluff herein.

Norten nicht.

«Kein Wort mehr, José«, sagte er scharf.»Er blufft. Wenn er irgend etwas wüßte, wäre er nicht hier, sondern auf dem Schiff.«

«Genau«, lallte Joana und fiel von der Couch.

Indiana verdrehte die Augen, stand hastig auf, um ihr wieder in die Höhe zu helfen, und ließ sie behutsam wieder neben José auf die Couch sinken. Joana kicherte albern, lehnte sich an José und prallte dabei mit dem Hinterkopf gegen seine Nase, die sofort wieder zu bluten begann. Indiana machte sich nicht mehr die Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken.

«Joanas Anhänger ist also verschwunden«, nahm Norten das unterbrochene Gespräch wieder auf. Er sah Indiana scharf an.»Aber Sie haben Ihren noch?«

Indiana antwortete nicht.

«Ich nehme an, Sie haben ihn bei sich«, vermutete Norten.

«Sehe ich wirklich so dumm aus?«

Norten runzelte nur ärgerlich die Stirn, während Josés Augen kleine, zornige Blicke in Indianas Richtung verschossen.

«Wo befindet er sich?«fragte Norten.

«An einem sicheren Ort. Und dort wird er auch bleiben — bis ich weiß, was es damit auf sich hat.«

«Ich glaube nicht, daß Sie das wirklich wissen wollen, Dr. Jones«, sagte Norten.

«Und wenn doch?«

Norten seufzte.»Bitte, Dr. Jones, versuchen Sie mich zu verstehen. Ich habe viel über Sie gehört — nicht nur von Greg. Ich weiß, daß Sie einen gewissen Ruf riskieren; nicht nur als Wissenschaftler. Man sagt Ihnen nach, daß Sie niemals aufgeben, wenn Sie sich einmal in ein Thema verbissen haben. Aber man sagt Ihnen auch nach, daß Sie ein sehr vernünftiger Mann sind, Dr. Jones. An diese Vernunft möchte ich appellieren. Sie bringen sich selbst in Gefahr, wenn Sie das Geheimnis dieser Anhänger zu ergründen versuchen.«

Indiana zuckte mit den Achseln.»Warum überlassen Sie diese Entscheidung nicht mir?«

«Warum überläßt du ihn nicht mir?«fragte José mit einem drohenden Blick in Indianas Richtung.»Fünf Minuten, und er verrät mir freiwillig alles, was ich wissen will.«

Indiana schenkte ihm ein Lächeln.»Was ich gerade draußen in der Halle gesagt habe, nehme ich zurück, José«, sagte er freundlich.

José runzelte die Stirn, und Indiana fügte erklärend hinzu:»Das mit deiner Nase, alter Freund. Ich habe gelogen. Es tut mir nicht leid.«

Joana kicherte, schlug die Hand vor den Mund und wurde plötzlich leichenblaß. Zwei, drei Sekunden lang schwankte sie so wild hin und her, daß Indiana schon fürchtete, sie würde wieder von der Couch fallen. Dann griff José blitzschnell zu, packte sie an den Schultern und hielt sie fest.»Jetzt reiß dich aber mal zusammen, Kind«, sagte er ärgerlich.»Du bist ja völlig betrunken!«»Genau«, lallte Joana zum dritten Mal und erbrach sich würgend in Josés Schoß.

Der Rest des Tages verlief in völliger Ruhe. Aber es war eine Ruhe, die auf ihre Art beinahe schlimmer war, als wäre etwas geschehen. Außerhalb der Hacienda rührte sich nichts, und als wollte er der unheimlichen Szenerie noch den letzten Schliff geben, flaute selbst der Wind ab, so daß sich eine unheimliche, beinahe schon widernatürliche Stille über den riesigen Gebäudekomplex ausbreitete. Und wenn schon nicht die unheimlichen Schattengestalten draußen aus dem Wald, so kroch doch diese Stille durch die Mauern und Türen des Hauses herein und breitete sich in allen Räumen aus. Kaum jemand wagte zu reden, und wenn, so nur im Flüsterton. Jedermann schien bemüht, jedes überflüssige Geräusch zu vermeiden, als fürchte er, daß in dieser Stille etwas lauern könnte. Etwas wie ein unsichtbares, körperloses Raubtier, das nur auf einen unbedachten Laut wartet, um aus seinem Versteck zu springen und sich auf sein Opfer zu werfen.

Anfangs hatte Indiana versucht, das Gefühl zu ignorieren. Er hatte es seiner eigenen Angst zugeschrieben und der Mischung aus Nervosität und Zorn, mit der ihn die Situation erfüllte. Er hatte versucht, eine logische Begründung dafür zu finden: die Gefahr, in der sie alle schwebten, die scheinbar aussichtslose Lage, die Tatsache, daß José ihn belegen hatte. Aber das alles war es nicht. Nicht nur.

Er konnte es fühlen. Irgend etwas … geschah dort draußen. Es waren nicht nur die Männer dort im Busch, die die Hacienda belauerten. Da war noch etwas. Etwas Gewaltiges, ungeheuer Mächtiges und Altes, das langsam, aber unerbittlich auf die Hacienda zukroch.

Und er war nicht der einzige, der es spürte. Keiner der anderen sprach es aus oder machte auch nur eine entsprechende Andeutung. Aber Indiana sah es auf den Gesichtern der Männer, sah es an ihren kleinen, nervösen Bewegungen und den fahrigen Blik-ken. Und er hörte es vor allem an ihrem Schweigen. Was immer dort draußen lauerte, es war real. Irgend etwas Furchtbares würde geschehen. Bald.

Zusammen mit Anita hatte er Gregs Tochter in eines der Gästezimmer hinaufgebracht und es Josés Frau überlassen, das Mädchen zu entkleiden und ins Bett zu legen. Er war noch einmal zurückgekommen, um sich davon zu überzeugen, daß es Joana wirklich gutging und sie nichts Schlimmeres als einen gewaltigen Kater zu erwarten hatte. Aber Anita hatte ihn beruhigt. Mit Ausnahme der Schnittwunde an ihrem Handgelenk — Anitas entsprechende Frage über deren Herkunft hatte Indiana geflissentlich überhört — war das Mädchen unverletzt.

Der Rest des Tages schleppt sich quälend langsam dahin. Indiana hatte nach einer Stunde eingesehen, daß es wenig Sinn hatte, wenn er den Beleidigten spielte und sich in seinen Schmollwinkel zurückzog, und war wieder ins Erdgeschoß hinuntergegangen, um mit Norten — und wenn es sein mußte, auch mit José — zu reden. Aber dieses Gespräch war so verlaufen, wie er es erwartet hatte: ohne irgendein Ergebnis. José hatte ihn mit Blicken durchbohrt und schien im übrigen vergessen zu haben, daß er jemals der englischen Sprache mächtig gewesen war, während Norten darauf beharrte, daß es für ihn besser sei, nichts zu wissen.

Der einzige Hoffnungsschimmer, der ihm blieb, war Anita. José achtete den ganzen Tag über mißtrauisch darauf, daß Indiana auch nicht eine Minute mit ihr allein war. Aber dessen Chance kam, als der Abend dämmerte.

Josés Zimmer und das, das Norten ihm selbst zugewiesen hatte, lagen auf dem gleichen Flur im ersten Stockwerk. Indiana hatte sich kurz vor Dunkelwerden mit der Entschuldigung zurückgezogen, müde zu sein und ein wenig schlafen zu wollen. Und obwohl er eigentlich nicht vorhatte, dies wirklich zu tun, waren seine Augen zugefallen, kaum daß er sich auf dem Bett ausgestreckt hatte.

Als er erwachte, herrschte fast vollkommene Dunkelheit im Zimmer. Durch die Tür, die er einen Spaltbreit offengelassen hatte, drang flackerndes, orangefarbenes Licht und gedämpftes Stimmengemurmel, und über der Hacienda stand ein bleicher Vollmond am Himmel, dessen Licht die Fenster mit einem unheimlichen, silbernen Schein erfüllte. Die Stille schien noch intensiver geworden zu sein. Und das Gefühl, daß sich etwas Unheimliches, Gefährliches näherte, war so dicht geworden, daß er es beinahe körperlich spüren konnte.

Mit klopfendem Herzen richtete er sich auf, sah sich einen Moment im Zimmer um und schlich dann zur Tür. Er lauschte aufmerksam, ehe er wagte, die Tür vorsichtig zu öffnen und auf den Korridor hinauszutreten. Er identifizierte jetzt die Stimmen aus dem Erdgeschoß — es waren Norten und José, die sich leise unterhielten; auf spanisch, so daß Indiana nicht verstand, worüber sie sprachen. Aber das interessierte ihn im Moment auch gar nicht so sehr. Was ihn interessierte, war die Tatsache, daß José irgendwo dort unten war — und Anita vielleicht nicht. Irgendwie spürte er, daß Josés Frau der Schlüssel zu dieser ganzen Geschichte war.

Er warf einen letzten, sichernden Blick nach rechts und links, überquerte auf Zehenspitzen den Flur und legte das Ohr an die Tür zu Josés Zimmer, um zu lauschen. Er hörte nichts. Behutsam drückte er die Klinke hinunter, öffnete die Tür einen Spaltbreit und schlüpfte schließlich hindurch. Rasch, aber ohne den mindesten Laut, drückte er sie hinter sich wieder ins Schloß und blieb eine Sekunde lang mit geschlossenen Augen stehen. Die schweren, gleichmäßigen Atemzüge eines schlafenden Menschen drangen an sein Ohr, sonst nichts.

Indiana blieb einen Moment lang unter der Tür stehen und wartete vergeblich darauf, daß sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnten; alles, was er überhaupt erkennen konnte, waren blasse Umrisse und Schatten, die im silbergrauen Licht des Mondes ein seltsam bedrohliches Aussehen annahmen. Immerhin erkannte er, daß das Zimmer auf ähnliche Art wie sein eigenes eingerichtet war — der massige Umriß rechts von der Tür war das Bett, und von dort kamen auch die Atemzüge.

Ihr Rhythmus veränderte sich, als er einen Schritt machte. Ein Rascheln erklang, und dann richtete sich ein verschwommener Umriß in der Dunkelheit vor ihm auf.»Wer ist da?«fragte eine erschrockene, atemlose Stimme.

«Ich bin es«, antwortete Indiana flüsternd.»Jones.«

«Dr. Jones?«Anitas Stimme klang kein bißchen verschlafen, sondern aufs höchste alarmiert.

Indiana nickte und legte gleichzeitig mahnend den Zeigefinger über die Lippen, argwöhnte aber im gleichen Moment schon, daß sie beides in dem schlechten Licht wahrscheinlich nicht sehen würde.»Ja«, fügte er in einem gehetzten Flüsterton hinzu.»Ich muß mit Ihnen reden. Allein.«

Abermals das Rascheln und Schleifen, dann glomm neben dem Bett ein brennendes Streichholz auf.

Indiana schloß geblendet die Augen und fuchtelte gleichzeitig erschrocken mit den Händen vor dem Gesicht.»Kein Licht!«sagte er hastig.»Ich möchte nicht, daß José etwas merkt.«

Das Streichholz erlosch, und er konnte mehr hören und spüren als wirklich sehen, wie Anita sich vollends im Bett aufsetzte und die Decke über die Knie hochzog.

«Das ist … auch in meinem Sinn«, sagte sie zögernd. Mehr noch als das merkliche Stocken ihrer Stimme verriet ihm die umständliche Wahl ihrer Worte, wie unangenehm ihr sein Besuch hier war.

Indiana blieb noch einen Herzschlag lang neben der Tür stehen und lauschte auf den Flur hinaus. Als er nichts hörte, bewegte er sich auf Zehenspitzen auf das Bett zu und ließ sich behutsam auf der Kante nieder, während Anita ein Stück zur Seite rutschte. Obwohl er jetzt kaum noch einen Meter von ihr entfernt war, konnte er ihr Gesicht immer noch nicht deutlich erkennen. Aus irgendeinem Grund machte das Licht des Vollmondes das Zimmer nicht hell. Es vertrieb die Dunkelheit, aber was es statt dessen brachte, das war keine Helligkeit, sondern … etwas anderes, dachte er irritiert. Etwas, bei dem man beinahe schlechter sah als in einer mondlosen Nacht.

Er verscheuchte diesen albernen Gedanken und zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sie sein Gesicht vermutlich ebenso wenig erkennen konnte wie er ihres.»Ich möchte nur mit Ihnen reden«, sagte er.

«Ich habe auch nicht geglaubt, daß Sie aus irgendeinem anderen Grund hier sind, Dr. Jones«, antwortete Anita. Indiana entging der feine Spott in ihren Worten keineswegs, aber er war nicht in der Laune, darauf einzugehen.»Es … tut mir wirklich leid, was Ihnen passiert ist«, begann er.

Anita unterbrach ihn mit einer Bewegung, die er nur hörte.»Das muß es nicht, Dr. Jones«, antwortete sie.

«Indy«, verbesserte sie Indiana.»Nennen Sie mich Indy. Das tun alle meine Freunde.«

«Das muß es nicht, Indy«, sagte Anita noch einmal.»Ich wußte, daß José nicht besonders glücklich über das sein würde, was ich tat. Und es war nicht so schlimm, wie es aussieht. Er war sehr wütend. Und, von seinem Standpunkt aus betrachtet, zu Recht. Immerhin habe ich ihn bestohlen.«

«Das haben Sie nicht«, behauptete Indiana.»Man kann niemandem etwas stehlen, was ihm gar nicht gehört.«

«Er hat lange gebraucht, um diesen Anhänger ausfindig zu machen«, fuhr Anita in der Dunkelheit fort.»Und noch länger, um ihn zu bekommen.«

«Ja«, maulte Indy.»Und ich Trottel habe ihm auch noch dabei geholfen.«

«Sie hatten gar keine andere Wahl«, behauptete Anita.

«Wie meinen Sie das?«

«Er hat diese Pokerpartie arrangiert, haben Sie das noch nicht begriffen?«Indiana blinzelte überrascht.»Moment mal!«sagte er.»Wollen Sie damit sagen, daß er mich …«

«… betrogen hat. Ja«, führte Anita den Satz zu Ende. Sie lachte leise.»Wissen Sie, Indy, ich kenne José schon eine ganze Weile. Auch wenn es im Moment nicht so aussieht — er hat eine Menge Talente. Aber Kartenspielen gehört ganz bestimmt nicht dazu. Er ist ein miserabler Pokerspieler.«

«Um beim Poker zu betrügen, muß man ein verdammt guter Spieler sein«, erwiderte Indiana zweifelnd.

«Oder einen sehr guten Partner haben. «Wieder lachte Anita, was Indiana bewies, daß sie offensichtlich besser sehen konnte als er, denn sein fassungsloser Gesichtsausdruck war ihr nicht entgangen.»Der Mann, der neben ihm saß und als letzter ausgestiegen ist«, fuhr sie nach ein paar Sekunden fort.»Ich weiß nicht, ob Sie auf ihn geachtet haben. Er ist einer der berüchtigsten Kartenhaie von New Orleans. Glauben Sie mir, Dr. Jones, Sie hatten von Anfang an keine Chance. Die beiden haben dafür gesorgt, daß Sie den ganzen Abend über gewinnen.«

«Ich verstehe«, sagte Indiana düster.»Damit ich leichtsinnig werde und zum Schluß alles auf eine Karte setze.«

«Ganz genau. Und Sie haben es schließlich auch getan — oder?«

«Ja«, gestand Indiana zerknirscht.»Ich Idiot.«

«Seien Sie froh, daß Sie es getan haben«, sagte Anita ernst.»José war wild entschlossen, Ihnen diese Kette abzujagen. Ganz egal, auf welche Weise.«

Indiana überlegte einen Moment.»Nachdem ich das PALLADIUM verlassen habe, hatte ich eine unangenehme Begegnung mit zwei Burschen«, sagte er.»Steckt José vielleicht auch dahinter?«

«Nein«, erwiderte Anita überzeugt.»Warum auch? Er hatte, was er wollte.«

«Damit sind wir beim Thema«, sagte Indiana.»Was ist an diesen drei Anhängern so wichtig?«

«Ich weiß es nicht«, antwortete Anita, und obwohl Indiana ihr Gesicht in der Dunkelheit immer noch nicht sehen konnte, spürte er einfach, daß sie log. Offensichtlich war es in den letzten drei Tagen zu einer allseits beliebten Freizeitbeschäftigung geworden, ihn zu belügen, zu betrügen und zu hintergehen. Aber er sagte nichts dazu, sondern saß nur schweigend da und wartete darauf, daß sie von sich aus weitersprach.

«Ich weiß nicht, was an diesen Anhängern so wichtig ist, Dr. Jones«, sagte sie noch einmal.»Aber ich weiß, daß José und Nor-ten sie nicht bekommen sollten.«

«Warum?«

«Weil sie ihnen nicht gehören«, antwortete Anita. Unter fast allen anderen denkbaren Umständen wäre diese Antwort lächerlich gewesen; jetzt nicht. Ohne daß ein einziges Wort der Erklärung nötig gewesen wäre, wußte Indiana, was Anita damit meinte. Diese kleinen Schmuckstücke gehörten José und Norten so wenig wie ihm oder Joana — oder wie sie Greg gehört hatten. Es waren alte Dinge, heilige Dinge, Dinge, die irgendwann einmal von ungeheurer Wichtigkeit und Bedeutung für Menschen gewesen waren, Dinge, an die sie ihren Glauben gehängt, die sie verehrt und vielleicht sogar mit ihrem Leben beschützt hatten. Vielleicht waren Menschen gestorben für diese kleinen Schmuckstücke — vor fünfhundert oder tausend oder auch zweitausend Jahren. Und vielleicht hatten einmal die Hoffnungen eines ganzen Volkes an dem gehangen, was sie symbolisierten. Was immer Norten und José damit vorhatten — es war falsch.

«Wenn diese Anhänger wirklich so wertvoll für Ihren Mann und Norten sind«, sagte er,»dann war es sehr tapfer, was Sie getan haben.«

«Vielleicht«, sagte Anita.»Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht wollte ich einfach nicht, daß José die Kette hat. Vielleicht hatte ich einfach Angst, daß etwas wie das hier passiert.«

Indiana glaubte ihr kein Wort. Auch Anita verschwieg ihm etwas. Aber er hatte das sichere Gefühl, daß sie es aus anderen Gründen tat als ihr Mann oder Norten.

«Sie wissen auch nicht, wer diese Männer dort draußen sind?«fragte er.»Die Mayakrieger?«

Er konnte Anitas Zusammenzucken spüren.»Mayakrieger?«wiederholte sie.»Wie kommen Sie darauf?«

«Nur eine Vermutung«, sagte Indiana.»Die beiden, die in New Orleans hinter mir her waren, waren Mayas.«

«Aber ich … ich dachte immer, die Mayas wären ausgestorben«, sagte Anita unsicher, und auch das klang nach dem, was es war — eine weitere, nicht einmal sonderlich überzeugende Lüge.

Trotzdem antwortete er:»Das denken die meisten. Aber es ist falsch. Es gibt noch ein paar Stämme. Nicht viele; insgesamt sind es vielleicht fünf- oder sechstausend Menschen. Reichlich wenig für ein Volk, das einmal einen großen Teil des südamerikanischen Kontinents beherrscht hat. Aber es gibt sie noch.«

«Das ist … interessant«, sagte Anita, die jetzt hörbar ihre Fassung wiedergewann. Mit spöttisch erhobener Stimme fügte sie hinzu:»Und jetzt glauben Sie, sie hätten ihre Reservate verlassen und das Kriegsbeil ausgegraben, um nach Kuba zu kommen?«

«Ich weiß, wie verrückt das klingt«, antwortete Indiana ernst.»Aber diese ganze Geschichte hört sich reichlich verrückt an, nicht wahr?«

«Das stimmt«, antwortete Anita.»Und ich …«

Sie stockte mitten im Wort, lauschte einen Moment lang angestrengt und fuhr dann erschrocken zusammen.

«Was haben Sie?«fragte Indiana alarmiert.

«Jemand kommt!«antwortete Anita.

«José?«

«Ich weiß es nicht«, sagte Anita.»Aber wenn, dann … dann darf er Sie auf keinen Fall hier sehen, Indy.«

In diesem Punkt war Indiana ausnahmsweise einmal einer Meinung mit ihr. Er wollte aufspringen und zur Tür laufen, aber es hätte Anitas erschrockener Bewegung nicht einmal bedurft, um ihm klarzumachen, daß das die falscheste aller möglichen Richtungen war — auch er hörte die Schritte jetzt, und er begriff, daß es viel zu spät war, das Zimmer noch zu verlassen und sich im Ernst einzubilden, dabei nicht gesehen zu werden. Er brauchte ein Versteck.

«Das Bett!«sagte Anita.»Kriechen Sie darunter! Schnell!«

Eine Sekunde lang war Indiana so verblüfft, daß er gar nichts tat. Der Vorschlag erschien ihm so lächerlich, daß er um ein Haar laut aufgelacht hätte. Aber ihm blieb gar keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Er stürmte los, hörte, wie die Schritte dicht vor der Tür abbrachen, und warf sich mit einem langgestreckten Sprung nach vorn. Als die Klinke heruntergedrückt wurde, schlitterte er auf dem Bauch und mit eingezogenem Kopf über den spiegelblank gebohnerten Holzfußboden. Seine Füße verschwanden unter dem Rand des Bettes, als die Tür geöffnet wurde und ein schmaler Lichtstreifen vom Flur aus ins Zimmer fiel, und eine Sekunde später kollidierte sein Kopf ziemlich unsanft mit der Wand, vor der das Bett stand.

Für einen Moment sah er nur bunte Sterne. Mit zusammengebissenen Zähnen und so leise wie er nur konnte, drehte sich Indiana herum und blickte zur Tür.

In der nächsten Sekunde kam er sich tatsächlich so albern vor, wie er befürchtet hatte. Die Tür stand noch immer offen, aber die Füße und der Teil der dazugehörigen Beine, den er darüber erkennen konnte, gehörten ganz eindeutig nicht José. Es waren sehr schmale, zierliche Mädchenfüße und — waden.

«Joana!«hörte er Anitas Stimme. Sein Gesicht wurde unsanft gegen den Boden gepreßt, als sich Anita überrascht im Bett aufrichtete und die ausgeleierten Stahlfedern unter der Belastung ächzten und sich durchbogen.

«Was machen Sie denn hier?«

Indiana hörte das Geräusch der Tür, die wieder geschlossen wurde, und dann das leise Tappen von Joanas Füßen, als sie sich dem Bett näherte.

«Ich … wollte mit Ihnen reden«, sagte Joana. Ihre Stimme klang müde und irgendwie erschöpft. Aber nicht mehr betrunken.

«Jetzt?«fragte Anita.»Ich … ich bin schon zu Bett gegangen und …«

«Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt«, unterbrach sie Joana.»Ich bleibe auch nicht lange. Aber … ich habe die Stimme Ihres Mannes gehört, unten im Salon. Und ich wollte allein mit Ihnen reden.«

«Hat das nicht Zeit bis morgen früh?«

«Ich wollte mich nur entschuldigen«, sagte Joana zerknirscht.»Ich glaube, ich … habe mich furchtbar danebenbenommen. Das mit Ihrem Mann tut mir sehr leid.«

«Er wird es überleben«, sagte Anita.»Und er wird auch Ihnen nicht den Kopf abreißen, Kindchen.«

«Es ist mir furchtbar peinlich«, fuhr Joana fort.»Vielleicht … können Sie mit ihm reden. Ich meine, bevor er morgen früh …«Sie stockte abermals und begann verlegen von einem Fuß auf den anderen zu treten.

«Das tue ich, Joana«, sagte Anita.»Ich verspreche es Ihnen. Ich rede noch heute mit ihm, sobald er heraufkommt. Sie werden sehen, morgen früh ist alles wieder in Ordnung. Aber jetzt seien Sie lieb und lassen Sie mich schlafen: Ich bin sehr müde — und keiner von uns weiß, wieviel Schlaf er in dieser Nacht bekommen wird.«

«Sicher«, sagte Joana hastig.»Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe. Ich … gehe dann wieder.«

Indiana stieß einen lautlosen Seufzer der Erleichterung aus, als Joana sich umwandte und zur Tür ging. Vorsichtig öffnete sie sie und machte einen Schritt — und stockte wieder. Eine Sekunde lang blieb sie völlig reglos unter der Tür stehen. Dann wich sie mit einer raschen Bewegung wieder ins Zimmer zurück und drückte die Tür ins Schloß.

«Was ist?«fragte Anita.

«Ihr Mann!«antwortete Joana erschrocken.»Er kommt die Treppe herauf!«

«Dann sollten Sie gehen.«

«Zu spät!«antwortete Joana. In ihrer Stimme klang ein deutlicher Unterton von Panik mit.»Er würde mich sehen.«

«So schlimm ist das ja nun auch wieder nicht«, begann Anita, aber Joana hörte ihr gar nicht zu, sondern fuhr mit beinahe hysterischer Stimme fort.

«Ich verstecke mich! Schicken Sie ihn unter irgendeinem Vorwand weg — nur für eine Minute.«

Indiana hörte das hastige Klatschen nackter Füße auf dem Holzfußboden und dann Anitas erschrockenes Einatmen.

«Nicht dort! In den Schrank!«

Aber es war zu spät. Joana ließ sich mit einer raschen Bewegung zu Boden gleiten, kroch geschickt unter das Bett — und fuhr erschrocken zurück, als ihre tastenden Hände über Indianas Gesicht glitten.

«Wer …?«

«Pssst!«machte Indiana.»Keinen Laut!«

Joana verstummte tatsächlich, aber ihre Finger fuhren prüfend ein zweites Mal über sein Gesicht. Es war so dunkel hier unter dem Bett, daß sie ihn nicht einmal als Schatten wahrnehmen konnte — und er hoffte zumindest, daß sie ihn nicht an dem erkannte, was sie ertastete.

Fast im gleichen Augenblick wurde die Tür geöffnet, und José trat ein. Automatisch schloß er sie wieder hinter sich, aber nur, um sie beinahe im gleichen Moment wieder zu öffnen, um sich in dem Licht, das vom Flur hereinschien, zu orientieren. Indiana hörte seine schweren Stiefelschritte auf den Boden poltern, dann zitterte das ganze Bett über ihnen, und die altersschwachen Stahlfedern bogen sich noch weiter durch, als José sich auf die Kante setzte. Indiana bekam kaum noch Luft.

«José?«fragte Anita. Der verschlafene Ton in ihrer Stimme klang wirklich überzeugend, dachte Indiana. Anita war wirklich eine gute Schauspielerin. Er wußte nur nicht, ob ihn diese Erkenntnis sehr erfreute.

«Du bist noch wach?«brummte José.

«Ich habe auf dich gewartet«, antwortete Anita.

«Im Dunkeln?«Die Matratze hob sich wieder ein wenig, als Jo-sé aufstand und polternd zum Tisch ging.

«Nein«, sagte Anita.

Josés Schritte stockten.»Nein — was?«

«Das Licht«, antwortete Anita.»Mach es bitte nicht an.«

«Aber warum denn nicht?«

«Sie … könnten es von draußen sehen«, antwortete Anita stok-kend.

José lachte grob.»Unsinn! Die Läden sind vorgelegt, oder?«Indiana hörte, wie er ein Streichholz anriß, Glas klirrte leise, und dann erfüllte der bleiche, fast weiße Schein einer Petroleumlampe das Zimmer.

Ihr Licht fiel natürlich nicht unter das Bett, aber es reichte immerhin aus, die Dunkelheit soweit aufzuhellen, daß er Joanas schreckensbleiches Gesicht und ihre ungläubig aufgerissenen Augen nur wenige Zentimeter vor sich erkennen konnte.

So deutlich wie sie umgekehrt ihn.

Eine Sekunde lang starrte sie ihn einfach nur an, dann sah er, wie in ihren Augen ein düsterer Funke aufglomm, der heller und heller brannte. Gleichzeitig begann sich ihr Gesicht immer weiter zu verdunkeln.

Indiana griff im letzten Moment zu und preßte ihr die Hand auf den Mund, als sie losschreien wollte. Joana versuchte instinktiv, seine Hand beiseitezuschlagen, konnte sich aber in der Enge unter dem Bett ebensowenig bewegen wie er.

«Was war das?«fragte José alarmiert, und Joana erstarrte erschrocken mitten in der Bewegung.

«Was?«fragte Anita harmlos.

«Ich … ich dachte, ich hätte etwas gehört«, sagte José.»Du nicht?«

Indianas Herz machte einen erschrockenen Sprung, als er Anita leise auflachen und antworten hörte:»Vielleicht habe ich ja meinen Liebhaber unter dem Bett versteckt. Warum siehst du nicht nach?«

«Ich habe wirklich etwas gehört«, beharrte José.

Das Bett ächzte hörbar und preßte Indiana und Joana noch fester gegen den Boden, als Anita heftig den Kopf schüttelte.»Nein«, sagte sie.»Du mußt dich getäuscht haben.«

José blieb noch einen Moment unschlüssig stehen und lauschte, ging aber dann zum Bett zurück und ließ sich schwer auf die Matratze sinken.»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte er.»Komm — wenden wir uns angenehmeren Dingen zu.«

Indiana riß ungläubig die Augen auf, und auch Joana blinzelte irritiert. Die Matratze bog sich noch stärker durch und preßte sie beide so fest gegen den Boden, daß sie kaum noch Luft bekamen, als José sich über ihnen herumdrehte, um sich seiner Frau zuzuwenden.

«Jetzt nicht«, sagte Anita beinahe grob.

«Wieso denn nicht?«fragte José. Seine Stimme klang scharf.

«Mir … ist nicht danach«, antwortete Anita.»Und ich bin durstig.«

«Dann trink etwas«, antwortete José.»Auf dem Nachttisch steht eine ganze Karaffe mit Wasser.«

«Ich möchte kein Wasser«, erklärte Anita.»Du könntest mir ein Glas Wein holen.«

«Später«, sagte José.»Hinterher.«

Die Matratze quietschte und bewegte sich weiter, und Indiana hatte das Gefühl, langsam, aber unbarmherzig in den Boden hineingestampft zu werden. Dann hörte er José einen unwilligen Laut ausstoßen und sich aufrichten.»Verdammt, was ist los mit dir?«fragte er barsch.»Zier dich nicht so!«

«Ich habe Kopfschmerzen«, antwortete Anita im gleichen, unwilligen Ton.

«Kopfschmerzen, so?«schnappte José böse.»Paß mal auf, Schätzchen. Dir tut gleich noch sehr viel mehr weh, wenn du dich noch weiter so zickig anstellst.«

«Ich sage ja gar nicht, daß ich nicht will«, antwortete Anita.»Aber ich möchte gern ein Glas Wein. Sei lieb und hol es mir. Und bring dir auch etwas zu trinken mit.«

Sekundenlang antwortete José gar nicht. Dann hörten sie, wie er mit einem ärgerlichen Knurren aufstand, wobei er sich so heftig auf der Matratze abstützte, daß eine der Sprungfedern durch Indianas Jacke stach und sich tief in seine Magengrube bohrte.»Weiber!«maulte José. Aber er ging gehorsam zur Tür, riß sie auf und schmetterte sie hinter sich wieder ins Schloß.

Indiana kroch hastig unter dem Bett hervor und richtete sich auf, während sich Joana auf der anderen Seite in die Höhe stemmte und abwechselnd ihn und Anita mit Blicken regelrecht durchbohrte.

«So ist das also!«begann Joana.»Ich wußte doch, daß …«

«Nicht jetzt!«unterbrach sie Indiana. Mit zwei Schritten war er bei der Tür, preßte das Ohr gegen das Holz und lauschte eine Sekunde. Als er nichts hörte, öffnete er sie, spähte vorsichtig durch den Spalt auf den Gang hinaus und schlüpfte schließlich hindurch. Rasch überquerte er den Korridor, öffnete die Tür zu seinem eigenen Zimmer und trat ein.

Mit einem erleichterten Seufzer wollte er sie hinter sich wieder zudrücken, aber er kam nicht einmal dazu, die Bewegung halb zu Ende zu führen. Die Tür wurde so wuchtig aufgestoßen, daß er zwei Schritte vorwärts stolperte und halb über sein Bett fiel, als Joana hereingestürmt kam.

«So ist das also!«sagte sie noch einmal.»Deshalb hatte sie es so eilig, mich loszuwerden. Und ich habe mich schon gefragt, wo du bist! Ich habe dich überall gesucht, weil ich mich bei dir entschuldigen wollte! Ich muß verrückt gewesen sein!«

Indiana richtete sich unsicher auf dem Bett auf und setzte zu einer Antwort an, aber Joana ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.

«Und ich dumme Kuh habe wirklich gedacht, daß es nur deine guten Manieren sind! In Wahrheit hatte der Herr etwas Besseres vor, nicht wahr? Wahrscheinlich sind wir gar nicht wegen des Anhängers hier, sondern wegen dieser dummen Kuh dort drüben!«

«Sie ist keine dumme Kuh«, unterbrach sie Indiana, aber Joana hörte gar nicht zu.

«Der Herr steht anscheinend nur auf ältere Damen!«fuhr sie aufgebracht fort. Sie kam einen Schritt näher und stemmte herausfordernd die Hände in die Hüfte.»Und ich reise um die halbe Welt mit dir, klaue ein Flugzeug, lasse mich fast von einer Schlange fressen, werde um ein Haar von einem Haufen Wilder vergewaltigt und entführt und zum Schluß noch beinahe erschossen — und das alles nur, damit Dr. Indiana Jones möglichst schnell ins Bett dieser schwarzhaarigen Schlampe kommt!«

«Ich war nicht in ihrem Bett«, sagte Indiana.

Joana wischte seine Antwort mit einer zornigen Handbewegung zur Seite.»Aber du wärst es gern gewesen, nicht? Fast tut es mir leid, daß ich nicht fünf Minuten später gekommen bin. Oder gar nicht — dann wäre nämlich José aufgetaucht und hätte dich mit seiner Frau erwischt.«

«Jetzt reicht es aber!«unterbrach sie Indiana. Mit einer ärgerlichen Bewegung stand er auf, packte sie an der Schulter und schüttelte sie.»Jetzt hör endlich mit diesem Unsinn auf! Es ist alles ganz anders, als du glaubst.«

Joana fegte seine Hand davon.»Natürlich!«sagte sie spöttisch.»Es ist immer ganz anders, als es aussieht, nicht wahr?«Sie lachte abfällig.»Ich weiß, ich bin ja nur ein dummes Kind, das nichts von alledem versteht.«

«Jedenfalls benimmst du dich im Moment so«, sagte Indiana.

In Joanas Augen blitzte es noch ärgerlicher auf.»Und ich wollte mich schon bei dir entschuldigen!«sagte sie.»Weißt du, daß ich dir fast geglaubt hätte?«

«Jetzt hör endlich auf«, sagte Indiana.»Du schreist noch das ganze Haus zusammen.«

«Und?«gab Joana schnippisch zurück.»Wäre es dir so peinlich, wenn man uns beide zusammen in einem Zimmer treffen würde?«Ihre Augen schleuderten kleine brennende Blitze in seine Richtung.»Dich zusammen mit dieser Anita in einem Bett zu finden, wäre dir offensichtlich nicht so peinlich gewesen.«

«Bitte, hör mir doch einfach nur eine Minute lang zu«, sagte Indiana, beinahe flehend.»Ich erkläre dir ja alles, aber …«

«Danke, Dr. Jones«, unterbrach ihn Joana.»Ich verzichte auf Ihre Erklärungen.«

«Dann sei wenigstens leise«, flehte Indiana.»Was soll dein Professor Norten bloß denken, wenn er dich hört — und in diesem Zustand sieht?«

«In diesem Zustand?«Joana blickte an sich hinab. Sie war nur mit einem weißen Herrenhemd bekleidet, das ihr zwar um mindestens fünf Nummern zu groß war, trotzdem aber kaum bis an ihre Oberschenkel hinabreichte. Einen Moment lang starrte sie ihn an, dann runzelte sie die Stirn und nickte.»Oh, ich verstehe. Du meinst, ich wäre unpassend angezogen. Das stimmt sogar. Das Hemd war sowieso für dich bestimmt, glaube ich. Hier — du kannst es haben!«

Und ehe Indiana es verhindern konnte, zog sie das Hemd mit einer raschen Bewegung über den Kopf, knüllte es zu einem Ball zusammen und warf es ihm ins Gesicht. In dem Bruchteil einer Sekunde, bevor das Geschoß Indiana traf, konnte er erkennen, daß sie darunter absolut nichts angehabt hatte.

«Gute Nacht, Dr. Jones«, sagte Joana, drehte sich auf der Stelle um und stolzierte hocherhobenen Hauptes aus dem Zimmer.

«Joana!«schrie Indiana verzweifelt, während er hinter ihr her stürzte.»Du kannst doch nicht …«

Aber sie konnte. Vollständig nackt, aber hocherhobenen Hauptes und so stolz wie eine Königin auf einem Galaempfang marschierte Joana aus seinem Zimmer und quer über den Flur davon.

Daß José und Professor Norten in genau diesem Moment nebeneinander die Treppe heraufkamen und sowohl sie als auch Indiana erblickten, der unter der Tür stehengeblieben war, Joana hilflos hinterhersah und das zusammengeknüllte Hemd noch in der Hand trug, hatte er zwar nicht direkt erwartet. Aber es überraschte ihn eigentlich auch nicht mehr besonders.

An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Norten hatte — beinahe zu Indianas Überraschung — zwar darauf verzichtet, ihn auf der Stelle umzubringen oder zumindest aus dem Haus zu werfen, aber sein Blick und der erstarrte Gesichtsausdruck, mit dem er sich seine gestotterten Erklärungsversuche anhörte, sagten sehr deutlich, daß sie sich über dieses Thema noch einmal und später und sehr viel gründlicher unterhalten würden.

Trotzdem — als Indiana nach einigen Minuten aufhörte, Unsinn zu faseln, sagte er nur:»Ich erwarte Sie in ein paar Minuten unten im Salon, Dr. Jones. Ich war ohnehin auf dem Weg zu Joana und Ihnen. Es gibt ein paar Dinge, über die wir reden müssen. «Er hob rasch die Hand und machte eine abwehrende Bewegung.»Machen Sie sich keine Mühe. Ich gehe selbst und sage Joana Bescheid.«

Indiana blickte ihm betroffen nach, wünschte Joana in Gedanken die Pest an den Hals und überlegte einen Moment lang ernsthaft, ob er Josés Nase wieder in den Zustand vom heutigen Vormittag zurückversetzen sollte, als er dessen schadenfrohes Grinsen bemerkte. Dann kam er zu dem Schluß, daß dieser Trottel die Mühe gar nicht wert war, drehte sich auf der Stelle um und polterte die Treppe in den Salon hinunter.

Das Zimmer war als einziger Raum im ganzen Haus hell erleuchtet. Im Kamin brannte ein gewaltiges Feuer, und auf einer Anzahl kleiner Tische, die scheinbar wahllos im Zimmer verteilt waren, flackerte mehr als ein Dutzend Kerzen. Keine der Petroleumlampen, von denen es auch genug gegeben hätte, brannte. Und Indiana begriff auch, warum das so war. Sollte das Haus angegriffen werden und es zum Kampf kommen, konnte eine einzige, umgeworfene Petroleumlampe die ganze Hacienda in Brand stecken. Und auch das Feuer diente nicht der Erzeugung von Wärme — die Nacht war so warm, daß man auch im Freien hätte schlafen können —, sondern einzig dem Zweck, gewisse vorwitzige Indianer daran zu hindern, über das Dach und durch den Kamin ins Haus einzudringen; groß genug war er auf jeden Fall. Indianas Hochachtung für die Umsicht, mit der Norten vorgegangen war, mischte sich mit einem Anflug von neuerlichem Mißtrauen. Entweder Professor Norten hatte eine gewisse Erfahrung darin, belagert zu werden — oder er war nicht das, was er ihn und Joana und wahrscheinlich auch Greg hatte glauben machen wollen.

Wie am Tage standen auch jetzt an zweien der großen Fenster mit Gewehren bewaffnete Männer. Indiana nickte ihnen flüchtig zu; erntete aber nur einen eisigen Blick und beeilte sich, sich auf den am weitesten vom Kamin entfernten Platz niederzulassen. Trotzdem strahlte das Feuer eine unangenehme Wärme aus. Das und … noch etwas.

Im ersten Augenblick versuchte Indiana, das Gefühl zu ignorieren, aber es war zu stark. Fast gegen seinen Willen drehte er den Kopf und blickte in die lodernden Flammen. Es war Feuer, brennendes Holz, weiter nichts, und doch … Irgend etwas am Tanz der Flammen war falsch. Sie zuckten und hüpften, bebten und wanden sich wie …

Unsinn!

Mit einem Ruck drehte er den Kopf wieder weg und begann nervös, mit den Fingerspitzen auf die Lehne des Sessels zu trommeln, bis Norten und in seiner Begleitung auch Joana und José zurückkamen. Joana bedachte ihn mit einem eisigen Blick, aber in Josés Augen glitzerte es noch immer schadenfroh.

Norten betrachtete abwechselnd Indiana und Joana einen Moment lang, nachdem er sich gesetzt hatte. Aber er sagte nichts von alledem, was Indiana befürchtet hatte, sondern kam übergangslos zur Sache.»Ich habe über unser Gespräch von heute mittag noch einmal nachgedacht, Dr. Jones«, sagte er.

Der sah ihn fragend an.

«Ich glaube, in einem Punkt haben Sie recht«, fuhr Norten fort.»Ich glaube zwar nach wie vor nicht, daß es sich bei diesen Männern dort draußen um mehr als ein paar Strauchdiebe handelt. Aber ich fürchte, es sind eine Menge Strauchdiebe. Und offensichtlich kommt es ihnen auf ein paar Menschenleben mehr oder weniger nicht an.«

«Das ist mir nicht entgangen«, sagte Indiana.

Norten ignorierte ihn.»Außerdem hat sich die Situation mit Joanas Ankunft geändert«, fuhr er ungerührt fort.»Da Greg tot ist, fühle ich mich jetzt für das Mädchen verantwortlich. Ich kann nicht riskieren, daß ihr etwas passiert. Ich bin also zu dem Schluß gekommen, daß wir versuchen sollten, hier herauszukommen.«

«Sie wollen nicht mehr auf Ihre Männer warten?«

«Es ist ganz und gar nicht sicher, daß sie wirklich schon morgen früh zurück sind«, erklärte Norten.»Das Vieh ist verladen, sie haben ihre Löhnung bekommen — es ist gut möglich, daß sie noch einen oder zwei Tage in der Stadt bleiben. Normalerweise habe ich nichts dagegen, wenn sie sich ein paar Tage amüsieren. Schließlich arbeiten sie auch das ganze Jahr über hart genug. Und selbst wenn — möglicherweise haben Sie recht, und diese Verrückten legen ihnen einen Hinterhalt. Nicht, daß ich glaube, sie könnten wirklich mit sechzig Bewaffneten fertig werden, aber es könnte eine Menge Tote und noch mehr Verletzte geben, und das möchte ich verhindern.«

«Und wie?«

Norten schwieg einen Moment. Dann wandte er sich an Joana:»Traust du dir zu, das Flugzeug bei Nacht zu starten?«

Joana sah ihn einen Moment lang verblüfft an, ehe sie nickte.»Das schon«, antwortete sie.»Aber nicht auf diesem Bach. Das wäre Selbstmord.«

«Der Fluß wird wesentlich breiter«, sagte Norten.»Nicht einmal zwei Meilen entfernt. Und auch tiefer.«

Joana überlegte einige Sekunden.»Ich könnte die Maschine treiben lassen«, sagte sie,»aber da ist noch ein Problem.«

«Ja?«

«Wir haben kaum noch Benzin.«

«Was heißt das genau: kaum noch?«

Joana zuckte mit den Schultern.»Das weiß ich nicht. Vielleicht für fünf Minuten, vielleicht für zehn — aber auf keinen Fall mehr.«

«Das reicht«, sagte Norten.»Es gibt eine Tankstelle, ungefähr zehn Meilen von hier. Sie liegt direkt am Fluß.«

«Zehn Meilen?«Joana dachte einen Moment lang angestrengt nach.»Das müßten wir schaffen.«

«Da ist noch ein kleines Problem«, wandte Indiana ein.

Aller Blicke wandten sich ihm zu.

«Wir sind heute mittag schon fast umgebracht worden«, erinnerte Indiana,»als wir gelandet sind. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die da in aller Ruhe zusehen, wie wir in die Maschine steigen und davonfliegen?«

«Im Flugzeug sind wir sicher«, behauptete Joana.»Wenn sie wirklich nur mit ihren Blasrohren bewaffnet sind …«

«Das sind sie«, versicherte Norten.»Wäre es anders, wären wir längst nicht mehr am Leben.«

«Dann können sie uns in der Maschine nichts tun«, fuhr Joana fort.»Außerdem kann ich selbst auf diesem Bach schneller fahren, als ein Mensch rennen kann.«

«Du kommst ja nicht einmal hin«, behauptete Indiana.

«Vielleicht schon«, sagte Norten.»Der Himmel bewölkt sich. Es würde mich nicht wundern, wenn wir in einer halben Stunde Regen haben. Auf jeden Fall wird es sehr viel dunkler werden.«

«Wie beruhigend«, sagte Indiana mit ätzendem Spott.»Der Bach war schon bei Tage kaum zu erkennen.«

«Was ist los mit dir, Indy?«fragte Joana scharf.»Hast du Angst?«

«Ja«, gestand Indiana unumwunden.»Du etwa nicht?«

«Die haben wir alle«, beendete Norten die Diskussion ärgerlich.»Aber wir können auch nicht einfach hierbleiben und darauf hoffen, daß ein Wunder geschieht.«

«Vor ein paar Stunden waren Sie noch ganz anderer Meinung«, sagte Indiana.

Norten druckste einen Moment herum.»Das stimmt«, gestand er.»Aber ich habe mich … eben anders entschieden.«

«Um genau zu sein«, verbesserte ihn Indiana,»Sie spüren, daß irgend etwas vorgeht, nicht wahr?«

Norten blickte ihn durchdringend an und schwieg.

«Sie spüren es genau wie ich«, fuhr Indiana fort. Er deutete auf José.»Und du auch. Jeder hier fühlt es. Das dort draußen sind keine Wegelagerer oder Strauchdiebe. Irgend etwas geht dort vor. Ich weiß nicht, was es ist, aber es macht mir angst. Und Ihnen auch, Professor Norten.«

«Und wenn?«fragte Norten mit unbewegtem Gesicht.

«Wenn«, sagte Indiana,»dann wäre dies vielleicht der passende Moment, mir endlich die Wahrheit zu sagen. «Er deutete auf die dünne Goldkette an Nortens Hals.»Es hat irgend etwas mit diesen Anhängern zu tun. Was sind sie? Wirklich nur Schmuckstük-ke? Oder magische Gegenstände?«

«So ein Quatsch!«sagte José. Aber sowohl Indiana als auch Norten ignorierten seinen Einwurf einfach. Fast eine Minute lang blickten die beiden Männer sich schweigend an, und das, was ihre Blicke sich erzählten, das war mehr, als Worte vermocht hätten.

Trotzdem sagte Norten schließlich:»Sie sind Wissenschaftler wie ich, Dr. Jones. Sie sollten wissen, daß es so etwas wie Magie nicht gibt.«

«Natürlich«, erwiderte Indiana, ebenso ernst wie Norten.»Aber es gibt sehr wohl Dinge, die wir mit reiner Logik und Wissenschaft nicht erklären können, nicht wahr? Also können wir genausogut bei dem Wort Magie bleiben — bis wir ein besseres gefunden haben.«

Norten lächelte humorlos.»Wenn Sie so wollen.«

«Das ist aber immer noch keine Antwort auf meine Frage«, beharrte Indiana.»Welches Geheimnis umgibt diese Anhänger? Was ist so wichtig daran, daß Menschen dafür sterben mußten?«

«Glauben Sie mir, Dr. Jones«, sagte Norten ernst.»Ich weiß es nicht.«

«Und wenn Sie es wüßten, würden Sie es mir nicht verraten«, vermutete Indiana.

«Richtig«, sagte Norten.

Indiana seufzte tief.»So kommen wir nicht weiter«, sagte er.

«Dann spiel doch einfach den Klügeren und gib nach«, riet ihm José spöttisch.

Indiana wollte antworten, aber in diesem Moment fuhr draußen ein greller Blitz nieder und tauchte das Zimmer für eine Hundertstelsekunde in blauweiße, schattenlose Helligkeit. Indiana blinzelte, und auch Norten und Joana fuhren sich mit den Händen über die Augen. Im Kamin zersprang knackend ein Holzscheit, und ein Schauer winziger Funken regnete auf den Boden.

Indiana stand auf und trat mit ein paar Schritten zum Fenster. Der Himmel im Westen hatte sich mit schweren, tiefhängenden Wolken bezogen, und in weiter Entfernung konnte er ein dumpfes Donnergrollen hören. Der Waldrand lag wie ein mit dicker, schwarzer Tusche gemalter Strich über dem Horizont. Nichts bewegte sich zwischen ihm und der Hacienda — aber was hieß das schon? In den finsteren Schatten dort draußen konnte sich eine ganze Armee verbergen, ohne daß man ihre Anwesenheit auch nur ahnte. Und wahrscheinlich war es auch genau das, überlegte Indiana, was dort draußen auf sie wartete. Eine kleine Armee, aber eine Armee.

Er verscheuchte den Gedanken.»Sie hatten recht, Professor Norten«, sagte er.»Es gibt tatsächlich ein Gewitter.«

Norten stand auf und trat neben ihn ans Fenster. Und nach einigen Sekunden gesellte sich auch Joana zu ihnen. Nur José blieb im Sessel vor dem Kamin sitzen.

«Es kommt schnell näher«, sagte Norten. Ein besorgter Schatten huschte über sein Gesicht.»Das sieht nicht gut aus.«

«Haben Sie sich nicht gerade genau dieses Wetter gewünscht?«

Norten nickte und schüttelte fast in der gleichen Bewegung den Kopf.»Die Wolken schon, aber kein Gewitter. Und schon gar keinen Sturm. «Er sah Joana mit eindeutiger Sorge an.»Glaubst du, daß du die Maschine bei diesem Wetter starten kannst?«

«Ich weiß es nicht«, gestand Joana.»Ich bin noch nie bei schlechtem Wetter gestartet. Aber schlimmstenfalls«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie sich der Ausdruck von Sorge auf Nortens Gesicht in Enttäuschung verwandelte,»können wir die Maschine immer noch als Boot benutzen. Selbst wenn ich nicht starten kann, brauchen wir keine zehn Minuten für die zehn Meilen.«

«Nein«, sagte Norten düster.»Genau das können wir nicht.«

«Wieso?«frage Joana.

«Weil der Fluß …«

In diesem Moment zerriß ein weiterer gleißender Blitz den Himmel, und diesmal so nah und hell, daß nicht nur Indiana mit einem schmerzhaften Stöhnen die Lider zusammenpreßte.

Es half nicht viel. Er sah den Blitz noch immer; nicht mehr wirklich, sondern als grelles, zuckendes Nachbild auf seinen Netzhäuten, das sich wand und zitterte und …

Erstaunt riß er die Augen auf, starrte eine Sekunde aus dem Fenster und schloß die Lider dann wieder.

Das in einem unheimlichen, grünlichen Farbton leuchtende Nachbild auf seinen Netzhäuten war noch immer da. Aber was sich in seine Retina gebrannt hatte und nur allmählich verblaßte, das war nicht das Abbild des Blitzes, den er gesehen hatte.

Es war das Bild einer riesigen, sich windenden Schlange, aus deren Schädel ein gewaltiger Federbusch wuchs.

«Aber das ist doch … unmöglich!«hauchte Joana.

Indiana riß erstaunt die Augen auf und sah sie an.»Was ist unmöglich?«fragte er.

«Der Blitz«, stammelte Joana.»Ich meine, die … die …«Sie brach ab und blickte hilflos ihn und Norten und dann wieder ihn an.

Und als Indiana den Kopf wandte und Norten ansah, erkannte er auf dessen Gesicht den gleichen, fassungslosen Ausdruck wie auf dem Joanas und vermutlich auch auf seinem eigenen. Es war keine Einbildung gewesen. Die beiden hatten es auch gesehen.

Ein zweiter, noch grellerer Blitz machte die Nacht draußen für den Bruchteil einer Sekunde zum Tage, und diesmal war das Nachbild so stark, daß Indiana es sogar sah, ohne die Augen schließen zu müssen.

«Quetzalcoatl«, flüsterte Norten. Seine Stimme bebte vor Entsetzen.»Das … das ist …«

«Was redet ihr da für einen Unsinn?«fragte José unwillig. Er stand auf und kam näher, offensichtlich der einzige im ganzen Raum, der nichts von dem unheimlichen Vorgang bemerkt hatte.

Selbst die beiden Mexikaner waren bleich geworden. Auch sie mußten das Bild der Gefiederten Schlange gesehen haben. Und auch wenn sie nicht wußten, was es bedeutete, so erschreckte es sie fast zu Tode. Einer ließ schlichtweg sein Gewehr fallen und stürmte aus dem Raum, während der andere Schritt für Schritt vom Fenster zurückwich, bis er mit dem Rücken gegen die Wand neben dem Kamin stieß.

«Was hat das zu bedeuten?«fragte Joana aufgeschreckt.»Onkel Norten! Indy! Was geht hier vor?«

«Das solltest du besser den Professor fragen«, antwortete Indiana zornig.»Ich bin sicher, er weiß die Antwort.«

«Das ist doch nicht möglich!«flüsterte Norten. Die Worte galten nicht Indiana. Er sah ihn nicht einmal an, sondern starrte aus weit aufgerissenen, vor Angst dunkel gewordenen Augen aus dem Fenster.»Noch nicht jetzt! Sie haben noch nicht — «

«Sie haben noch nicht was?«hakte Indiana nach.

Norten fuhr sichtbar zusammen und wurde noch blasser. Aber er fiel auch diesmal nicht auf Indianas blitzartig nachgesetzte Frage herein, sondern wechselte übergangslos das Thema.

«José!«sagte er barsch.»Geh und hol deine Frau! Wir müssen weg hier! Sofort!«

«Ich verlange jetzt endlich eine Erklärung!«sagte Indiana, so laut, daß nur noch eine Winzigkeit gefehlt hätte, und er hätte wirklich geschrien.

Aber auch jetzt schüttelte Norten nur den Kopf.»Dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte er.»Wir müssen raus hier!«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, zuckte in diesem Moment ein dritter Blitz vom Himmel herab — und dieser richtete mehr Schaden an, als nur flimmernde Nachbilder in Form einer gefiederten Schlange auf ihren Netzhäuten zu hinterlassen. Indiana hörte ein unheimliches, berstendes Krachen, und dann schien das ganze Haus in seinen Grundfesten zu erbeben. Klirrend zerbrach überall Glas, Menschen schrien, und er hörte das schreckliche Geräusch von Holz, das Feuer gefangen hatte. Die Luft stank nach Ozon und brennendem Holz, und kaum eine Sekunde später drang flackernder Feuerschein vom oberen Ende der Treppe herab.

«Raus hier!«brüllte Norten mit überschnappender Stimme.

Und diesmal reagierte Indiana sofort. Blitzschnell fuhr er herum, packte Joana am Arm und stürmte auf den Ausgang zu.

Als sie durch die Halle rannten, traf ein zweiter Blitz das Haus.

Die Erschütterung war so stark, daß sie alle von den Füßen gerissen wurden und übereinander stürzten. Ein ungeheures Dröhnen und Krachen marterte Indianas Trommelfelle, und für Sekundenbruchteile war das gesamte Gebäude von einem unerträglich grellen, weißblauen Leuchten erfüllt. Die Luft knisterte elektrisch, und für einen Moment hatte er das Gefühl, flüssiges Feuer zu atmen. Das ganze Haus zitterte. Putz rieselte von der Decke, und weitere Fensterscheiben zerbrachen. Irgendwo stürzten polternd Möbelstücke um, und aus dem oberen Stockwerk drangen Geräusche, als breche der gesamte Dachstuhl zusammen. Indiana war noch nie in einem Haus gewesen, das vom Blitz getroffen wurde. Aber er hatte auch noch nie gehört, daß Blitze einschlugen wie Granaten. Dieser hier tat es. Er setzte das Haus nicht einfach in Brand, er ließ es förmlich explodieren.

«Lauft!«schrie Norten.»Rennt! Zum Flugzeug! Wartet nicht auf mich!«

Was Indiana anging, war er nur zu bereit, auf Nortens Wunsch zu hören. Aber Joana riß sich blitzschnell los, sprang auf die Füße und eilte zu Norten zurück. Ohne auf dessen Proteste zu achten, zog sie ihn in die Höhe und auf die Tür zu.

Als sie durch die Halle stürmten, brach der Boden auf. Ein schmaler, gezackter Riß spaltete das schwarzweiße Schachbrettmuster der Fliesen, erreichte die Wand neben der Tür und zertrümmerte auch sie. Indiana prallte mitten im Lauf zurück und riß auch Joana mit sich, als der schmale Spalt sich mit irrsinniger Geschwindigkeit zu einem halbmeterbreiten, bodenlosen Schacht ausweitete, aus dem Staub und ein unheimliches Donnern und Grollen emporstoben.

Und einen Herzschlag später Flammen.

Der Mann, der neben ihnen gelaufen war, hatte weniger Glück gehabt. Auch er versuchte, sich mitten im Lauf herumzuwerfen, aber seine Reaktion kam zu spät. Eine Sekunde lang stand er nach vorn gebeugt und mit wild rudernden Armen da, die Augen vor Entsetzen geweitet und einen Schrei auf den Lippen, der im Krachen und Grollen des Gewitters und dem Zusammenbrechen des Hauses unterging. Dann schoß eine brüllende Flammenzunge aus dem Abgrund herauf, hüllte ihn ein und riß ihn in die Tiefe.

Und etwas an dieser Flamme war … unheimlich. Indiana sah es nur aus den Augenwinkeln, denn alles geschah in Bruchteilen von Sekunden, während er noch stürzte und Joana dabei schützend an sich preßte, aber die Stichflamme war eigentlich keine Flamme, sondern eine Schlange; eine sich windende, brüllende, lodernde Schlange aus purer Glut, die sich um den Körper des Mannes wand und ihn dabei versengte, ehe sie ihn mit einem harten Ruck nach vorn und in den Schlund der Erde riß.

Er prallte auf, rollte herum und versuchte, sich instinktiv schützend mit seinem Körper zwischen Joana und die Feuerwand zu werfen, aber sie entschlüpfte seinem Griff und sprang sofort wieder auf die Füße. Indiana wollte sie zurückreißen, aber die Flammen strahlten eine so ungeheure Helligkeit ab, daß er geblendet war und kaum noch etwas sah. Er griff daneben.

«Onkel Norten!«schrie sie.»Wo bist du?«

Indiana glaubte, eine Antwort zu hören, aber er war sich nicht sicher; binnen Sekunden war die unheimliche Stille, die den ganzen Tag geherrscht hatte, einem wahren Höllenlärm gewichen: dem Brüllen der Flammen, dem unheimlichen Zischen der niederfahrenden Blitze und dem ungeheuerlichen Dröhnen und Krachen des Donners, dem Bersten des zusammenbrechenden Hauses, dem Schreien von Menschen und dem Prasseln von Flammen. Er sah eine Gestalt im Widerschein der zuckenden Blitze, sah Joana darauf zulaufen, und riß sie im letzten Moment am Arm zurück, als über ihren Köpfen die Decke einzubrechen begann und ein mannsdicker, brennender Balken niederbrach. Joana versuchte, seine Hand beiseitezuschlagen, aber er hielt mit unerbittlicher Kraft fest, stemmte sich selbst auf die Füße und deutete wild gestikulierend zur Tür.

«Wir müssen raus hier!«schrie er. Der Lärm war so gewaltig geworden, daß er nicht einmal sicher war, ob Joana die Worte überhaupt verstand. Aber sie schien zumindest die Bedeutung seiner Geste begriffen zu haben, denn sie schüttelte wild den Kopf und versuchte abermals, sich loszureißen. Indiana zerrte sie mit einem harten Ruck ganz zu sich heran und brüllte noch einmal:»Wir müssen raus! Das ganze Haus bricht zusammen!«

«Onkel Norten!«schrie Joana zurück.»Wir müssen ihn suchen!«

Einen Moment lang war Indiana versucht, sie sich schlichtweg über die Schulter zu werfen und loszustürmen; doch in diesem Augenblick erschien eine Gestalt in einem zerfetzten weißen Leinenanzug unter der Salontür und gestikulierte wild. Norten.

«Lauft zum Flugzeug!«schrie er.»Ich hole José und seine Frau! Lauft!«

Eine Sekunde lang zögerte Joana noch. Aber dann drehte sie sich herum, blickte einen Herzschlag lang aus angstvoll geweiteten Augen auf den mittlerweile gut meterbreiten Spalt im Boden und dann zur Tür, und als Indiana danach in ihre Augen sah, erkannte er darin zwar Angst, zugleich aber auch Entschlossenheit.

Er selbst fühlte sich kaum weniger verunsichert als das Mädchen. Der Spalt war nicht so breit, daß es wirklich gefährlich gewesen wäre, ihn zu überspringen — aber er dachte voller Entsetzen an die glühende Schlange aus Feuer, die den unglückseligen Mann verschlungen hatte. Der Spalt spie jetzt keine Flammen mehr, aber Indiana hatte nicht vergessen, wie entsetzlich schnell die Stichflamme in die Höhe geschossen war.

Aber sie hatten keine Wahl. Das ganze Haus zitterte und bebte jetzt ununterbrochen, und das Feuer griff rasend schnell um sich. Vom oberen Ende der Treppe strahlte eine unheimliche, fast weiße Glut zu ihnen herab, und die Hitze war beinahe unerträglich geworden. Entschlossen packte er Joanas linke Hand, sammelte alle Kraft — und stieß sich ab.

Ein Hauch höllischer Glut streifte sie, als sie über den Spalt sprangen. Und als Indiana nach unten blickte, sah er es: ein Nest sich windender, ineinander geschlungener, peitschender Schlangenkörper aus nichts anderem als aus Glut und Feuer, aus dem sich plötzlich ein fast mannsdicker Arm löste, der mit entsetzlicher Schnelligkeit zu ihnen heraufgriff. Es ging ungeheuer schnell, und doch sah Indiana alles mit schon fast übernatürlicher Klarheit, als hätte sich die Zeit geteilt und liefe plötzlich auf zwei unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Ebenen: Die Schlange reckte sich zu ihnen empor, ein waberndes, weißglühendes Ding mit Schuppen aus Feuer und kleinen, lodernden Flammenaugen, die Indiana voll unstillbarem Haß anstarrten, und ein aufgerissenes Maul wie der Schlund der Hölle.

Die Feuerschlange berührte sein Bein, wand sich darum, versengte die Hose und die Haut darunter — und löste sich wieder, im gleichen Moment, in dem Indiana bereits die entsetzliche Kraft zu spüren glaubte, die ihrem lodernden Körper innewohnte. Er spürte, wie etwas ungeheuer Mächtiges, ungeheuer Altes, Düsteres nach seiner Seele griff und sie zu Eis erstarren ließ, so wie die Feuerschlange seinen Körper verbrannte — und jäh zurückprallte.

Mit einem Schmerzensschrei schlug er auf der anderen Seite des Spaltes auf den Boden, strauchelte und stürzte vor der Tür auf die Fliesen. Er versuchte, Joana loszulassen, riß sie aber trotzdem mit aus dem Gleichgewicht und sah, wie sie einen ungeschickten, stolpernden Schritt machte und wuchtig gegen den Türrahmen prallte. Halb benommen taumelte sie zurück und sank auf die Knie. Aus einer kleinen Platzwunde an ihrer Schläfe sickerte Blut in einem dünnen, aber beständigen Strom.

Trotzdem kam sie vor ihm wieder auf die Füße, denn Indianas Bein brannte wie Feuer und gab unter dem Gewicht seines Körpers nach, als er aufzustehen versuchte. Ein pochender Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, und der Stoff seiner Hose zerfiel zu Asche, als er ihn mit den Fingern berührte. Die Haut über seinem Knöchel war rot, und schon jetzt begannen sich große, nässende Brandblasen zu bilden.

Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er aufzustehen, fiel zum dritten Mal auf die Knie und zog sich schließlich am Türpfosten in die Höhe, ehe er hinter Joana aus dem Haus taumelte.

Das Gewitter tobte jetzt genau über dem Haus. Das sonderbar kranke Licht des Vollmondes war dem stroboskopischen Flakkern der Blitze gewichen, die jetzt fast ununterbrochen niederzuckten — und fast ausnahmslos das Haus trafen! Es war, als würden sie magisch davon angezogen. Und Indiana brauchte nicht einmal mehr die Augen zu schließen, um jetzt wirklich zuckende Schlangen in diesen Blitzen zu erkennen, gewaltige, gleißende Monstren aus purer Energie, die den Zorn uralter Götter auf das Anwesen herabschleuderten.

Indiana verscheuchte den Gedanken und sah zum Fluß hinüber. In dem rasenden Flackern der Blitze wirkte das Flugzeug unheimlich und riesig; wie ein bizarrer, metallener Vogel, der träge mit den Flügeln schlug. Aber zu Indianas Überraschung schien es völlig unbeschädigt zu sein — die Angreifer hatten entweder die Mühe gescheut, es zu zerstören, oder sie wollten es einfach wiederhaben. Letztendlich gehörte es ihnen ja auch.

«Glaubst du, daß du starten kannst?«schrie er, während sie im Zick-Zack über den großen Vorplatz auf die Cessna zurannten.

«Nein!«schrie Joana zurück.»Unmöglich. Aber wir kommen trotzdem damit weg.«

Sie machte keine Anstalten, ihre Behauptung zu erklären — aber es hätte auch sehr wenig Sinn gehabt.

Die nächsten Minuten wurden zu einem wahren Spießrutenlauf. Das Gewitter und der unheimliche Feuersturm hatten sie die Angreifer draußen im Busch beinahe vergessen lassen — aber diese hatten sie nicht vergessen. Sie versuchten nicht, Indiana und das Mädchen mit ihren Blasrohren niederzustrecken — was bei den herrschenden Lichtverhältnissen und vor allem dem Wind ohnehin schwerlich möglich gewesen wäre —, aber sie waren offensichtlich auch nicht gewillt, sie entkommen zu lassen.

Indiana sah sich plötzlich einer riesenhaften, grellbunt geschminkten Gestalt gegenüber, die nur mit einem Lendenschurz, einem gewaltigen Federbusch auf dem Kopf und einer beinahe ebenso gewaltigen Axt in der rechten Hand bekleidet war. Er duckte sich instinktiv unter dem Beil hindurch, verlor auf dem regennassen Gras den Halt, schlug der Länge nach hin und riß dem Indio dabei mehr aus Versehen die Beine unter dem Leib weg. Der Maya stürzte, und als er sich in die Höhe stemmen wollte, versetzte ihm Joana einen gezielten Fußtritt unter das Kinn, der ihn die Augen verdrehen und bewußtlos ein zweites Mal zu Boden gehen ließ.

Aber es war noch nicht vorbei. Ein zweiter Riese tauchte aus der Dunkelheit auf und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Indiana und das Mädchen, fünfzehn oder zwanzig Schritte, bevor sie das Wasserflugzeug erreicht hatten. Der Anprall riß sie beide von den Füßen. Indiana versuchte, den Schwung des Sturzes auszunutzen, um den Angreifer über sich hinwegzuschleu-dern, aber der Indio schien die Bewegung vorausgeahnt zu haben. Statt ihm den Gefallen zu tun und im hohen Bogen über seinen Kopf zu fliegen, packte er im Gegenteil Indianas Fuß und verdrehte ihn so hart, daß er vor Schmerz aufbrüllte und sich krümmte.

Wieder war es Joana, die ihn rettete. Sie versetzte dem Maya einen Tritt vor die Kniescheibe. Der war zwar längst nicht kräftig genug, den Mann wirklich zu Fall zu bringen; wahrscheinlich tat er ihm nicht einmal wirklich weh. Aber er reichte, ihn für einen Moment abzulenken. Und diese Sekunde reichte Indiana.

Während der Maya mit einem zornigen Knurren herumfuhr und ausholte, um dem Mädchen eine Ohrfeige zu versetzen, zerrte Indiana die Peitsche vom Gürtel und schlug zu.

Es war ein Zufallstreffer, aber er tat seine Wirkung. Die Peitschenschnur wickelte sich um das Gesicht des Maya, traf seine Augen und blendete ihn. Der Indio brüllte auf, riß die Hände an den Kopf und stolperte nach vorn, als Indiana mit aller Macht am Peitschenstiel zerrte. Der sprang gleichzeitig in die Höhe und riß das rechte Knie hoch. Es landete zielsicher auf der Kinnspitze des Maya, der in diesem Moment nach vorn stürzte.

«Los jetzt!«schrie Joana, während Indiana noch mit schmerzverzerrtem Gesicht dastand und sein geprelltes Knie massierte.»Da kommen noch mehr!«

Indiana sparte sich die Mühe, sich herumzudrehen. Statt dessen humpelte er los, so schnell er konnte.

Diesmal schienen die alten Maya-Götter (oder auch pures Glück) ausnahmsweise einmal auf ihrer Seite zu sein, denn sie erreichten die Cessna, ohne von einem weiteren Indianer angegriffen oder von einem Pfeil getroffen worden zu sein. Hastig kletterte Indiana neben Joana in die Kabine und schaltete die Innenbeleuchtung ein, während das Mädchen bereits die Instrumente kontrollierte und den Motor zu starten versuchte.

«Das ist Wahnsinn!«flüsterte Indiana. Das Flugzeug zitterte und bebte unter den Hieben des Windes, und die unaufhörlich zuckenden Blitze verwandelten die Welt draußen in ein bizarres Bild aus absoluter Dunkelheit und grellweißem, blendendem Licht, in dem er seine Umgebung mehr ahnen als wirklich sehen konnte.»Du hast keine Chance, das Ding hochzubekommen!«

«Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Joana und drückte erneut auf den Anlasser. Der Motor spuckte, drehte ein paarmal schwerfällig durch, ging wieder aus — und erwachte dann mit einem dumpfen Grollen zum Leben. Der große Propeller vor der Frontscheibe der Kabine verwandelte sich in ein wirbelndes Rad aus Schatten.

Indiana blickte mit klopfendem Herzen nach draußen. Die Ha-cienda brannte lichterloh, und vor den zuckenden Flammen waren die Schatten zahlreicher Menschen zu erkennen, die in ein wildes Handgemenge verstrickt waren. Immer wieder blitzte das Mündungsfeuer von Pistolen und Gewehren auf, aber das Heulen des Sturmes und das unablässige Donnergrollen verschluckten jeden anderen Laut. Vielleicht war es gerade das, was den Anblick des Kampfes so gespenstisch erscheinen ließ.

«Was hast du eigentlich vor?«schrie er.

Joana antwortete nicht, sondern hantierte mit verbissenem Gesichtsausdruck an den Kontrollen herum. Das Flugzeug zitterte und begann zu ächzen, als Joana die Umdrehungszahl des Motors langsam erhöhte.

Fast widerwillig setzte sich die Cessna in Bewegung. Indianas Herz machte einen erschrockenen Hüpfer und schien direkt unterhalb seines Kehlkopfes weiterzuhämmern, als etwas mit einem fürchterlichen Scharren an der Unterseite der Schwimmkufen entlangschrammte. Dann kam die Maschine frei und glitt schneller auf die Hacienda zu.

«Da kommen Onkel Norten und deine Freunde«, schrie Joana und machte eine Kopfbewegung zu dem brennenden Gebäude.»Hilf ihnen herein.«

Tatsächlich hatten sich drei der Schatten aus dem Kampfgetümmel gelöst und rannten im Zick-Zack und mit weiten Sprüngen auf das Wasserflugzeug zu. Ein halbes Dutzend anderer Schatten verfolgte sie, und Indiana sah, wie Norten sich mehrmals im Laufen umdrehte und Schüsse auf sie abgab, augenscheinlich jedoch nicht traf. Dafür nahm der Kampf vor der Ha-cienda jetzt rasch an Heftigkeit ab. Offenbar hatten es die Indios nicht auf Nortens Männer abgesehen, sondern einzig und allein auf ihn. Oder auf etwas, was er bei sich trug.

Schaudernd dachte Indiana noch einmal an jenen schrecklichen Sekundenbruchteil zurück, in dem Joana und er über den Abgrund gesprungen waren. Die klopfenden Schmerzen in seinem Bein erinnerten ihn nachhaltig daran, daß die Feuerschlange keine Einbildung gewesen war. Aber wieso hatte sie ihn nicht in die Tiefe gezerrt wie den Mann, der vor seinen Augen gestorben war? Sie hatten ihn doch schon gehabt. Er hatte die Berührung ihres lodernden Körpers gespürt, ebenso wie den eisigen Griff der uralten Mächte, die sie erschaffen hatten. Ein einziger winziger Ruck noch, und Joana und er …

Und dann wußte er die Antwort.

Die Erklärung war so einfach, daß er sich für einen Moment verblüfft fragte, wieso er nicht schon längst darauf gekommen war. Er …

Der Gedanke entschlüpfte ihm wie eine glitschige Schlange, die sich zwischen seinen Fingern hindurchwand und davonkroch, ehe er sie fassen konnte, und zurück blieb ein Gefühl tiefer Enttäuschung.

Eine Handbewegung von Joana riß ihn in die Wirklichkeit zurück.

Norten, Anita und José hatten den Bach erreicht und rannten jetzt heftig gestikulierend neben der Cessna her, die immer schneller wurde. Indiana öffnete die Tür, streckte den Arm heraus und schüttelte den Kopf, als José als erster nach seiner Hand greifen wollte. Statt dessen ergriff er Anitas ausgestreckten Arm und zog sie mit einem kräftigen Ruck zu sich herein. Erst dann half er Norten und als letztem José, in die Kabine zu klettern. Sie quetschten sich auf die schmale hintere Sitzbank.

«Festhalten!«schrie Joana, kaum daß Indiana die Tür zugezogen hatte, und gab rücksichtslos Gas. Die Cessna machte einen regelrechten Satz, und die beiden grellbunt bemalten Gestalten, die mit weit ausgestreckten Armen nach den Tragflächen gesprungen waren, fielen daneben und landeten im Wasser.

«Um Gottes willen — laß das!«kreischte Indiana voller Panik, als Joana das Flugzeug immer mehr beschleunigte. Die Cessna bockte und hüpfte wie ein Achterbahnwagen, der jeden Moment aus den Schienen zu springen droht. Und im flackernden Licht der Blitze konnte er erkennen, daß sich der Bach vor ihnen jetzt heftiger wand; und als wäre dies alles noch nicht genug, wurde er auch merklich schmaler.

«Versuch, die Geschwindigkeit zu halten!«schrie Norten.»Der Bach mündet in den Fluß, zwei Kilometer von hier. Dort können wir abheben!«

«Unmöglich!«wiederholte Joana.»Der Sprit reicht nicht!«

Norten zerbiß einen Fluch auf den Lippen und drehte sich herum, um nach den Indios Ausschau zu halten. Die Maya waren ein gutes Stück zurückgefallen, rannten aber mit unvermindertem Tempo hinter ihnen her. Und sie hatten auch allen Grund, das zu tun, dachte Indiana. Nur ein ganz kleines bißchen Pech, und der Treibstoff wäre gleich alle, eine der Schwimmkufen würde sich an einem Stein verfangen, sie würden das Bachbett verlieren, oder Joana würde eine der wilden Kehren und Windungen des Flüßchens einfach zu spät bemerken und die Maschine auf das Ufer setzen oder …

Indiana fielen auf Anhieb ungefähr hundertfünfzig Gründe ein, aus denen ihre wahnwitzige Flucht gar nicht gelingen konnte.

Aber sie gelang.

Obwohl alle Regeln der Wahrscheinlichkeit und der Vernunft dagegen sprachen, schaffte es Joana irgendwie, die Cessna die zwei Kilometer bis zum Fluß hinab durch den seichten Bach zu steuern, und es gelang ihr dabei sogar, noch ein wenig an Geschwindigkeit zuzulegen, so daß die Indios weiter zurückfielen und bald gar nicht mehr zu sehen waren.

«Auf die andere Seite«, sagte Norten hastig.»Versuche, am anderen Ufer anzulegen. Die Strömung ist sehr stark. Bis sie hier durchgeschwommen sind, sind wir in Sicherheit.«

«Vielleicht ertrinken ja ein paar von ihnen«, sagte José hoffnungsvoll.

Joana warf einen nervösen Blick auf den Treibstoffanzeiger — die Nadel stand schon unter der Null —, biß sich auf die Unterlippe und nickte, während Indiana einen Moment lang ernsthaft darüber nachdachte, José am Kragen zu packen und aus der Maschine zu werfen. In schrägem Winkel glitt das Wasserfahrzeug auf den Fluß hinaus und strebte dem gegenüberliegenden Ufer zu.

Als sie die Mitte des Flusses erreicht hatten, ging der Motor aus.

Joana fluchte und hantierte wie wild an den Kontrollen, während Indiana fast erleichtert aufatmete und Norten leichenblaß wurde.

«Keine Angst«, sagte Joana.»Wir schaffen das schon. Zur Not lassen wir uns einfach treiben. Unser Schwung reicht aus, das Ufer zu erreichen.«

«Nein«, sagte Norten leise,»dazu reicht er nicht.«

Indiana sah verwirrt zuerst in Nortens Gesicht und dann aus dem Fenster — und dann verlor auch sein Gesicht jede Farbe.

Obwohl der Motor nicht mehr lief, bewegte sich das Flugzeug weiter — ja, es wurde sogar schneller!

«Was bedeutet das?«flüsterte er.

«Hören Sie es nicht?«gab Norten gepreßt zurück.

Indiana lauschte einen Moment. Und tatsächlich — unter den Grollen des Donners und dem unablässigen Zischen und Krachen der Blitze hörte er ein anderes, dunkleres Geräusch: ein tiefes, vibrierendes Donnern, wie von einer Felslawine oder einer Million Pferdehufe — oder von Wasser, das aus großer Höhe herabstürzt …

«Ein Wasserfall«, murmelte er.

Norten nickte.»Drei Kilometer von hier. Vielleicht jetzt nur noch zwei.«

«Ein Wasserfall?«keuchte José. Erschrocken richtete er sich kerzengerade auf der Sitzbank auf.»Wir … wir müssen raus hier!«schrie er plötzlich. Er versuchte, Anita zur Seite zu stoßen, um zur Tür zu gelangen, aber Norten riß ihn mit einer groben Bewegung zurück.

«Das wäre Selbstmord«, sagte er.»Die Strömung ist viel zu stark. Sie würde dich wegreißen.«

«Und in diesem Ding sterben wir auch!«heulte José.

«Kannst du sie noch einmal starten?«fragte Indiana.»Bitte, Joana — versuch es!«

Joana nickte nervös.»Ich probier ja schon alles«, sagte sie.

«Probieren reicht nicht«, sagte Indiana beschwörend.»Tu es! Du mußt sie irgendwie ankriegen. Wir müssen das Ufer erreichen!«

«Ich versuch es ja schon!«antwortete Joana und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihr Gesicht war schweißnaß.»Es müßte noch ein winziger Rest im Tank sein. Bete, daß er reicht!«

Indiana betete nicht nur, er verpfändete seine Seele in diesen Augenblicken Gott oder dem Teufel oder jedem, der sie haben wollte, wenn er nur ein Wunder geschehen und den Motor noch einmal anspringen ließe.

Aber seine Gebete wurden nicht erhört. Die Cessna, deren Nase sich jetzt genau auf die Flußmitte ausgerichtet hatte, wurde immer schneller und schoß mittlerweile mit dem Tempo eines Schnellbootes über die Wellen. Und wenn Indiana genau hinsah, dann glaubte er, vor ihnen — nicht mehr halb so weit vor ihnen, wie er gehofft hatte — eine dünne, verschwommene Linie aus stiebendem Wasser zu sehen, eine Linie, vor der sich die Wellen des Flusses schäumend brachen — und hinter der nichts mehr war.

Die Cessna wurde schneller und schneller, die Linie aus Staub, Schaum und schwarzer Leere wuchs mit rasender Geschwindigkeit heran, Joana hantierte immer heftiger an ihren Kontrollen und preßte den Daumen so heftig auf den Startknopf, daß das Blut daraus wich, das Grollen des Wasserfalles wurde immer lauter — und dann hatten sie den Wasserfall erreicht, und unter der Cessna war nichts mehr!

Sie alle schrien gellend auf, als das Wasserflugzeug, vom Schwung seiner eigenen Bewegung getragen, noch ein gutes Stück über die Kante des Wasserfalles hinausschoß und sich seine Nase dann ganz langsam zu senken begann. Tief unter ihnen — entsetzlich weit unter ihnen — erkannte Indiana den Hexenkessel aus kochendem Schaum, in dem das Wasser am Fuße der Felswand auseinanderbarst, und er spürte die unsichtbare Hand, die nach dem Flugzeug griff und aus seinem Gleiten binnen weniger Sekundenbruchteile einen unkontrollierten Sturz machen würde.

Und dann sprang der Motor an.

Joana drückte den Gashebel mit einem erleichterten Aufschrei ganz nach vorn, der Propeller drehte sich schneller und schneller, und aus dem Sturz der Cessna wurde wieder ein schnelles, jetzt aber kontrolliertes Gleiten. Im spitzen Winkel und viel zu schnell näherte sich das Wasserflugzeug dem Fluß, fing seinen Sturz im allerletzten Moment ab und gewann für einen winzigen Moment sogar noch einmal an Höhe.

Indiana wollte gerade erleichtert aufatmen, als der Motor wieder ausging. Und der Laut, mit dem er es diesmal tat, verriet ihm, daß er nicht mehr anspringen würde. Die Tanks waren endgültig leer.

Aber das letzte Anspringen des Propellers hatte gereicht. Sehr hart schlug die Cessna auf der Wasseroberfläche auf, tauchte fast bis zum Rumpf im Fluß unter und sprang wie ein flach geworfener Stein noch zwei-, dreimal hintereinander in die Höhe. Aber es gelang Joana, die Maschine unter Kontrolle zu halten.

Mit einem erschöpften Ausatmen ließ sich das Mädchen über dem Steuerknüppel zusammensinken.

«Oh, mein Gott«, stöhnte José auf dem Rücksitz und sank wimmernd in sich zusammen, während Anita mit starrem Gesicht ins Leere blickte. Norten atmete hörbar auf, und Indiana wischte sich unauffällig mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

«Das war eine Meisterleistung«, sagte er anerkennend.»Phantastisch gemacht, Joana.«

Das Mädchen hob zitternd den Kopf und blickte ihn aus Augen an, die dunkel vor Furcht waren.»Das war pures Glück«, murmelte es.»Weiter nichts.«

«Auf jeden Fall leben wir noch«, sagte Horten.»Ohne dich hätten wir es nie geschafft.«

«Ohne sie«, sagte José böse,»wären wir gar nicht hier!«

Joana zuckte mit den Schultern, setzte sichtbar zu einer geharnischten Antwort an und beließ es dann bei einem abermaligen Achselzucken.

«Hört auf zu streiten«, sagte Norten.»Versuchen wir lieber, von hier wegzukommen.«

«Mit dieser Maschine kommen wir nirgendwo mehr hin«, sagte Joana.»Die Tanks sind völlig leer.«

Norten machte eine verneinende Geste.»Ein paar Kilometer flußabwärts liegt ein Laden«, sagte er.»Sie haben auch Benzin. Wir können dort auftanken.«

Joana wollte widersprechen, aber Norten fuhr mit leicht erhobener, aber sehr eindringlicher Stimme fort.»Sie werden nicht aufgeben, Joana. Sie werden eine Weile brauchen, aber sie werden uns verfolgen, glaub mir.«

Und das war das letzte Wort, das sie aus ihm herausbekamen, bis das Flugzeug mit der Strömung den Fluß hinabgetrieben war und sie den Laden erreicht hatten, von dem er gesprochen hatte.

Wie sich herausstellte, hatten sie diesmal gleich in doppelter Hinsicht Glück: Der Besitzer des kleinen Ladens, in dem es mit Ausnahme eines komplett ausgestatteten Unterseebootes offensichtlich wirklich alles zu kaufen gab, war sowohl anwesend als auch bereit, ihnen gegen einen völlig überhöhten Preis genug Treibstoff zu verkaufen, daß sie die Tanks der Cessna füllen konnten. Und Joana, die die Zeit, die Indiana und Norten brauchten, die scheinbar bodenlosen Tanks des Flugzeugs mit Zwanzig-liter-Kanistern aufzufüllen, dazu ausgenutzt hatte, das Flugzeug im Schein einer Taschenlampe zu untersuchen, erklärte zufrieden, daß die Maschine offensichtlich keinen ernsthaften Schaden genommen hatte; sah man von den fast zwei Dutzend kleiner Blasrohrgeschosse ab, die in Tragflächen und Heck steckten.

«Ich denke, nun ist der Moment der Wahrheit gekommen«, sagte Indiana, als sie alle wieder ins Flugzeug gestiegen waren und Joana den Motor startete. Er wandte sich mit einem auffordernden Blick an Norten, aber der Professor schüttelte nur den Kopf.

«Zuerst sollten wir uns über unser Reiseziel unterhalten«, sagte er.»Wir müssen einen Ort finden, an dem sie uns nicht aufspüren.«

«Wie wäre es mit dem Mond?«fragte Indiana spöttisch.

Aber Norten blieb ernst.»Was muß noch passieren, damit Sie begreifen, daß diese Männer gefährlich sind, Dr. Jones?«

«Oh, ich glaube, das habe ich schon begriffen«, antwortete Indiana im gleichen Tonfall, während er abwechselnd Norten und José regelrecht mit Blicken durchbohrte.»Ich bin nur noch nicht ganz sicher, wer gefährlicher ist — diese Wilden oder Sie und Ihr sauberer Freund da.«

José blickte ihn haßerfüllt an, sagte aber nichts, und Norten antwortete:»Wenn Sie das Gefühl haben, daß wir eine Gefahr für Sie darstellen, Dr. Jones, dann liegt das einzig und allein an der Tatsache, daß Sie sich ständig in Dinge einmischen, die Sie nichts angehen. Hätten Sie José in New Orleans den Anhänger ausgehändigt und wären Ihrer Wege gegangen, wäre rein gar nichts passiert.«

«Mir nicht«, sagte Indy böse.»Aber Joana, nicht wahr?«

«Wir hätten sie schon beschützt«, erwiderte Norten ärgerlich.

«Das habe ich gesehen«, sagte Indiana böse.»Einer dieser Kerle hätte sie um ein Haar umgebracht.«

Joana ließ den Motor etwas schneller drehen und lenkte die Cessna wieder in die Flußmitte hinaus.»Das beste wäre«, sagte sie,»wir fliegen zur Küste. Ich habe keine große Erfahrung in Nachtflügen. Aber ich denke, wenn ich an der Küste entlangfliege, werde ich Havanna schon wiederfinden.«

«Eine gute Idee«, sagte José.»Nur, daß wir nicht nach Havanna fliegen werden.«

Indiana blickte ihn stirnrunzelnd an. José lächelte, griff in die Jackentasche und zog einen zerknitterten Zettel heraus, den er Joana reichte.

Das Mädchen nahm ihn entgegen, überflog die darauf gekritzelten Zahlen stirnrunzelnd und warf José einen fragenden Blick zu.»Was ist das?«

«Das sind Längen- und Breitenmaße, mein Kind«, sagte José.

«Das sehe ich selbst«, erwiderte Joana ärgerlich.»Aber was soll ich damit?«

«Dorthin fliegen, Kleines«, sagte José fröhlich.»An dieser Position erwartet uns ein Boot, auf dem wir vor diesen schießwütigen Steinzeitmenschen sicher sein werden.«

«Ich habe nicht vor, dort hinzufliegen«, sagte Joana ernst.»Aber ich setze Sie gern hier ab und Sie können dorthin schwimmen.«

«Das glaube ich nicht«, erwiderte José und griff abermals in die Tasche.

«Ach?«fragte Indiana lauernd.»Und wieso nicht?«

«Weil ich ein Argument habe, das euch beide ganz bestimmt umstimmen wird«, sagte José, zog einen großkalibrigen Revolver aus der Tasche und drückte den Lauf unsanft gegen Indianas rechtes Nasenloch.