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Der Flug dauerte bis lange nach Mitternacht. Und daß Joana das, was José als Boot bezeichnet hatte, schließlich fand, lag weniger an ihren nautischen Fähigkeiten als mehr daran, daß sich das Schiff gute zehn Meilen von der Küste Kubas entfernt auf hoher See aufhielt und sämtliche Positionslichter gesetzt hatte. Das Flugzeug wasserte eine halbe Meile vom Schiff entfernt und legte die restliche Strecke auf seinen Schwimmkufen zurück. Noch bevor sie dem Schiff auch nur nahe gekommen waren, flammte an Deck ein starker Scheinwerfer auf, dessen Strahl die Cessna erfaßte und nicht mehr losließ.
Indiana blinzelte geblendet und überlegte einen Sekundenbruchteil, daß dies wahrscheinlich die letzte Chance war, die er hatte, sich herumzudrehen und José den Kinnhaken zu verpassen, den er ihm zugedacht hatte; und nicht erst seit dem Augenblick, in dem er die Pistole gezogen und auf ihn gerichtet hatte.
Aber er tat es nicht. José hatte die Waffe zwar schließlich aus seinem Gesicht genommen, die Hand mit der Pistole aber so auf den Schoß gelegt, daß er nur abzudrücken brauchte, um ihm durch die Rückenlehne des Sitzes hindurch eine Kugel in den Rücken zu jagen. Indiana wäre selbst bereit gewesen, dieses Risiko in Kauf zu nehmen — aber die Gefahr, daß sich ein Schuß löste und in der Enge der Kabine Joana traf, war einfach zu groß. Er verlieh José im Geiste einen weiteren Minuspunkt — die er allesamt bei passender Gelegenheit in körperliche Gewalttätigkeiten einzutauschen gedachte — und entschied sich, auf eine bessere Gelegenheit zu warten.
Und außerdem näherten sie sich in diesem Moment dem Schiff, und was Indiana im bleichen Mondschein sah, das verblüffte ihn viel zu sehr, als daß er auch noch einen weiteren Gedanken an José verschwendet hätte.
Schon aus der Luft war ihm das Schiff riesig vorgekommen.
Aber das stimmte nicht.
Es war nicht riesig. Es war gigantisch.
Er hatte eine Yacht erwartet oder allenfalls etwas wie einen alten Bananendampfer, irgendeinen Seelenverkäufer, dessen Kapitän José für ein Schmiergeld gekauft hatte. Aber was vor ihnen auf dem Wasser lag, riesig und finster und so massig wie eine schwimmende Stadt, das war kein Seelenverkäufer — es war ein Kriegsschiff der US-Navy! In riesigen, in der Dunkelheit fast unheimlich leuchtenden Lettern prangte der Name USS SARATOGA am Bug. Seiner Größe nach zu schließen, mußte es sich mindestens um einen Kreuzer handeln, wenn nicht um ein Schlachtschiff. Was um alles in der Welt ging hier vor?
Joana schaltete den Motor ab, als sie sich noch zwanzig Meter vom Schiff entfernt befanden. Es war ein sehr großes Schiff — eines jener gewaltigen Schiffe, wie man sie normalerweise nur in Hollywood-Filmen oder als verschwommenen Schemen am Horizont zu sehen bekam. Das Deck war voller Männer, einer kleinen Armee, von denen nicht einer unbewaffnet war, wie Indiana voller Unbehagen erkannte.
Eine Tragfläche der Cessna schlug mit einem dumpfen Laut gegen die gewaltige Flanke des Kreuzers. Fast im gleichen Augenblick wurde eine Strickleiter zu ihnen heruntergelassen, und Sekunden später schon polterten Schritte auf den Tragflächen des kleinen Wasserflugzeuges! Ein Mann in der dunkelblauen Uniform der US-Navy band ein Tau um eine der Verstrebungen, ein zweiter kletterte geschickt auf eine der Schwimmkufen herunter und öffnete die Tür.
«Freu dich bloß nicht zu früh, alter Freund«, sagte José grinsend, als Indiana erleichtert aufatmete.
Und eine Sekunde später verstand Indy auch, was diese Worte bedeuteten. Das riesige, graugestrichene Schiffsungetüm und vor allem die Navy-Uniformen seiner Besatzung hatten ihn instinktiv Hilfe erwarten lassen — aber im Moment bestand diese Hilfe aus dem Lauf eines Gewehres, das in den Händen des Marinesoldaten lag und genau auf einen Punkt zwischen seinen Augen zielte.
Indiana schenkte José einen letzten bösen Blick, kletterte umständlich als erster aus der Kabine und handelte sich einen derben Stoß mit dem Gewehrlauf in den Rücken ein, als er eine Sekunde zu lange zögerte, nach der Strickleiter zu greifen und daran hinaufzusteigen.
Kräftige Arme griffen nach ihm und zogen ihn vollends an Deck des Kriegsschiffes, während die anderen hinter ihm die Strickleiter emporzuklettern begannen. Oben erwartete ihn ein halbes Dutzend weiterer Gewehrläufe, das sich drohend auf ihn richtete. Ein Soldat befahl ihm mit einer groben Geste, beiseite zu treten, und zwei unbewaffnete, dafür aber muskelbepackte Matrosen nahmen ihn in die Mitte. Einer von ihnen tastete ihn rasch und grob nach Waffen ab, wobei er die zusammengerollte Peitsche an seiner Seite offensichtlich nicht als eine solche betrachtete, denn er warf nur einen stirnrunzelnden Blick auf sie und ließ sie, wo sie war.
Nach und nach kletterten auch die anderen über die Strickleiter an Bord des Kriegsschiffes. Als erstes Joana, dicht gefolgt von Anita und José. Norten bildete den Abschluß. Indiana fiel auf, daß er von den Soldaten weit weniger grob als er und die anderen behandelt wurde. Erstaunlicherweise sogar zuvorkommender als José.
Und er war auch der einzige, der nicht nach Waffen durchsucht wurde. Zu Indianas Erstaunen wurde selbst José die Pistole abgenommen. Und auch die beiden Frauen wurden — dezent, und von zwei Matrosen, deren Ohren sich während der Prozedur dunkelrot färbten, aber sehr gründlich — nach Waffen abgetastet.
«Sie sind sauber, Lieutenant«, sagte einer der Matrosen schließlich.
Der mit Lieutenant Angesprochene nickte und deutete auf die Decksaufbauten, die sich in der Dunkelheit wie ein gewaltiges, stählernes Gebirge mit rechteckigen Graten und Winkeln hinter ihnen erhoben.»In Ordnung«, sagte er.»Dann folgen Sie mir bitte.«
Indiana rührte sich nicht von der Stelle.»Was zum Teufel geht hier vor?«fragte er ärgerlich.»Wer sind Sie, und wieso behandeln Sie uns wie Gefangene?«
«Das wird Ihnen alles unser Kapitän erklären«, sagte der Lieutenant. Mit einem dünnen Lächeln fügte er hinzu:»Und je eher Sie uns folgen, desto eher bekommen Sie auch Antworten auf Ihre Fragen.«
Indiana schenkte ihm einen bösen Blick, sagte aber nichts mehr, sondern trat rasch neben Joana und bedeutete ihr mit Blik-ken, zu tun, was der Mann von ihnen verlangte.
«Keine Sorge«, sagte er.»Jetzt kommt alles in Ordnung. «Er lächelte aufmunternd, griff in die Jackentasche und nahm ein sauberes Tuch heraus, mit dem er die kleine Rißwunde an Joanas Stirn betupfte.
Joana sah ihn verwirrt an.
«Sie blutet wieder«, sagte er.»Du solltest dir ein Pflaster geben lassen. «Gleichzeitig rieb er etwas heftiger über Joanas Stirn, so daß der winzige Riß nun wirklich wieder aufbrach und zu bluten begann. Joana verzog schmerzhaft das Gesicht, sagte aber nichts. Entweder, sie hatte verstanden, oder sie war viel zu verblüfft, um auch nur einen Laut von sich zu geben.
«Ist es schlimm?«erkundigte sich der Lieutenant und trat besorgt näher.
Indiana schüttelte den Kopf.»Nicht schlimm«, sagte er.»Aber wahrscheinlich ziemlich schmerzhaft.«
Der Offizier begutachtete die Schramme.»Unser Bordarzt wird sich sofort darum kümmern«, sagte er.
«Nimm solange mein Tuch«, sagte Indiana, lächelte aufmunternd und drückte Joana das zusammengerollte Taschentuch in die Hand. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte es verräterisch zwischen den Falten des weißen Stoffes auf, dann schloß Joana die Hand fester um das Tuch. Indiana warf einen raschen Blick in die Runde und registrierte befriedigt, daß offensichtlich keiner der anderen etwas gemerkt hatte.
Er war nicht einmal sicher, ob Joana wirklich verstanden hatte, was er tat. Sie sah vollständig verstört aus. Offensichtlich verstand sie so wenig wie er, was hier vorging — und damit schien sie nicht allein zu sein. Auch Anita wirkte erschrocken, und auf Josés Gesicht hatte sich ein zutiefst verwirrter, halb zorniger, halb auch bestürzter Ausdruck breitgemacht. Einzig Norten wirkte völlig gelassen, ja, beinahe zufrieden.
Flankiert von einem Dutzend bewaffneter Matrosen betraten sie das Innere des Schiffes. Indiana hatte damit gerechnet, zur Brük-ke hinaufgeführt zu werden, aber statt dessen bewegten sie sich über mehrere Treppen nach unten und schließlich einen langen, nackten Korridor aus Stahl entlang, an dessen Ende sich ein gepanzertes Schott befand, das von zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren bewacht wurde. Ihr Führer beschied ihnen mit einer Geste, stehenzubleiben, klopfte an und trat hindurch. Er blieb eine geraume Weile fort, und als er zurückkam, deutete er nur auf Norten und Indiana.»Folgen Sie mir, meine Herren«, sagte er.
«He!«protestierte José.»Und was ist mit uns?«
«Wir haben bereits Quartiere für Sie vorbereitet«, antwortete der Lieutenant.»Sie werden alles Notwendige für Ihre Bequemlichkeit vorfinden. Und die beiden Damen auch.«
«Ich bleibe nicht allein«, protestierte Joana.
Der Lieutenant lächelte milde.»Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben, Miss«, sagte er.»Ich verbürge mich für jeden einzelnen meiner Männer.«
Joana schüttelte trotzig den Kopf.»Ich will bei Indy bleiben«, sagte sie.
«Sie sind hier auf einem Kriegsschiff der US-Navy«, sagte der Offizier mit mildem Tadel.»Nicht auf einem Piratenschiff.«
«Bitte tu, was er sagt«, sagte Indiana leise. In Joanas Augen blitzte es schon wieder trotzig auf. Und er fügte hinzu:»Ich werde es kurz machen. In bin in ein paar Minuten bei dir.«
Dem Blick des Lieutenants nach zu schließen, bezweifelte der das. Aber er enthielt sich jeden Kommentars, öffnete das gepanzerte Schott ein wenig weiter und wiederholte seine auffordernde Handbewegung.»Bitte, treten Sie ein, Dr. Jones«, sagte er.»Commander Bentley erwartet Sie.«
Indiana trat gebückt durch die Tür und fand sich unversehens in einem überraschend behaglich eingerichteten Raum wieder, der weniger an eine Kajüte auf einem Kriegsschiff als mehr an ein luxuriös eingerichtetes Hotelzimmer erinnerte: Auf dem Boden lag ein weicher Teppich, und das nackte Grau der Stahlwände verbarg sich zum größten Teil hinter geschmackvollen Bildern und Drucken, mit denen der Bewohner dieser Kabine versucht hatte, ihr etwas von ihrer kalten Sachlichkeit zu nehmen. Auf einem kleinen Regal neben der Tür stand ein kunstvoll gefertigtes Modell der Mayflower, daneben ein kleines Schränkchen voller Bücher. Der Raum machte einen durch und durch wohnlichen Eindruck. Einzig das runde Bullauge in einer der Wände störte ein wenig.
Während Norten hinter im eintrat und der Lieutenant das Schott von außen wieder schloß, betrachtete Indiana interessiert den grauhaarigen, kräftig gebauten Mann, der hinter dem gewaltigen Schreibtisch saß und ihn mit unverhohlener Neugier musterte. Er trug eine dunkelblaue Kapitänsuniform mit schmalen, goldenen Streifen auf Schultern und Ärmeln und hatte das gleiche graue Haar und das gleiche, kantige Gesicht wie Norten. Aber trotz der Härte seiner Züge und des energischen Ausdrucks in seinen Augen wirkte er sympathisch.
«Commander Bentley, nehme ich an?«
Norten nickte. Mit einer erklärenden Geste deutete er auf den Mann hinter dem Schreibtisch und sagte:»Darf ich vorstellen: Commander Bentley Norten. Ein … alter Freund von mir.«
Indiana wollte eine Frage stellen, aber Bentley stand mit einer fließenden Bewegung hinter seinem Schreibtisch auf und bewies damit, daß er tatsächlich so groß war, wie Indiana angenommen hatte; er überragte sowohl ihn als auch Norten um mehr als eine Handspanne.
«Aberbitte, Dr. Jones, nehmen Sie doch Platz«, sagte er.»Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen eine Menge Fragen auf der Zunge brennen. Es redet sich bequemer im Sitzen. «Er deutete auf eine kleine Sitzgruppe neben der Tür, wartete, bis Indiana und Norten Platz genommen hatten, und trat dann zu einem Schrank, aus dem er eine Whisky-Flasche und drei Gläser herausnahm.»Sie nehmen doch einen Drink mit mir?«
Indiana war nicht nach Trinken zumute. Aber er nickte trotzdem und ließ es zu, daß Bentley die drei Gläser einschenkte und ihm über den Tisch hin zuschob, trank aber nicht, sondern drehte seines nur unschlüssig in den Fingern.
«Sie sind also Indiana Jones«, begann Bentley das Gespräch.»Greg hat viel von Ihnen erzählt — aber ich muß gestehen, daß ich Sie mir anders vorgestellt habe.«
«Und wie?«fragte Indiana, während er sehr vorsichtig am Inhalt seines Glases nippte.
Bentley zuckte mit den Schultern und nahm selbst einen gewaltigen Schluck Whisky.»Anders eben«, sagte er.»Aber ich kann nicht sagen, daß ich enttäuscht wäre. «Er unterbrach sich für einen Moment und wandte sich an Norten.»Wie ist es auf der Ha-cienda gelaufen?«
«Gar nicht gut«, gestand Norten.»Wir hatten eine Menge Ärger.«
Bentley deutete mit einer Kopfbewegung auf Indiana.»Mit ihm?«
«Nein. Im Gegenteil«, sagte Norten.»Ohne Dr. Jones — und vor allem Joana — wäre ich jetzt wahrscheinlich nicht hier. Die Indios haben uns aufgespürt.«
Bentley wirkte ein bißchen erschrocken.»So schnell?«
«So schnell«, bestätigte Norten.»Ich war selbst überrascht. Ich vermute, daß sie José und Anita gefolgt sind. Es würde mich nicht wundern, wenn sie früher oder später auch hier auftauchen.«
«Selbst wenn«, sagte Bentley abwertend,»hier sind wir sicher.«
Er wandte sich wieder an Indiana.»Aber ich glaube, wir sind Ihnen jetzt einige Erklärungen schuldig, Dr. Jones.«
«Das glaube ich allerdings auch. «Indianas Stimme war eisig. Sein Blick wanderte zwischen den Gesichtern der beiden hin und her. Er war verwirrt, um es vorsichtig auszudrücken. Nach den seelischen Wechselbädern, die der Tag gebracht hatte, wußte er schlicht und einfach nicht mehr, was er von Norten und Bentley halten sollte.
«Bevor wir Ihnen Ihre Fragen beantworten, Dr. Jones«, begann Bentley,»möchte ich Sie bitten, mir den Anhänger auszuhändigen.«
«Welchen Anhänger?«erkundigte sich Indiana harmlos.
Bentley verzog das Gesicht, als hätte er auf einen Stein gebissen.»Ich bitte Sie, Dr. Jones«, sagte er.»Ersparen Sie sich und uns die Peinlichkeit, sich von einem der Matrosen untersuchen zu lassen. Ich weiß, daß Sie den Anhänger bei sich tragen, den Greg Ihnen gegeben hat.«
«Selbst wenn das so wäre«, antwortete Indiana kalt,»dann hat er ihn mir gegeben, damit ich ihn seiner Tochter aushändige — nicht Ihnen.«
Bentley lächelte dünn.»Sie können ihn selbstverständlich auch erst Joana geben, und die gibt ihn dann uns«, sagte er.»Wenn Ihnen Ihre Zeit für solch alberne Spielchen nicht zu schade ist …«Er zuckte mit den Achseln und sah Indiana fragend an.
«Ich habe ihn nicht«, sagte Indiana stur.
In Bentleys Augen blitzte es ärgerlich, und Indiana fügte ruhig hinzu:»Wenn Sie darauf bestehen, rufen Sie einfach einen Ihrer Männer und lassen mich durchsuchen.«
«Wo ist er?«fragte Norton scharf.»Sie haben ihn Joana nicht gegeben. Jedenfalls behauptet sie das.«
«Sie können sie ja auch durchsuchen lassen«, sagte Indiana ruhig.»Falls Sie ihr nicht glauben. Der Anhänger befindet sich an einem sicheren Ort.«
Bentley seufzte tief.»Sie machen es uns nur unnötig schwer, Dr. Jones«, sagte er.»Wir stehen auf Ihrer Seite.«
«Ach?«sagte Indiana spöttisch.
«Hast du ihm nichts erzählt?«fragte Bentley Norten.
Norten schüttelte den Kopf.»Nein. Ich hielt es für … zu gefährlich.«
Bentley musterte Indiana einen Moment lang aus seinen dunklen, durchdringenden Augen, dann sagte er:»Ich denke, wir können das Risiko eingehen. Dr. Jones ist ein Mann von untadeligem Ruf.«
Schweigend und sehr schnell stand Bentley auf und ging zu einem Panzerschrank, der neben dem Schreibtisch in die Wand eingelassen war. Seine Finger stellten die Kombination ein, er öffnete die Tür, nahm etwas heraus und kam zum Tisch zurück. Vor Indianas überrascht geweiteten Augen legte er acht völlig identische, goldene Quetzalcoatl-Anhänger auf die Tischplatte.
«Das wären dann zehn — mit dem, den Dr. Jones besitzt«, sagte er, nachdem er sie pedantisch und mit beinahe mathematischer Präzision nebeneinander ausgerichtet und selbst die Ketten geradegezogen hatte.»Hat José die beiden anderen?«
Norten schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Schluck Whisky.»Ich fürchte, nein«, sagte er.»Einen hat er bei sich.«
«Und der zwölfte?«
«Ich fürchte, den haben die Indios«, antwortete Norten.
Auf Bentleys Gesicht erschien ein zugleich erschrockener wie auch zorniger Ausdruck, und Norten deutete auf Indiana und sagte:»Zumindest behauptet er das.«
«Ist das wahr?«fragte Bentley. Seine Stimme klang ein ganz kleines bißchen kälter und weniger freundlich als bisher.
«Ja«, sagte Indiana.»Es war Joanas Anhänger. Sie haben uns überfallen, als ich mich mit ihr in der Anwaltskanzlei in New Orleans getroffen habe.«
«Und Sie konnten es nicht verhindern?«
Indiana unterdrückte im letzten Moment ein schrilles Lachen.
«Ich konnte mit Mühe und Not verhindern, daß sie uns beide umbringen«, sagte er.»Und hätte ich gewußt, wie sich die Dinge entwickeln, dann hätte ich ihnen den zweiten auch noch gegeben.«
Nortens Gesicht verdüsterte sich, aber Bentley hob rasch und beruhigend die Hand und schenkte sich ein weiteres Glas Whisky ein. Indiana schüttelte den Kopf, als er mit einer fragenden Geste die Flasche hob.
«Ich kann Ihren Zorn verstehen, Dr. Jones«, sagte er.»Aber er ist unberechtigt, glauben Sie mir. Wenn Sie die Wahrheit kennen, dann werden Sie verstehen, warum Professor Norten so handeln mußte, wie er gehandelt hat.«
«Sie meinen — uns belegen, uns in Lebensgefahr gebracht und uns entführt?«
«Ich hatte keine andere Wahl«, verteidigte sich Norten.»José ist unberechenbar. Er ist nicht nur verrückt, er ist auch völlig gewissenlos.«
«Haben Sie sich deshalb mit ihm verbündet?«
«Wir haben uns mit ihm verbündet, Dr. Jones«, antwortete Bentley,»weil wir nach Gregs Tod einen ortskundigen Mitarbeiter brauchten.«
«Ortskundig?«
«José Perez ist in einer kleinen Stadt in der Nähe von Piedras Negras geboren und aufgewachsen«, sagte Norten.»Wußten Sie das nicht?«
Indiana schüttelte verblüfft den Kopf. Noch mehr als diese Eröffnung verblüffte ihn allerdings der Name der Ortschaft. Piedras Negras — das war die Stadt in Yucatan, in der Greg und er zu ihrer letzten, verhängnisvollen Expedition aufgebrochen waren. Trotzdem sagte er:»Ich dachte, Sie selbst seien Spezialist für südamerikanische Kultur?«
«Das bin ich auch«, antwortete Norten mit Stolz in der Stimme.»Ich war mehrfach selbst in Yucatan, aber es ist in diesem Fall leider nicht damit getan, ein paar alte Mayadialekte zu sprechen und ihre Kultur zu kennen, Dr. Jones. Sie waren mit Greg selbst dort. Sie wissen, wie schwierig und vor allem unübersichtlich das Gelände ist. Und dazu kommt noch, daß das, was wir suchen, sorgsam versteckt wurde. Ohne einen Mann mit echten Ortskenntnissen hätten wir keine Chance gehabt.«
Er lächelte flüchtig und tauschte einen vielsagenden Blick mit Bentley.»Wir hätten uns natürlich lieber an Sie als an eine Kreatur wie Perez gewandt«, fuhr er fort.»Aber nach Gregs Tod waren die Dinge … ein wenig kompliziert geworden. Sie kannten Greg — er war kein Mann, der präzise Aufzeichnungen hinterlassen hätte. «Er tippte sich an die Stirn.»Das meiste, was er wußte, hatte er hier aufgeschrieben. Und wir haben leider den Großteil der vergangenen drei Jahre gebraucht, uns aus dem wenigen, was er uns zuvor verraten hat, den Rest der Geschichte zusammenzureimen.«
Indiana deutete mit einer Kopfbewegung auf die neun goldenen Anhänger auf dem Tisch.»Und diese neun Anhänger zusammen-zustehlen, vermute ich.«
Bentleys Lächeln wurde noch eine Spur kälter.»Ich hätte ein anderes Wort vorgezogen, Dr. Jones«, sagte er.»Genaugenommen sind diese Anhänger unser Eigentum. Besser gesagt — Gregs und unser gemeinsames Eigentum.«
«Und da Sie sich als seine Erben verstehen …«, sagte Indiana zynisch.
Bentley lächelte.»Ich sehe, Sie verstehen, was wir meinen.«
«Zum Teil«, erwiderte Indiana.»Was ich nicht verstehe, ist, was es mit diesen Anhängern auf sich hat.«
«Mit diesen Anhängern«, antwortete Bentley,»nichts. «Er fuhr mit der Handfläche über den Tisch und warf seine mühsam zurechtgelegte Ordnung durcheinander.»Sie sind vollkommen wertlos — sieht man von dem geringen Goldwert ab. Das heißt — alle, bis auf einen.«
«Und welcher ist es?«
Bentley zuckte mit den Schultern.»Das weiß ich so wenig wie Sie, Dr. Jones«, gestand er freimütig.»Und wir werden es auch kaum herausfinden, bevor wir alle zwölf zusammenhaben und in Piedras Negras sind.«
«Genauer gesagt, an einem Ort in der Nähe dieser Stadt«, fügte Norten hinzu.
Indianas Blick wanderte immer irritierter zwischen den Gesichtern der beiden und den kleinen, goldenen Anhängern hin und her.»Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, gestand er.
Bentley lachte leise.»So ging es uns auch eine ganze Weile, Dr. Jones«, sagte er.»Dabei ist die Erklärung ganz simpel. Nur einer dieser Anhänger ist echt. Die elf anderen sind Kopien, die Greg kurz vor seinem Tod anfertigen ließ und ziemlich wahllos verteilt hat. Es hat uns eine ganze Menge Mühe gekostet, sie aufzuspüren.«
«Aber warum?«
«Weil dieser eine echte Anhänger etwas ganz Besonderes ist«, antwortete Norten. Etwas … veränderte sich in seiner Stimme, als er sprach; plötzlich hatte sie jenen fast ehrfürchtigen, gedämpften Klang, den Indiana nur zu gut kannte. Er hatte ihn zahllose Male in Gregs Stimme gehört, und in seiner eigenen Stimme war er zahllose Male gewesen, wenn er von den großen Geheimnissen und Rätseln alter Kulturen sprach.
«Sie sind Archäologe wie ich, Dr. Jones«, fuhr Norten fort.»Und ich weiß von Greg, daß Sie fast soviel von den versunkenen südamerikanischen Kulturen verstehen wie er — und er wiederum verstand beinahe soviel davon wie ich. Sie wissen, wen dieses Amulett darstellt.«
Indiana nickte automatisch.»Quetzalcoatl«, antwortete er.»Den Gefiederten Schlangengott der Mayas. Ihre höchste Gottheit.«
«Ja«, antwortete Norton.»Aber es ist nicht nur ein Abbild Quetzalcoatls. Es ist auch nicht nur irgendein Kultgegenstand. Es ist …«Er zögerte, schwieg einige Sekunden lang und blickte Indiana dann auf sehr sonderbare Art und Weise an.
«Glauben Sie an Magie, Dr. Jones?«fragte er.
«Das … kommt darauf an, wie man das Wort definiert«, erwiderte Indiana zögernd.
«Ich vermute«, sagte Norton,»Sie definieren es auf die gleiche Art und Weise wie ich. Wir haben ja schon über dieses Thema gesprochen. Aber ich gebe zu, daß ich Ihnen auf der Hacienda nicht die ganze Wahrheit erzählt habe. Dieser eine Anhänger, um den es sich handelt, wurde kurz vor dem Untergang des Mayarei-ches von einem ihrer mächtigsten Medizinmänner hergestellt. Sehen Sie, Dr. Jones, die meisten Menschen heutzutage halten die Mayas für Barbaren; Wilde, die Menschenopfer vollzogen und niemals wirklich über ein steinzeitliches Niveau hinauskamen, ungeachtet ihrer gewaltigen Bauwerke. Aber das stimmt nicht. Sie halten eine erstaunliche Kultur; und sie waren in manchen Dingen soweit wie wir, in einigen sogar weiter. Ihre Astrologie zum Beispiel …«
«Ich weiß das alles, Dr. Norten«, unterbrach ihn Indiana.
Norten lächelte verlegen.»Natürlich — Sie sind ja auch Fachmann. Entschuldigen Sie, Dr. Jones, aber ich glaube, da ist der Wissenschaftler mit mir durchgegangen.«
«Das macht nichts«, erwiderte Indiana ungeduldig.»Mir geht es manchmal genauso.«
«Dieser eine Anhänger also«, sagte Norten und kam damit wieder zum Thema zurück,»wurde vom mächtigsten Zauberer des Mayareiches hergestellt. Die Maya gingen nicht von einem Tag auf den anderen unter. Dem einfachen Volk mag es wie eine Katastrophe vorgekommen sein, aber die weisen Männer dieses Volkes ahnten den Niedergang lange voraus. Und sie ahnten auch, daß sie ihn nicht würden aufhalten können. Also beschlossen sie, auf die Zukunft zu setzen. Ihre astronomischen Kenntnisse waren erstaunlich. Sie konnten den Lauf der Gestirne auf Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende im voraus mit einer Präzision berechnen, die selbst wir noch nicht erreichen. Also verglichen sie die Konstellation der Sterne während der Blütezeit ihrer Kultur mit der der Zukunft und kamen zu dem Schluß, daß sie für die nächsten Jahrhunderte ungünstig für die Mayas standen, — sehr vorsichtig ausgedrückt. So ungünstig, daß nicht einmal die Macht der Götter ausreichen würde, den Niedergang des Volkes aufzuhalten. Daher schufen sie dieses Schmuckstück. Ihre begnadetsten Künstler arbeiteten ein Jahr an seiner Erschaffung, und das Gold wurde in Menschenblut gehärtet. Und sie legten all ihren Glauben und all ihre Magie in dieses winzige Stückchen Metall.«
Seine Stimme wurde leiser, sank zu einem Flüstern voller Ehrfurcht herab.»Was Ihnen und allen anderen Menschen wie ein wertloses Schmuckstück vorkommen mag, Dr. Jones, das ist mehr, unendlich viel mehr. Es ist die Magie eines ganzen Volkes. Es ist der Schlüssel, um Quetzalcoatl wieder zum Leben zu erwecken.«
Indiana starrte sein grauhaariges Gegenüber sekundenlang völlig fassungslos an. Er hatte begriffen, was Norten meinte, aber alles in ihm weigerte sich, es zu glauben. Und gleichzeitig fühlte er, daß es die Wahrheit war. Irgendwie hatte er es die ganze Zeit über gespürt.
«Sie meinen, daß … daß …«
«Quetzalcoatl wieder zum Leben erwachen wird, wenn dieser Anhänger an einem bestimmten Tag in einen bestimmten Raum im geheimen Mayatempel am Fuße des Vulkans zurückgebracht wird, ja«, sagte Norten.»Und dieser Tag ist bald, Dr. Jones. Sehr bald.«
«Aber das … das ist lächerlich«, protestierte Indiana. Seine Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren nicht überzeugend. Und Norten machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.
«Das Volk der Maya kann zu neuer Größe und Macht auferstehen, Dr. Jones«, sagte er.»Oder wieder untergehen, und diesmal vielleicht endgültig.«
«Oder«, fügte Bentley hinzu,»und das ist die dritte und im Moment wahrscheinlichste Möglichkeit, die Gewalten, die dieser eine Anhänger entfesseln könnte, könnten in die falschen Hände geraten.«
Indiana blickte ihn durchdringend an.»In Ihre zum Beispiel?«
Bentley blieb ruhig.»Ich habe mit dieser Antwort gerechnet, Dr. Jones«, sagte er.»Aber glauben Sie mir — Professor Norten und mir liegt nichts ferner, als uns persönliche Vorteile zu verschaffen.«
«Was wollen Sie dann?«fragte Indiana.»Und sagen Sie nicht, es geht Ihnen nur darum, das Rätsel einer untergegangenen Kultur zu lösen. Das würde ich Ihnen nämlich nicht glauben.«
Bentleys Lippen verzogen sich zu einem dünnen, amüsierten Lächeln.»Das habe ich auch nicht erwartet«, sagte er.»Nein — meine Beweggründe sind anderer Natur. Ich gestehe, es hat lange gedauert, bis Norten mich überzeugt hat, als er nach Gregs Tod zu mir kam und mir die ganze Geschichte erzählte. Aber in der Zwischenzeit habe ich so viel Erstaunliches erlebt, daß ich ihm glaube. Was den Professor angeht — er ist durch und durch Wissenschaftler — wie Sie, Dr. Jones. Er will nur wissen. Ich glaube, ich brauche Ihnen das nicht erklären. Er kann gar nicht anders, als dieses Geheimnis zu lüften.«
«Und Sie?«
«Ich möchte verhindern, daß diese Kräfte in falsche Hände geraten«, antwortete Bentley.»Sie kennen José besser als ich. Sie wissen, daß er verrückt genug wäre, sich selbst zum neuen Herrscher oder auch Gott der Maya auszurufen. Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was dann geschehen würde?«
Indiana versuchte zu lachen, aber das Geräusch, das er dann wirklich zustande brachte, war eher ein lächerliches Quietschen.»Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Bentley«, sagte er schwach.»Sie wollen mir doch nicht im Ernst einreden, daß Sie Angst vor ein paar Mayas mit Steinschwertern und Zaubersprüchen haben.«
«Natürlich nicht«, antwortete Bentley ruhig.»Weder die Vereinigten Staaten noch irgendein anderes Land müßte Angst vor ihm haben. Aber er könnte trotzdem großen Schaden anrichten. Es könnte Tote geben. Hunderte, wenn nicht Tausende oder Zehntausende von Toten.«
«Denken Sie daran, was auf der Hacienda geschehen ist«, fügte Norten hinzu.
Indiana glaubte den beiden kein Wort. Ihre Erklärungen klangen einleuchtend, aber vielleicht klangen sie sogar ein bißchen zu einleuchtend für seinen Geschmack.
«Deshalb haben wir versucht, diese Anhänger zurückzubekommen, Dr. Jones«, fuhr Bentley nach einer langen, lastenden Pause fort.»Und deshalb sind Sie hier. Mit dem Anhänger von José besitzen wir jetzt elf der ursprünglich zwölf Stücke. Die Wahrscheinlichkeit, daß der richtige darunter ist, ist also nicht schlecht.«
«José wird Ihnen seinen kaum freiwillig geben«, vermutete Indiana.
«Kaum«, bestätigte Bentley. Er lächelte.
«Und Sie haben auch kaum die Möglichkeit, ihn mit Gewalt an sich zu bringen«, fuhr Indiana fort.»Sie haben es selbst gesagt — Sie brauchen ihn.«
«Vielleicht«, sagte Norten.»Vielleicht aber auch nicht. Das kommt ganz auf Sie an.«
«Auf mich?«
Bentley nickte.»Vielleicht brauchen wir Perez ja gar nicht. Wir brauchen nur jemanden, der den Eingang zum Tempel finden kann.«
«Und Sie glauben, ich wäre dieser Jemand?«
«Sie waren schon einmal dort«, erinnerte Norten.»Zusammen mit Greg.«
«Ich war in der Nähe dieses Vulkans«, bestätigte Indiana.»Aber wir sind nicht sehr weit gekommen. «Er sah ihn durchdringend an.»Sie wissen, was geschehen ist. Vielleicht wollte Greg mir wirklich den Weg zu diesem Tempel zeigen. Aber wenn, dann hat er es nicht mehr geschafft.«
«Ich bin sicher, Sie können ihn finden, wenn Sie es wollen«, erwiderte Norten ruhig.»Und sowohl Commander Bentley als auch ich würden uns in Ihrer Begleitung sehr viel sicherer fühlen als in der eines unberechenbaren Wahnsinnigen.«
Indiana schwieg eine ganze Weile. Sein Blick wanderte über die neun winzigen goldglänzenden Anhänger, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, dann wieder über die Gesichter der beiden Männer auf der anderen Seite des Tisches und dann noch einmal über die Amulette. Etwas an der Geschichte der beiden störte ihn, aber er wußte noch nicht, was. Und zumindest in einem Punkt hatten sie recht: José war verrückt. Verrückt und unberechenbar.
Trotzdem irritierte ihn der Gedanke, sich José im Federmantel eines Mayapriesters vorzustellen, wie er Menschenopfer zelebriert und Armeen voller mit Schwertern und Äxten bewaffneter Mayakrieger in den Kampf gegen den Rest der Welt schickt.
Er war sogar fast lächerlich.
«Kann ich darüber nachdenken?«fragte er.
Bentley nickte.»Selbstverständlich. Ich habe bereits eine Kursänderung befohlen, aber wir werden gut eineinhalb Tage brauchen, bis wir Yucatan erreichen. Spätestens bis dahin müssen Sie sich allerdings entschieden haben.«
«Und wenn ich es nicht tue?«erkundigte sich Indiana.
«Geschieht Ihnen auch nichts«, versprach Bentley.»Sie sind kein Gefangener, Dr. Jones. Wenn Sie darauf bestehen, setzen wir Joana und Sie im ersten Hafen ab, an dem wir vorbeikommen, und Sie gehen Ihrer Wege.«
«Einfach so?«erkundigte sich Indiana zweifelnd.
«Einfach so«, bestätigte Norten.»Das heißt — falls Sie das können. Falls Ihnen das Schicksal der überlebenden Mayas völlig egal ist. «Er lächelte überheblich.»Aber Sie wären nicht der Mann, für den ich Sie halte und als den Greg Sie mir immer wieder beschrieben hat, wenn Sie das könnten.«
Und damit hatte er ausnahmsweise einmal recht. Und im Grunde hatte Indiana sich bereits entschieden — wenn auch wahrscheinlich anders, als Norten und Bentley vermuteten.»Ich werde darüber nachdenken«, sagte er.
«Dein Vater hat mit mir niemals über diesen Professor Norten gesprochen«, sagte Indiana später, als er allein mit Joana in der weitläufigen Kabine war, die man ihr zugewiesen hatte.
Joana zuckte fast unbeteiligt mit den Achseln und blickte an ihm vorbei ins Leere. Unter dem frischen weißen Verband an ihrer Stirn sah ihr Gesicht sehr bleich aus. Sie wirkte sehr müde; und nicht nur in körperlicher Hinsicht. Sie hatte schweigend und mit großen Augen zugehört, während Indiana ihr berichtete, was er von Norten und Bentley erfahren hatte, aber er hatte regelrecht sehen können, wie etwas in ihrem Blick zerbrach, während er sprach. Er hatte auch fast sofort begriffen, was es war: Obwohl sie nur wenige Stunden auf Nortens Hacienda gewesen waren und Joana kaum mehr als einige Sätze mit ihm gewechselt hatte, hatte er doch gespürt, wie sehr das Mädchen dem Mann vertraute. Daß er sie so hintergangen, ja, benutzt haben sollte, das mußte ihr Vertrauen nicht nur in ihn, sondern in die ganze Welt erschüttert haben.
Vielleicht war es das erste Mal, dachte Indiana, daß sie diese schmerzliche Erfahrung gemacht hat: von einem Menschen, dem sie absolutes und blindes Vertrauen geschenkt hatte, betrogen worden zu sein.
«Vater hat nie viel über Onkel Norten gesprochen«, beantwortete sie seine Frage mit einiger Verzögerung.
Indiana unterdrückte ein Lächeln. Selbst jetzt nannte Joana Norten noch Onkel.
«Ich glaube, er war … so etwas wie sein Lehrer«, vermutete Indiana.»Obwohl ich mittlerweile nicht mehr sicher bin, wer hier von wem gelernt hat. «Er seufzte tief.»Du hast den Anhänger noch?«
Joana nickte und wollte aufstehen, aber Indiana winkte rasch ab.»Behalt ihn«, sagte er rasch.»Aus irgendeinem Grund scheinen sie dir zu trauen. Wenn ich ihn bei mir hätte, könnte mir … etwas zustoßen.«
«Jetzt … übertreibst du aber«, protestierte Joana schwach.»Onkel Norten ist kein Mörder.«
Darüber konnte man geteilter Meinung sein, dachte Indiana. Aber im Moment war es vielleicht klüger, das nicht auszusprechen.
«Du wußtest, daß dieser Anhänger etwas ganz Besonderes ist«, sagte Indiana nach einer Weile.
Joana nickte, ohne ihn anzusehen.
«Und du wußtest auch, warum es mehr als einen gibt.«
«Das stimmt«, gestand Joana nach einem abermaligen, langen Zögern.»Aber ich habe nie erfahren, was er wirklich ist. Das mußt du mir glauben, Indy.«
Indiana mußte sich beherrschen, um nicht plötzlich einen Schwall von Vorwürfen über Joana zu ergießen. Im Grunde, das wußte er sehr wohl, traf Joana weit weniger Schuld an der verfahrenen Situation als ihn. Sie war ein Mädchen, das keinerlei Erfahrung in solcherlei Dingen hatte. Aber er war kein Kind mehr. Er hätte ahnen müssen, daß es sich bei den kleinen Anhängern um mehr als bloße goldene Schmuckstücke handelte; und daß dies wieder einmal eine von den Geschichten werden würde, in der nichts so war, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Nein, dachte er, wenn es hier jemanden gab, den er beschimpfen sollte, dann war er es selbst.
«Entschuldige«, murmelte er.»Ich war ungerecht. Es tut mir leid.«
«Schon gut. «Joanas Hand kroch über seinen Arm und berührte seine eigene Hand, und für einen Moment verschränkten sich ihre Finger, und diesmal ließ Indiana die Berührung zu, denn es war einfach die Berührung eines zitternden, verängstigten Kindes, das an der Schulter eines Erwachsenen Schutz suchte.
«Keine Sorge«, murmelte er.»Es wird schon alles gut werden.«
Joana antwortete nicht, und eine Weile saßen sie einfach in vertrautem Schweigen da. Aber es war ein sehr unangenehmes, niedergeschlagenes Schweigen, und so wenig, wie Indiana selbst von der Wahrheit seiner Worte überzeugt war, so sehr mußte sie fühlen, daß er sie nur gesprochen hatte, um sie und sich selbst zu beruhigen.
Dabei gab es eigentlich keinen Grund, vor irgend etwas Angst zu haben. Sie befanden sich nicht mehr auf einer belagerten Ha-cienda, sondern an Bord eines amerikanischen Schlachtkreuzers, dessen Kanonen und Maschinengewehre es mit allen Indianerarmeen der Welt zugleich aufnehmen konnten, sie befanden sich nicht in der Gewalt mordlüsterner Indianer, sondern in der Obhut einer US-Marineinfanterieeinheit, und sie hatten es nicht einmal mehr mit einem verrückten Halbindianer zu tun, der glaubte, dazu ausersehen zu sein, den alten Mayagott wieder zum Leben zu erwecken, sondern mit zwei sehr vernünftigen Männern, die zwar aus völlig unterschiedlichen Beweggründen, aber doch sehr vorsichtig handelten.
Wenn die beiden ihm die Wahrheit erzählt hatten. Und aus einem Grund, der Indiana selbst nicht ganz klar war, glaubte er das immer noch nicht. Vielleicht klang die Geschichte einfach ein bißchen zu glatt. Da war zwar nichts, was ihn wirklich störte, nichts, worauf er den Finger legen konnte — aber möglicherweise war es gerade das: daß ihre Geschichte keinerlei Haken und Ösen hatte. Sie klang einfach nicht echt, sondern — zugegeben perfekt — konstruiert.
Nach einer Weile löste Indiana behutsam seine Finger aus Joa-nas Hand und stand auf.
«Wo gehst du hin?«erkundigte sie sich. Ihre Stimme klang beinahe erschrocken.
Indiana deutete mit einer Kopfbewegung zur Decke.»Nach oben«, sagte er.»Ich möchte einfach ein bißchen frische Luft schnappen. Ein paar Schritte machen und überlegen.«
Zu seiner Überraschung verzichtete Joana darauf, ihn begleiten zu wollen. Dafür war Indiana eine Sekunde lang versucht, sie dazu aufzufordern. Er fühlte sich einfach nicht wohl bei der Vorstellung, sie ganz allein hier zurückzulassen — obwohl das eigentlich absurd war. Sie war nicht allein, sondern an einem der vermutlich sichersten Orte, den es auf der ganzen Welt gab; zumindest aber im Umkreis etlicher tausend Meilen. Mit dem neuerlichen Versprechen, bald wiederzukommen, drehte er sich um, verließ die Kabine und trat auf den von schwachem elektrischem Licht beleuchteten Korridor hinaus. Unter seinen Füßen konnte er das sanfte Vibrieren der Planken spüren, und tief unten im Rumpf des Schiffes hörte er das beruhigende Wummern der gewaltigen Dieselmotoren. Weit vor sich, am Ende des Ganges und kaum mehr als ein Schatten im schwachen Licht, sah er einen Soldaten, der an der Wand lehnte und so zu tun versuchte, als wäre er gar nicht da. Das alles — die fast unzerstörbaren, stählernen Wände ringsum, das beruhigende Geräusch der gewaltigen Maschinen, die Wache, die Bentley zu ihrem Schutz abkommandiert hatte — hätte ihn beruhigen müssen. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Aus irgendeinem Grund wuchs seine Nervosität mit jeder Sekunde.
Als er sich dem Wachsoldaten genähert hatte und an ihm vorbeigehen wollte, hob der Mann fast verlegen die Hand und vertrat ihm den Weg.»Sir?«
«Ja?«Indiana sah den Soldaten fragend an.
«Darf ich fragen, wohin Sie …«Er brach ab. Seine Verlegenheit war ihm deutlich anzusehen.
Indiana lächelte.»Nach oben«, sagte er mit einer entsprechenden Geste.»Ich möchte an Deck. Ein wenig frische Luft schnappen.«
Wieder zögerte der Soldat einen Herzschlag, ehe er mit einem bedauernden Achselzucken den Kopf schüttelte.»Das geht nicht, Sir. Es tut mir leid.«
«Wieso nicht?«erkundigte sich Indiana.
«Befehl des Captains«, antwortete der Mann.»Niemand darf nach Dunkelwerden das Deck betreten.«
Indiana wollte auffahren, aber er fühlte sich gleichzeitig auch viel zu müde dazu. Und dieser Soldat konnte schließlich nichts dafür — er führte nur Befehle aus. Trotzdem sagte er:»Bezieht sich dieser Befehl auch auf eventuelle Zivilpersonen an Bord — oder nur auf Marineangehörige?«erkundigte er sich.
Der Ausdruck auf dem Gesicht des Soldaten wurde regelrecht gequält.»Ich … bin nicht sicher, Sir«, antwortete er.
«Aber ich«, sagte Indiana.»Ich komme gerade von einer Besprechung mit Ihrem Kapitän. Ich bin sicher, er hätte mir gesagt, wenn ich meine Kabine nicht verlassen dürfte.«
Der Posten war sichtlich zwischen Pflichtbewußtsein und der Angst, einen Fehler zu begehen, hin- und hergerissen.
Indiana betrachtete ihn etwas aufmerksamer. Er war nicht ganz sicher — aber er glaubte, daß vorhin ein anderer Mann an seiner Stelle gestanden hatte.
«Wie lange tun Sie hier schon Dienst?«fragte er.
«Noch nicht lange, Sir. Wenige Minuten.«
«Dann behaupten Sie einfach, Sie hätten mich nicht gesehen«, riet ihm Indiana. Er lächelte, aber sein Blick fügte etwas ganz anderes hinzu: Oder laß es darauf ankommen, mein Freund, daß ich zu Commander Bentley gehe und mich über dich beschwere.
Einen Moment lang zögerte der Mann noch, dann nickte er unentschlossen und gab den Weg frei; alles andere als ‘überzeugt davon, das richtige zu tun, aber auch sichtbar erleichtert, daß Indiana ihm eine solche Brücke gebaut hatte.
Indiana ging schnell weiter und erreichte nach wenigen Minuten den Aufgang zum Deck. Auf dem Weg herunter hatte er sich den Weg sorgsam eingeprägt; schon aus Sorge, sich im Inneren des riesigen Schiffes zu verirren. Der Kreuzer war ein schwimmendes Labyrinth aus Räumen, Sälen, Treppen und Gängen, aber ihre Quartiere lagen nur ein Stockwerk unter der Brücke.
Es war fast unheimlich still, als er auf das Deck hinaustrat. Der Wind wehte und trug Kälte und Salzwassergeruch heran, aus dem Rumpf des Schiffes drang noch immer das Dröhnen der Dieselgeneratoren, das hier oben beinahe deutlicher zu hören war als in seinem Inneren, und er hörte das machtvolle Rauschen, mit dem sich der gewaltige Schiffskörper seinen Weg durch die Wellen bahnte. Und trotzdem war die Stille da. Sie überfiel ihn wie ein Orkan, traf ihn mit solcher Macht, daß er mitten im Schritt erstarrte und einen Moment lang nahe daran war, in Panik zu geraten, denn es war die gleiche, unheilschwangere Stille, die er auch auf Nortens Hacienda gespürt hatte. Das gleiche schwarze Schweigen, in dem etwas Unsichtbares, Gewaltiges heranzukriechen schien und das zwar nicht seine normalen Sinne, wohl aber etwas Uraltes, tief in ihm Schlummerndes aufschreien ließ.
Unsinn! dachte er. Du fängst an, Gespenster zu sehen, alter Junge.
Aber die Nervosität blieb. Mit klopfendem Herzen trat Indiana aus dem Schatten der stählernen Tür auf das Deck hinaus und sah sich um. Der Bug des Schiffes lag wie ein stählernes Fußballfeld vor ihm, und nirgends regte sich etwas. Trotzdem gaukelten ihm seine überreizten Nerven für einen Moment Bewegung vor: ein Gleiten und Huschen in den Schatten, ein zuckendes SichWinden und Kriechen, das ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Und auch das Licht war falsch. Der Mond stand noch immer völlig gerundet am Himmel, obwohl die Nacht sich bereits dem Ende neigte, aber er schien noch immer keine Helligkeit zu spenden; der mattgestrichene, graue Stahl des Schiffes saugte das bißchen Licht auf wie ein Schwamm einen Wassertropfen, und so, wie irgend etwas alle Geräusche fraß und sie zwar nicht auslöschte, ihnen aber ihre Realität nahm, vernichtete irgend etwas anderes das Licht. Für einen Moment wurde dieses Gefühl plötzlich übermächtig: das Gefühl, sich in der Nähe von etwas ungeheuer Altem, ungeheuer Mächtigem und ungeheuer Gnadenlosem zu befinden.
Ein kaum hörbares Geräusch ließ Indiana zusammen- und herumfahren.
Im ersten Moment sah er weiter nichts außer sonderbar rechteckigen Schatten und unterschiedlicher Flächen voller absoluter und nicht so vollkommener Dunkelheit. Aber das Geräusch war dagewesen. Ganz leise, aber in dieser unheimlichen Stille von einer fast aggressiven Realität. Indianas Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, während er sich in die Richtung bewegte, aus der er den Laut zu hören geglaubt hatte. Obwohl er sich bemühte, selbst nicht das mindeste Geräusch zu verursachen, und fast auf Zehenspitzen ging, hatte er fast das Gefühl, daß seine eigenen Schritte wie das Dröhnen von Pferdehufen über das stählerne Deck hallten. Ja selbst seine Atemzüge und das Klopfen seines Herzens erschienen ihm mit einem Male laut und verräterisch. Wer immer dort in der Dunkelheit vor ihm lauerte — er mußte es einfach hören.
Er schlich weiter, hörte das Geräusch ein zweites Mal — wieder, ohne es identifizieren zu können — und erreichte einen der gewaltigen, stählernen Deckaufbauten. Mit klopfendem Herzen und schweißfeuchten Händen preßte er sich gegen das kalte Metall und spähte vorsichtig um die Ecke.
Fast auf der anderen Seite des Schiffes vor der Reling, nur als Umriß vor dem helleren, glitzernden Hintergrund des Ozeans, aber fast überdeutlich zu erkennen, stand eine Gestalt. Und etwas an ihr war falsch.
Es gelang Indiana nicht sofort, das Gefühl in Worte zu kleiden — und als es ihm gelang, da war er nicht sehr sicher, ob er sich darüber freuen sollte. Der Mann war zu groß. Seine Schultern waren zu breit, und auf seinem Kopf saß etwas, das nicht dort hingehörte.
Es war schwer, in der Nacht und über die große Entfernung seine wirkliche Größe zu schätzen, aber Indiana glaubte nicht, daß er kleiner als zwei Meter war; selbst ohne den barbarischen Kopfputz. Das sonderbar eckige Aussehen seiner Schultern aber kam von einem bodenlangen Mantel aus Federn, in den er gehüllt war, und ein gewaltiger Kopfschmuck aus den gleichen, mehr als meterlangen Federn thronte auf seinem Haupt.
Soviel zu Bentleys Behauptung, dachte Indiana düster, daß sie an Bord dieses Schiffes sicher seien.
Der Mayapriester schien bisher nichts von seiner Anwesenheit bemerkt zu haben. Hoch aufgerichtet und völlig reglos stand er da und starrte auf das Meer hinaus, als erwarte er etwas — oder beschwöre etwas. Der Wind spielte mit den Federn seines Mantels und des gewaltigen Kopfschmuckes, und dann bewegte er sich, und durch die unheimliche Stille an Deck des Schiffes drang das leise Klimpern von Metall an Indianas Ohr. Langsam, in einer zeremoniellen, beschwörenden Geste hob der Mayapriester die Arme und spreizte alle zehn Finger.
Und unmittelbar hinter Indiana erklang ein drohendes Rasseln.
Indianas Herz schien zu stocken. Sein Magen zog sich zu einem eiskalten Klumpen aus Glas zusammen, der schmerzhaft in seine Eingeweide zu schneiden schien, und er spürte ein Kribbeln wie von tausend winzigen Spinnenbeinen, die seinen Rücken hinunterliefen. Er kannte diesen Laut!
Schlagartig hatte er den Mayapriester, das Schweigen und das unheimliche Licht vergessen. Er wußte nicht einmal wirklich, wo er sich befand, geschweige denn, weshalb er hierhergekommen war. Alles, was zählte, war dieses rasselnde Klappern und das Geräusch winziger, harter Schuppen, die über das stählerne Deck glitten.
Langsam, unendlich langsam, mit Bewegungen, die so sacht und vorsichtig waren, daß ein Beobachter sie kaum wahrgenommen hätte, drehte sich Indiana Jones um und blickte das Geschöpf an, das hinter ihm herangekrochen war.
Es war die größte Klapperschlange, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Auch ohne daß seine Angst sie noch größer machte, mußte sie der Urvater aller Klapperschlangen sein; allein die Rassel an ihrem Schwanzende war fast so lang wie Indianas Unterarm, und der dreieckige Schädel, der sich angriffslustig aufgerichtet hatte und aus dem ihn zwei winzige, bösartig glitzernde Knopfaugen heraus anfunkelten, hatte beinahe die Größe seines Handtellers.
Indiana starrte die Schlange wie hypnotisiert an, und die Schlange wiederum starrte ihn an, als wolle sie die Behauptung, daß Schlangen entgegen der landläufigen Meinung ihre Opfer nicht hypnotisieren, verspotten. Ihre gespaltene Zunge bewegte sich mit flinken, kleinen Rucken hin und her und nahm Indianas Geruch auf. Sie witterte seine Angst und den kalten Schweiß, der ihm am ganzen Körper ausgebrochen war, und ihr lippenloses Maul öffnete sich einen winzigen Spaltbreit, so daß er die gebogenen, nadelspitzen Giftzähne erkennen konnte. Die Rassel an ihrem Schwanz klapperte wie das Instrument eines höllischen Castagnettenspielers, und ihr Schädel pendelte langsam von links nach rechts und wieder zurück, als suche sie eine günstige Stelle, um blitzschnell zuzupacken und ihre Zähne in ihr Opfer zu graben.
Indiana spürte, wie die Lähmung allmählich von ihm abfiel und einem Zittern Platz machte, gegen das er machtlos war. Schlangen! Er haßte Schlangen! Schon seine Attacke auf das an sich winzige Tier in Nortens Museum in Havanna hatte ihn alle Kraft und Überwindung gekostet, die er aufbringen konnte. Und dieses Monster hier war gut zehnmal so groß. Und nicht sehr viel weniger giftig.
Indianas Hand kroch millimeterweise zu seinem Gürtel hinab und tastete nach einer Waffe, bis ihm einfiel, daß sie ja alle beim Betreten des Schiffes gründlich durchsucht worden waren. Zwar trug er die Peitsche noch immer bei sich, aber die Schlange war viel zu nahe, als daß er sie einsetzen könnte. Und selbst wenn — ungeachtet aller Einwände, die der logische Teil seines Denkens gegen dieses Gefühl vorbrachte, wußte er einfach, daß dies keine normale Schlange war. Normale Klapperschlangen werden nicht so groß. Sie starren ihre Opfer nicht auf diese ganz bestimmte Art und Weise an, und sie finden sich normalerweise auch nicht an Bord amerikanischer Schlachtkreuzer, die auf hoher See fahren.
Die Schlange senkte den Kopf ein wenig, ohne Indiana dabei aus den Augen zu lassen, und kroch langsam auf ihn zu. Sie befand sich jetzt noch allerhöchstens zwei Meter von ihm entfernt; bei der Schnelligkeit, zu der diese Reptilien fähig sind, würde sie nicht einmal eine Zehntelsekunde brauchen, um zuzustoßen und ihre Giftzähne tief in sein Fleisch zu graben. Und außerdem würde er einfach den Verstand verlieren, wenn dieses Monster ihn berührte, das wußte er einfach. Das war keine normale Schlange. Das war die Essenz all seiner Ängste, Indiana Jones’ eigener, ganz persönlicher Alptraum, der wahr geworden war.
Zitternd machte er einen Schritt nach hinten und erstarrte mitten in der Bewegung, als die Schlange den Kopf hob und drohend ihre Rassel hören ließ. Er wußte, daß es ein sicheres Todesurteil war, wenn er jetzt eine unbedachte Bewegung machte; oder auch nur irgendeine Bewegung. Und trotzdem würde er gleich herumfahren und davonstürzen, ungeachtet der Gewißheit, die Schlange damit zum Zubeißen zu provozieren. Die Angst war einfach stärker als sein logisches Denken. Noch ein paar Sekunden, und …
«Bewegen Sie sich nicht!«
Indiana hätte sich nicht einmal bewegen können, wenn er es gewollt hätte. Sein Herz hämmerte wie eine außer Kontrolle geratene kleine Maschine in seiner Brust, und die einzige Bewegung, zu der er überhaupt noch fähig war, war das immer heftiger werdende Zittern seiner Hände und Knie.
Ein Schatten legte sich neben den seinen auf das Deck des Schiffes, und er hörte das Geräusch sehr langsamer, vorsichtiger Schritte.»Keine Bewegung, Dr. Jones«, wiederholte die Stimme.»Ganz egal, was passiert.«
Die Zeit schien stehenzubleiben. Indiana hörte, wie sich die Gestalt hinter ihm bewegte, und gleichzeitig wandte sich die Aufmerksamkeit der kalten Schlangenaugen von ihm ab und einem Punkt hinter ihm zu. Der riesige Schlangenkopf hob sich, zitterte — und dann zerriß der peitschende Knall eines Gewehrschusses die Nacht, und der Kopf des Tieres explodierte förmlich, keinen Meter mehr von Indiana Jones entfernt.
Mit einem erschöpften Keuchen taumelte Indiana zurück und schloß die Augen. Und plötzlich, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen, schlug die Angst mit aller Macht zu. Heiße und kalte Schauer rasten abwechselnd über seinen Rücken, und seine Hände und Knie begannen so heftig zu zittern, daß er an einem der Decksaufbauten Halt suchen mußte. Für einen Moment begannen sich das Schiff und der Himmel um ihn herum zu drehen, und es hätte nicht viel gefehlt, und Indiana Jones wäre schlichtweg in Ohnmacht gefallen.
«Alles in Ordnung mit Ihnen, Dr. Jones?«
Indiana nickte schwach und murmelte eine Antwort, die er nicht einmal selbst verstand, ehe er sich zu seinem Retter herumdrehte.
Es war Norten. Er stand zwei Schritte hinter ihm, das Gewehr noch immer auf die tote Schlange gerichtet, und einen Ausdruck im Gesicht, der zwischen Entsetzen und Zorn lag. Seine Finger umklammerten die Waffe so fest, daß alles Blut daraus gewichen war. Und auch seine Hände zitterten; so heftig, daß sich Indiana für einen Moment fragte, wie er das Tier überhaupt hatte treffen können.
Aber er hatte es getroffen, und das allein zählte.
«Vielen Dank«, murmelte Indiana.»Das war verdammt knapp.«
Norten musterte ihn besorgt.»Hat sie Sie gebissen?«fragte er.
Indiana schüttelte den Kopf.
«Sind Sie verletzt?«
«Nein«, antwortete Indiana.»Mir ist … nichts passiert. «Er versuchte zu lachen, aber es mißlang.»Ich bin mit dem Schrek-ken davongekommen, wie man so schön sagt.«
Nortens Blick wurde noch eine Spur ernster.»Aber einem gewaltigen Schrecken, wie ich sehe«, sagte er.
Indiana machte eine verlegene Geste.»Ja«, gestand er.»Ich … ich muß Ihnen das erklären. Ich habe …«
«… panische Angst vor Schlangen. Ich weiß«, unterbrach ihn Norten mit einem flüchtigen, nicht ganz echten Lächeln.»Greg hat mir davon erzählt. Aber ich wußte nicht, daß es so schlimm ist.«
«Ich auch nicht«, sagte Indiana leise. Schaudernd drehte er sich um und blickte noch einmal auf den toten Schlangenkörper hinab. Selbst jetzt noch wirkte das Tier furchteinflößend und gewaltig, und selbst jetzt war seine Wirkung auf Indiana hundertmal stärker als die jeder anderen Schlange, der er jemals begegnet war.
Nicht weit von ihnen entfernt flog eine Tür auf, und zwei Soldaten kamen herausgestürmt, die Gewehre schußbereit in den Händen. Fast gleichzeitig flammte über ihnen an der Brücke ein starker Scheinwerfer auf, dessen Strahl einen Moment ziellos über das Deck tastete, ehe er Norten und Indiana erfaßte und festhielt. Offensichtlich war Nortens Schuß gehört worden. Indiana begriff, daß seither kaum mehr als fünf oder sechs Sekunden vergangen sein konnten. Ihm war es vorgekommen wie Ewigkeiten.
Norten drehte sich zu den beiden Soldaten herum und machte eine beruhigende Geste.»Alles in Ordnung«, sagte er.»Es war meine Schuld. Ein Schuß hat sich gelöst. «Er lächelte in perfekt geschauspielerter Verlegenheit.»Seien Sie so nett und sagen Sie Ihren Kollegen oben auf der Brücke Bescheid — bevor sie das ganze Schiff in Alarmbereitschaft versetzen.«
Die beiden Soldaten zögerten. Selbst in der schwachen Beleuchtung und geblendet durch das grelle Licht des Scheinwerfers konnte Indiana den verwirrten Ausdruck auf ihren Gesichtern erkennen. Aber dann wandten sie sich doch gehorsam um und gingen wieder. Und wenige Augenblicke später erlosch auch der Scheinwerferkegel.
Trotzdem blieben sie nur wenige Sekunden allein, denn die Tür wurde ein zweites Mal geöffnet, und Bentley stürmte hinaus.»Was ist passiert?«fragte er knapp, als er Norten mit dem Gewehr in der Hand neben Indiana stehen sah.
Norten deutete auf den Kadaver der riesigen Klapperschlange neben Indiana.»Um ein Haar hätten wir unseren zukünftigen Führer verloren«, sagte er.
Bentley sah ihn irritiert an, kam einen Schritt näher — und stockte mit einem erstaunten Laut mitten im Schritt, als sein Blick auf den gewaltigen, im Tode zusammengerollten Schlangenkörper fiel.
«Was …?«
«Ich glaube, ich muß mich bei passender Gelegenheit beim Kapitän dieses Schiffes beschweren«, sagte Indiana in dem ebenso schwachen wie vergeblichen Versuch, einen Scherz zu machen.»Hier wimmelt es von Ungeziefer. Ich hoffe nur, die Kakerlaken in Ihrer Küche sind nicht genauso groß.«
Bentley blieb völlig ernst.»Das ist doch völlig unmöglich!«sagte er überzeugt.
«Was ist passiert, Dr. Jones?«fragte plötzlich Norten.»Was tun Sie überhaupt hier oben?«
«Ich habe Befehl erlassen, daß niemand nach Dunkelwerden an Deck darf«, fügte Bentley hinzu.
Indiana ignorierte diese Bemerkung und deutete in die Richtung, in der er den Mayapriester gesehen hatte.»Ich bin heraufgekommen, um frische Luft zu schnappen«, sagte er.»Ich wollte über unser Gespräch nachdenken. Dort drüben stand eine Gestalt.«
«Vermutlich eine Deckswache«, sagte Bentley.
Indiana schüttelte überzeugt den Kopf.»Es war keiner Ihrer Männer, Commander«, sagte er.»Es war ein Maya.«
Bentleys Augen wurden groß.»Ein Maya? Sie sind verrückt!«
«Sicher«, erwiderte Indiana trocken und deutete auf die tote Schlange.»Und das da bilde ich mir auch nur ein.«
«Wie kommen Sie darauf, daß es ein Maya war?«erkundigte sich Norten.
«Zumindest war er wie ein Mayapriester gekleidet«, schränkte Indiana ein.»Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Es war zu weit entfernt, und es war zu dunkel. Aber er trug einen Zeremonienmantel und einen Kopfschmuck aus Paradiesvogelfedern.«
«José!«murmelte Norten halblaut.
Indiana sah ihn mißtrauisch an.»Wie kommen Sie darauf?«
«Wer sollte es sonst gewesen sein? Die Auswahl ist nicht besonders groß.«
«Und diese Schlange?«
Norten antwortete gar nicht, und sein Bruder Bentley sagte nach sekundenlangem Überlegen und mit einer Stimme, die deutlich verriet, daß er nicht einmal selbst an diese Erklärung glaubte:»Vielleicht ist sie im letzten Hafen an Bord gekrochen. Das Schiff ist riesig. Selbst ein so großes Tier kann sich wochenlang darauf verstecken, ohne entdeckt zu werden.«
Indiana würdigte ihn nicht einmal einer Antwort.
«Es muß José gewesen sein«, sagte Norten.»Wir hätten ihn sofort in Ketten legen sollen.«
«Oder ihn gleich über Bord werfen«, murmelte Indiana mit einem neuerlichen Blick auf die tote Schlange. Die Worte waren nicht ernst gemeint, und er bedauerte sie fast im selben Moment schon wieder, in dem er sie ausgesprochen hatte. Denn der Ausdruck in Bentleys Augen machte klar, daß der diesen Vorschlag für einen Moment ganz ernsthaft erwog.
«Konnten Sie erkennen, was er getan hat?«erkundigte sich Norten.
Indiana schüttelte automatisch den Kopf, aber dann überlegte er einen Moment und deutete schließlich aufs Meer hinaus; in die gleiche Richtung, in die der Mann in der Priesterkleidung geblickt hatte.»Ich bin nicht sicher«, sagte er,»aber ich hatte das Gefühl, daß er irgend jemandem Zeichen gibt.«
«Zeichen? Wem um alles in der Welt sollte er Zeichen geben?«erkundigte sich Bentley verblüfft.
«Vielleicht den Indios«, sagte Norten nachdenklich.
Bentley sah ihn fragend an, und Norten fügte erklärend hinzu:»Die Männer, die meine Hacienda angegriffen haben.«
«Wir sind hier auf hoher See«, erinnerte ihn Bentley.»Und das hier ist kein Kriegskanu, Norten, sondern ein Schlachtkreuzer.«
«Ich weiß«, antwortete Norten.»Aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein. Laß die Wache verdoppeln.«
«Das ist doch lächerlich!«protestierte Bentley.
«Ich hoffe, Sie behalten Ihren Humor auch dann noch, wenn einer vor Ihnen steht und Ihnen die Kehle durchschneidet, Commander«, sagte Indiana ernst.
Bentley musterte ihn mit unverhohlener Herablassung. Dann lächelte er dünn, drehte sich um und deutete auf einen der gewaltigen Geschütztürme des Schiffes.»Sehen Sie das, Dr. Jones?«
Indiana nickte.
«Das ist eine Dreißig-Zentimeter-Kanone«, fuhr Bentley mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme fort.»Wir haben allein davon sechs Stück. Außerdem noch sechsundzwanzig andere Kanonen, vierzig Maschinengewehre und fünfhundert ausgebildete Marineinfanteristen, von denen jeder ein ausgezeichneter Schütze ist. Eine einzige Breitseite dieses Schiffes könnte Ihr ganzes sagenhafte Mayareich quer über den Ozean pusten.«
«Da wäre ich nicht so sicher«, murmelte Indiana halblaut.
Bentley wollte auffahren, aber Norten brachte ihn mit einer besänftigenden Geste zum Schweigen.»Ich glaube nicht, daß dieser Streit zu irgend etwas führt«, sagte er.»Laßt uns lieber überlegen, was wir mit José machen.«
«Wenn es José war«, sagte Indiana.
Norten überging die Bemerkung.»Haben Sie sich entschieden, Dr. Jones?«
«Noch nicht«, antwortete Indy.»Warum?«
«Weil dann alles sehr viel leichter wäre«, antwortete Norten.»Wir könnten José in eine Arrestzelle sperren und uns in aller Ruhe überlegen, wie wir mit ihm verfahren wollen.«
«Was haben Sie denn vor?«erkundigte sich Indiana.
«Nichts«, antwortete Norten; eine Spur zu hastig, als daß Indiana ihm wirklich geglaubt hätte.»Sobald wir diesen Tempel gefunden und die Gefahr beseitigt haben, gilt für ihn dasselbe, was auch für Sie gilt: Er ist ein freier Mann und kann gehen, wohin er will.«
«Ich lasse ihn auf der Stelle verhaften und in Ketten legen«, sagte Bentley.
Diesmal war es Indiana, der ihn zurückhielt.»Ich glaube, das wäre ein Fehler«, sagte er.»Wenigstens im Moment. Geben Sie mir Zeit bis morgen abend, über Ihre Geschichte nachzudenken.«
«Und dieser Verrückte läuft inzwischen frei auf meinem Schiff herum?«fragte Bentley empört.»Niemals!«
«Vielleicht hat er recht«, mischte sich sein Bruder ein.»Natürlich werden wir ihn im Auge behalten. Aber eine Gefahr, die man kennt, ist eigentlich keine mehr. Vielleicht erfahren wir von ihm noch etwas über den Verbleib des letzten Anhängers.«
«Er hat ihn nicht«, sagte Bentley.
«Woher wissen Sie das?«erkundigte sich Indiana.
«Ich habe seine Kabine durchsuchen lassen«, antwortete Bent-ley freimütig.»Ihre übrigens auch, Dr. Jones. Und auch die von Joana, und … meinem Bruder, wenn Sie das beruhigt.«
Das beruhigte Indiana keineswegs. Aber er zog es vor, darauf zu schweigen und sich ohne ein weiteres Wort umzudrehen und wieder unter Deck zurückzugehen. Er fühlte sich sehr verwirrt. Auf einmal hatte er furchtbare Angst. Und er wußte nicht einmal genau, wovor.
Natürlich verlangte sein Körper schließlich doch sein Recht. Trotz allem fiel Indiana in einen tiefen, traumlosen Schlaf, kaum daß er in seine Kabine gegangen und sich angezogen auf dem Bett ausgestreckt hatte, aus dem er erst spät am Vormittag erwachte.
Er blieb noch eine ganze Weile auf dem Bett liegen, starrte die unverkleidete, eiserne Decke hoch über seinem Kopf an und versuchte, die Geschehnisse der vergangenen Tage Revue passieren zu lassen. Nicht zum ersten Mal hatte er das Gefühl, irgend etwas übersehen zu haben; irgend etwas nicht genug Bedeutung zugemessen, irgendein Detail nicht beachtet zu haben. Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit, etwas auf den ersten Blick völlig Unwichtiges, Nebensächliches — aber Indiana wußte einfach, daß all diese scheinbar völlig zusammenhanglosen Teile sich zu einem Bild ordnen würden, sobald er nur den passenden Schlüssel gefunden hätte. Aber solange er auch überlegte — er kam einfach nicht darauf.
Schließlich resignierte er und stand auf. Jemand mußte in seiner Kabine gewesen sein, während er schlief, denn auf dem Hocker neben seinem Bett fand er eine sauber gefaltete Marine-Hose und ein dazu passendes Hemd, von dem die Rangabzeichen entfernt worden waren. In Anbetracht des desolaten Zustandes seiner eigenen Kleidung — seine Hose und sein Hemd zeigten immer noch die Spuren seiner verzweifelten Flucht durch den Aufzugschacht, der unfreiwilligen Schwimmpartie im Hafen von New Orleans und des Feuersturms auf Nortens Hacienda —, war die Verlok-kung im ersten Moment groß, sich ihrer zu entledigen und die bereitgelegten Sachen überzuziehen. Aber Indiana tat es nicht. Statt dessen blieb er fast eine Minute lang völlig reglos auf der Bettkante hocken und sah auf sein rechtes Hosenbein hinunter. Der Stoff war nicht nur zerrissen und völlig verdreckt, er zeigte auch deutliche Brandspuren, die Berührung der glühenden Feuerschlange, die aus dem Abgrund unter Nortens Haus herausgegriffen und sein Bein umklammert hatte. Und plötzlich hatte er erneut das Gefühl, der Lösung ganz, ganz nahe zu sein. Der Gedanke war da — so deutlich, daß er quasi nur die Hand auszustrecken und ihn zu ergreifen brauchte. Aber bevor es ihm gelang, entschlüpfte er ihm wieder, und hinter seiner Stirn herrschte nichts als das gewohnte Durcheinander.
Indiana war nicht einmal sonderlich enttäuscht. Es wäre beinahe zu einfach gewesen. Aber immerhin wußte er, daß er auf der richtigen Spur war. Und er kannte sich selbst gut genug, um auch zu wissen, daß es nicht mehr allzulange dauern würde, bis er von selbst auf die Lösung kam. Und dann würde irgend jemand hier an Bord eine unangenehme Überraschung erleben — entweder Gregs undurchsichtige Freunde oder sein vermeintlicher Freund José. Vielleicht alle drei.
Er wusch sich, reinigte seine Kleidung, so gut es ging, und verließ seine Kajüte.
Als er halb auf den Gang hinausgetreten war, hörte er neben sich eine Tür ins Schloß fallen. Automatisch wandte er den Kopf und sah José, der ebenfalls auf den Korridor hinausgetreten war und sich mit schnellen Schritten entfernte. Offensichtlich hatte er Indiana gar nicht bemerkt.
Im ersten Moment — fast ohne daß er selbst wußte, warum — wich Indiana mit einer lautlosen Bewegung in seine Kabine zurück und zog die Tür bis auf einen fingerbreiten Spalt wieder zu. Aufmerksam beobachtete er José, wie er den Korridor hinunterging und schließlich seinen Blicken entschwand. Dann trat er ein zweites Mal auf den Gang, sah sich sichernd nach rechts und links um — und huschte zu der Tür, aus der José gerade herausgekommen war. Eine Sekunde zögerte er noch, dann streckte er die Hand nach der Klinke aus — und die Tür war tatsächlich nicht abgeschlossen.
Die Kajüte hatte kein Fenster, genau wie seine eigene. Indiana tastete einen Moment im Dunkel nach dem Lichtschalter, fand ihn und blinzelte einen Herzschlag lang in das plötzlich aufflammende, grellgelbe Licht. Dann schob er die Tür hinter sich hastig wieder zu und sah sich um.
Einen Moment lang überlegte er, was um alles in der Welt er José erzählen sollte, falls dieser unverhofft zurückkäme und ihn beim Durchsuchen seiner Kabine entdecken würde. Dann verscheuchte er den Gedanken. Nach allem, was in den letzten zweiundsiebzig Stunden passiert war, gab es im Grunde nichts mehr, weswegen er sich über ihre ohnehin eher lockere Freundschaft noch Gedanken machen sollte.
Schnell, aber sehr gründlich durchsuchte er Josés Kajüte — was nun wirklich leicht war, denn sie war so gut wie leer. In den Schubladen und auf den Regalbrettern des eingebauten Wandschrankes fand er nichts; natürlich nicht, schließlich war José mit ebenso leichtem Gepäck wie Joana und er und die beiden anderen hier angekommen. Was hatte er zu finden gehofft?
Indy wollte schon aufgeben, aber dann drehte er sich doch noch einmal herum, ließ sich auf die Knie sinken und sah unter das Bett.
Es war eines der ältesten und lächerlichsten Verstecke, die man sich nur denken konnte — und genau dort wurde er fündig.
Unter dem Bett lag ein großes, in graues Segeltuch eingeschlagenes Bündel. Indiana zog es hervor — angesichts seines enormen Umfanges war es überraschend leicht —, legte es aufs Bett und warf einen letzten, sichernden Blick zur Tür, ehe er mit vor Aufregung zitternden Fingern den Knoten des einfachen Stricks löste, mit dem es zusammengehalten war.
Was unter der Plane zum Vorschein kam, überraschte ihn nicht mehr im mindesten. Trotzdem fuhr er so heftig zurück, als hätte er eine giftige Spinne berührt, und blickte den gewaltigen grünen Federmantel sekundenlang aus erschrocken geweiteten Augen an. Und es kostete ihn enorme Überwindung, schließlich noch einmal die Hände auszustrecken und den Mantel auf dem Bett auszubreiten.
Es war ein wirklich prachtvolles Stück. Es war nicht der erste Federmantel, den Indiana zu Gesicht bekam, aber der mit Abstand am besten erhaltene. Die grünen Federn bildeten eine dichte, flauschige Decke, die fast nichts wog, den Körper ihres Trägers aber vollkommen einhüllen konnten. Dazu passend, in der gleichen kunstfertigen Art gemacht, und vom gleichen Grundton, aber mit gelben und roten und blauen Schwanzfedern des Paradiesvogels durchsetzt, enthielt das Bündel einen gewaltigen Kopfschmuck, der mit einem Band aus feinem Leder an der Stirn des Trägers befestigt werden konnte. Ein lederner Lendenschutz, ein fast zierliches Messer mit goldenem Griff und einer Klinge, die nicht aus Metall, sondern aus rasiermesserscharf geschliffenem Obsidian bestand, und ein Bündel bunter, mit zahllosen Knoten versehener Stricke vervollständigten die Ausrüstung.
Indiana legte bis auf das kleine Fädenbündel alles zurück auf das Bett. Er wußte, was er da in Händen hielt. Die scheinbar sinnlosen Knoten und Bindungen in den gut fünf Dutzend fingerlangen Stricken ergaben sehr wohl einen Sinn — aber nur für den, der sie zu lesen verstand. Was er hier las, war das aztekische Äquivalent des geschriebenen Wortes. Sowohl die Anzahl als auch der Abstand der einzelnen Knoten und auch die Farben der Stricke erzählten jedem, der ihre Anordnung zu deuten wußte, eine Geschichte.
Zutiefst verwirrt legte Indiana die Knotenstricke auf das Bett zurück. Es war nicht nur so, daß diese Schrift eigentlich nicht zu den Mayas, sondern zu ihren Vorfahren, den Azteken, gehörte — Indiana war bisher (wie auch der Rest der wissenschaftlichen Welt) der Überzeugung gewesen, daß diese Schrift zusammen mit dem Volk, das sie benutzt hatte, ausgestorben war und es niemanden mehr auf der Welt gab, der sie lesen konnte. Nun — einen schien es auf jeden Fall noch zu geben. Er glaubte nicht, daß José das Fadenbündel aus purer Langeweile mit sich herumschleppte.
Hinter seinem Rücken wurde die Tür geöffnet, und Indiana fuhr erschrocken herum und blickte in Nortens Gesicht.
«Dr. Jones!«sagte Norten überrascht. Dann fiel sein Blick auf das Bett und das, was Indiana darauf ausgebreitet hatte, und sein Gesicht verfinsterte sich.
«Was tun Sie hier?«fragte er mit einer Stimme, die beinahe drohend klang.
Indiana deutete auf das Bett.»Sie hatten recht, Norten«, sagte er.»Es ist Perez. Das sind die Kleider, die der Mann gestern abend getragen hat.«
Norten wirkte sehr verwirrt. Ein paar Sekunden lang wanderte sein Blick unstet zwischen Indiana und dem Federmantel auf dem Bett hin und her, und der Ausdruck darin verwandelte sich von Überraschung zu Erstaunen und Schrecken und dann purer Wut.
«Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht geglaubt habe«, sagte Indiana hastig.»Aber ich dachte, ich kenne José. Ich mußte mich einfach mit eigenen Augen überzeugen.«
Norten sagte noch immer nichts, sondern schloß die Tür, trat mit zwei raschen Schritten an Indiana vorbei ans Bett und blickte auf die darauf ausgebreiteten Stücke herab.
«Das ist die Kleidung eines Mayapriesters«, sagte er nachdenklich.»Eines sehr hohen Mayapriesters.«
«Sie kennen sie?«erkundigte sich Indiana.
«Die präkolumbianischen Kulturen Südamerikas sind mein Spezialgebiet«, antwortete Norten in leicht beleidigtem Tonfall. Er deutete auf den winzigen Dolch und das Bündel mit Knotenstricken.»Das da durfte nur der Hohepriester Quetzalcoatls selbst tragen. Jeder andere wäre getötet worden, hätte er es auch nur berührt.«
Indiana schauderte.»Dann ist José noch verrückter, als Sie geglaubt haben«, sagte er.
«Ich fürchte«, pflichtete ihm Norten bei.»Anscheinend hält er sich wirklich für die Reinkarnation Mossaderas.«
Indiana sah ihn fragend an, und Norten fügte mit einer erklärenden Geste auf den Dolch hinzu:»Mossadera war der berühmteste Priester. Angeblich soll er über hundert Jahre gelebt haben, und selbst die drei Könige, die das Mayareich in dieser Zeit hatte, fürchteten seine Macht. Es hieß, er wäre ein gewaltiger Zauberer.«
Plötzlich hatte Indiana das Gefühl, von einem eisigen Lufthauch gestreift zu werden. Er mußte wieder an die unheimliche Stille gestern nacht auf Deck denken und die gewaltige Schlange, die buchstäblich aus dem Nichts erschienen war, nachdem José die Hände gehoben und etwas gemurmelt hatte.
«Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sagte Norten ernst.»Aber glauben Sie mir, er ist nichts als ein Verrückter.«
Indiana machte eine Kopfbewegung auf den Federmantel.»Und diese Sachen? Wie hat er sie an Bord gebracht? Er hatte so wenig Zeit wie Sie oder ich, Gepäck mitzunehmen. Von der Schlange ganz zu schweigen.«
Norten zuckte mit den Achseln.»Ich weiß das so wenig wie Sie, Dr. Jones«, antwortete er.»Aber ich weiß, daß sich eine Erklärung finden wird, früher oder später.«
«Früher wäre mir lieber«, murmelte Indiana. Etwas lauter fügte er hinzu:»Warum fragen wir ihn nicht einfach?«
Norten überlegte einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf.»Das wäre nicht klug«, sagte er.»Jedenfalls jetzt noch nicht.«
«Wieso?«erkundigte sich Indiana.»Wie viele Beweise brauchen Sie noch?«
«Keine«, erwiderte Norten.»Aber solange er nicht weiß, daß wir ihn durchschaut haben, sind wir im Vorteil. Er hat immer noch diesen einen Anhänger, Dr. Jones. Und ohne ihn sind die übrigen völlig wertlos.«
Indiana gefiel das nicht. Die Vorstellung, in Begleitung eines völlig Verrückten, der sich für die Wiedergeburt eines Mayazau-berers hielt, ins Herz des Mayareiches und möglicherweise an einen verbotenen magischen Ort voller unbekannter Gefahren vorzudringen, sträubte ihm alle Haare.
«Lassen Sie uns diese Sachen wieder wegtun, Dr. Jones«, sagte Norten.»Und von hier verschwinden — bevor José zurückkommt.«
Die Sonne schien, und das Meer lag ruhig wie ein gewaltiger Spiegel aus gehämmertem Silber vor ihnen, als Indiana und Joana eine Stunde später nebeneinander aufs Deck hinaustraten. Als Indiana hinter dem Mädchen aus der Tür trat, konnte er sich eines raschen Schauderns nicht erwehren, und er konnte auch nicht verhindern, daß er einen kurzen, nervösen Blick auf die Stelle warf, an der am Abend zuvor die Schlange gelegen hatte. Natürlich bemerkte Joana das und stellte eine entsprechende Frage.
«Nichts«, sagte Indiana ausweichend.»Ich bin ein bißchen nervös, das ist alles.«
Zwischen ihren Brauen entstand eine senkrechte Falte.»Nichts?«wiederholte sie spöttisch.»Hör auf. Ich kenne dich mittlerweile gut genug, um zu wissen, daß du nicht wegen nichts leichenblaß wirst und dich umsiehst, als würdest du hinter der nächsten Ecke ein Gespenst erwarten. Was ist los?«
Indiana zögerte noch einen Moment, aber dann erzählte er Joa-na, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Das Mädchen hörte schweigend zu, aber die Bestürzung in ihrem Blick wuchs mit jedem Wort.
«José?«fragte sie schließlich zweifelnd.»Bist du sicher?«
«Wer soll es sonst gewesen sein. Außerdem — der Mantel und der Kopfschmuck waren in seiner Kabine.«
«Aber er hatte überhaupt keine Möglichkeit, sie mitzubringen«, protestierte Joana.
«Ich weiß«, sagte Indiana.»Das ist es ja gerade, was mich so erschreckt.«
Es dauerte einige Sekunden, bis Joana begriff. Dann weiteten sich ihre Augen abermals vor Schrecken.»Du meinst, daß er … daß er wirklich ein Zauberer ist?«
Indiana deutete ein Achselzucken an und blickte aufs Meer hinaus. Nicht weit vor dem Bug des Schiffes hatte sich leichter Dunst über dem Wasser gebildet, der rasch näher kam.»Mit solchen Worten sollte man vorsichtig umgehen«, sagte er ausweichend.»Aber ich habe schon Dinge erlebt, die man als Zauberei bezeichnen könnte oder zumindest das Wirken von Kräften, die wir nicht verstehen.«
Er blickte abermals und etwas aufmerksamer auf die leichte Dunstschicht über dem Wasser. Irgend etwas darin irritierte ihn, aber er vermochte noch nicht in Worte zu fassen, was es war.
«Trotzdem«, beharrte Joana und schüttelte abermals den Kopf.»Die Vorstellung paßt einfach nicht zu José. Obwohl ich ihn nicht besonders nett finde, wie du weißt.«
Indiana gestattete sich ein flüchtiges Lächeln.»Auf der Ha-cienda hatte ich das Gefühl, du findest ihn zum Kotzen.«
Joana wurde rot vor Verlegenheit und funkelte ihn an, überging das Thema aber geflissentlich.»Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, daß er ein Mörder ist.«
«Wen hat er denn bisher umgebracht?«erkundigte sich Indiana.
«Niemanden«, gestand Joana.»Aber er hat es versucht. Außerdem scheinst du Nortens Männer zu vergessen. Und wenn er wirklich der ist, für den ihr ihn haltet — warum dann der Angriff auf die Hacienda?«
Indiana behielt das Meer vor dem Bug des Schiffes scharf im Auge, während er antwortete. Der Dunst hatte sich zu Nebel verdichtet, der mit fast unheimlicher Schnelligkeit heranwuchs; als würde er aus dem Wasser selbst herausquellen. Er begann sich zu fragen, ob so etwas in diesen Breiten normal war.»Aus dem gleichen Grund, aus dem sie uns in Martens Büro überfallen haben«, antwortete er,»und mich später im Hotel. Aus demselben Grund, aus dem sie dich entführt haben. Er wollte die Anhänger. Meinen, Nortens — und dich vielleicht außerdem noch, weil er annahm, daß dein Vater dir irgend etwas über sie erzählt hat.«
Der Nebel hatte sich weiter zusammengezogen. Aus der Nebelbank über dem Wasser war eine graue Wand geworden, die sich von einem Horizont zum anderen zu erstrecken schien, und der das Schiff nicht nur entgegenlief, sondern die sich im Gegenteil auch auf das Schiff zubewegte; lautlos und mit fast unheimlicher Schnelligkeit. Für einen Moment hatte Indiana das Gefühl, eine Bewegung in diesem Nebel zu erkennen.
«Was hast du?«fragte Joana plötzlich. Dann drehte sie sich herum, sah wie er den Nebel — und fuhr erschrocken zusammen.
Und sie waren nicht die einzigen, denen der unheimliche Nebel auffiel. Überall auf dem Deck erschienen plötzlich Männer und blickten nach vorn, und als Indiana aufsah, erkannte er einen verzerrten Schatten hinter den großen Fenstern der Brücke: Bentley, der dicht an die Scheibe herangetreten war und ebenfalls nach Westen blickte.
«Das ist … unheimlich«, sagte Joana. Ihre Stimme zitterte ein wenig und verriet mehr von ihren wahren Gefühlen als ihre Worte.
«Ja«, murmelte Indiana.»Dieser Nebel gefällt mir nicht. «Er zögerte einen Moment.»Laß uns hineingehen.«
Joana widersprach nicht, und so wandten sie sich auf der Stelle um und traten wieder durch die Tür, durch die sie das Deck erst kurz zuvor betreten hatten. Indiana spürte eine immer stärker werdende Beunruhigung. Dieser Nebel war nicht nur unnatürlich und unheimlich — er war gefährlich. Er wußte nicht, woher er dieses Wissen bezog, aber es war absolut sicher.
Daher war er wenig später auch erleichtert, als Joana zustimmte, in ihrer Kabine zu bleiben, während er Bentley aufsuchte.
Er fragte den ersten Matrosen, der ihm über den Weg lief, nach dem Weg zur Brücke. Nur wenige Minuten später betrat er den Kommandostand des Kreuzers; zu Indianas Überraschung, ohne daß er ein einziges Mal aufgehalten worden war. Offensichtlich hatte Bentley Befehl gegeben, ihn zu ihm durchzulassen.
Er brauchte gar nicht zu erklären, warum er hier heraufgekommen war — die wenigen Minuten hatten ausgereicht, daß der Nebel das Schiff fast erreicht hatte. Zwischen ihm und dem Bug des Kreuzers befanden sich jetzt allerhöchstens noch dreißig oder vierzig Meter. Und er näherte sich weiter, obwohl die Maschinen des Schiffes verstummt waren und es sich nicht mehr von der Stelle bewegte.
«Was ist das?«fragte Indiana übergangslos.
Bentley, der noch immer vor dem Fenster stand und mit besorgtem Gesichtsausdruck nach Westen blickte, zuckte mit den Schultern und drehte sich nicht einmal zu ihnen herum.»Ich weiß es nicht«, antwortete er.
«Sie haben so etwas noch nie erlebt?«vergewisserte sich Indiana.
«Natürlich habe ich schon Nebel erlebt«, erwiderte Bentley, ohne den Blick von der unheimlichen Erscheinung abzuwenden.»Aber niemals solchen Nebel. Und schon gar nicht bei einem solchen Wetter. Sehen Sie nur, wie schnell er sich bewegt.«
Indiana sah tatsächlich hin — und er sah auch noch mehr. Wieder nahm er eine Bewegung hinter der grauen Wand wahr, und diesmal war er sicher, daß es keine Einbildung war. Irgend etwas verbarg sich in diesem Nebel.
«Sie sollten beidrehen, Commander«, sagte er.
Bentley wandte nun doch das Gesicht vom Fenster ab und sah ihn an.»Beidrehen? Wegen ein bißchen Nebel?«
Indiana lachte humorlos. Der Mann hinter dem Ruder sah kurz und nervös auf und warf ihm einen erschrockenen Blick zu, senkte aber hastig wieder den Kopf, als Bentley böse in seine Richtung blickte.
«Das ist nicht nur ein bißchen Nebel«, sagte Indiana.»Und das wissen Sie genausogut wie ich, Commander Bentley.«
Bentley verdrehte die Augen, aber wie sein Lachen zuvor wirkte das nicht überzeugend.»Sie reden Unsinn, Dr. Jones«, sagte er.»Sie hören sich schon an wie N orten.«
«Und Sie wissen, daß wir beide verdammt recht haben«, fuhr Indiana unbeeindruckt fort.»Drehen Sie bei, oder legen Sie den Rückwärtsgang ein oder was immer dieses Schiff hat. Ich fürchte, dieser Nebel ist etwas, gegen das Ihnen Ihre heißgeliebten Kanonen nicht helfen werden.«
«Unsinn!«beharrte Bentley.»Gleich werden Sie mir erzählen, daß da draußen ein Seeungeheuer auf uns wartet, wie?«
Und vielleicht hätte ich damit sogar recht, dachte Indiana, wenn auch ein Ungeheuer ganz anderer Art, als du glaubst. Er sprach diesen Gedanken aber nicht laut aus, denn er wußte, daß die Worte so wenig nützen würden wie alles, was er zuvor gesagt hatte. Aber er trat dicht neben Bentley ans Fenster und blickte voll banger Erwartung nach Westen.
Die Nebelbank hatte in diesem Moment das Schiff erreicht und begann seinen Bug einzuhüllen. Nein, dachte Indiana — nicht einzuhüllen. Es war, als … löse sie ihn auf. Die Konturen des Schiffes wurden unscharf, schienen für einen Moment mit dem grauen Nebel zu verschmelzen und verschwanden dann einfach. Und an ihrer Stelle erschien etwas anderes, etwas Zuckendes, sich Windendes, das er nicht richtig erkennen konnte. Vielleicht weigerte er sich auch einfach nur, es zu erkennen, weil das, was er sah, einfach zu bizarr für den menschlichen Geist war.
Neben ihm atmete Bentley scharf ein und drehte sich mit einem plötzlichen Ruck zu dem Mann am Ruder um.
«Volle Fahrt zurück!«bellte er. An einen zweiten Mann gewandt, der neben dem Steuermann stand und mit leichenblassem Gesicht in den Nebel hinausblickte, sagte er:»Geben Sie Alarm. Es kann sein, daß wir angegriffen werden.«
Aber es war zu spät. Der Nebel hatte das vordere Fünftel des Schiffes verschlungen und kroch unerbittlich weiter. Einer der gewaltigen Geschütztürme, auf die Bentley so stolz gewesen war, verschwand in der grauen Wand und löste sich einfach auf.
Und dann geschah es. Etwas traf das Schiff.
Es war nicht besonders heftig. Indiana spürte nicht einmal eine Erschütterung, aber er hörte es: einen unheimlichen, dumpfen Laut, der in der grauen Unendlichkeit des Nebels unnatürlich lang widerzuhallen schien, dann einen zweiten, dritten und vierten. Und dann kletterte eine Gestalt über die Reling.
Der Mann war im Nebel fast nur als Schatten zu erkennen. Trotzdem erschrak Indiana, wie groß und breitschultrig er war. Er war nackt bis auf einen Lendenschurz und einen Federkopfschmuck, der an Josés erinnerte, aber etwas kleiner war. In der linken Hand trug er ein Messer und in der rechten etwas anderes, das Indiana für einen Speer gehalten hätte, hätte er es nicht besser gewußt. Mit einer fließenden, ungeheuer kraftvollen Bewegung schwang er sich über die stählerne Reling des Schiffes und verschwand geduckt im Nebel.
Dem ersten Mayakrieger folgte ein zweiter, ein dritter und vierter, und dann schien der ganze Nebel rechts und links des Schiffes zum Leben zu erwachen, als Dutzende, wenn nicht Hunderte hünenhafter, halbnackter Gestalten auf das Deck stürmten und sich zu verteilen begannen.
Bentleys Gesicht verlor alle Farbe.»Was um Gottes willen geht da vor?«flüsterte er.
In dem Nebel, der mittlerweile fast die Hälfte des Schiffes verschlungen hatte, blitzte es plötzlich irgendwo auf, und den Bruchteil einer Sekunde später hörte Indiana das sonderbar gedämpfte Geräusch eines Gewehrschusses. Fast im gleichen Augenblick begannen überall an Bord die Alarmsirenen zu schrillen. Aber auch dieses Geräusch wirkte gedämpft und zu leise, als nähme ihm etwas seine Kraft; oder als gehöre es einfach nicht in den Teil der Welt, in den das Schiff vorgedrungen war.
Auf dem Vorderdeck des Schiffes entbrannte ein wütendes Handgemenge zwischen den Angreifern und den Matrosen, die jetzt in immer größerer Zahl an Deck strömten. Es war ein unheimlicher, fast bizarrer Anblick — der Nebel, der sich wie ein graues Leichentuch über dem Schiff ausgebreitet hatte, machte nicht nur die Gestalten von Angreifern und Verteidigern zu gleichförmigen, huschenden Schatten, deren Bewegungen etwas fast Tänzerisches zu haben schienen, er verschluckte auch jeden Laut; dann und wann sah Indiana das grelle Aufblitzen eines Gewehrschusses, aber er hörte nichts.
«Wir müssen raus hier«, schrie Bentley plötzlich. Seine Stimme war schrill und kippte fast um; von dem disziplinierten, stets ruhigen und beherrschten Kreuzerkommandanten, als den Indiana ihn kennengelernt hatte, war nichts mehr geblieben. Was er sah, das mußte sein Weltbild bis in die Grundfesten erschüttert haben. Vermutlich hatte er recht mit dem, was er Indiana noch in der Nacht voller Stolz erklärt hatte: daß nämlich die Kampfkraft dieses Schiffes allein reichte, es mit dem gesamten historischen Mayareich aufzunehmen. Und doch mußte er jetzt mit ansehen, wie diese gewaltige Vernichtungsmaschine von einer Handvoll halbnackter, nur mit Blasrohren und Äxten bewaffneter Wilder überrannt wurde.
«Raus hier!«sagte er noch einmal. Er fuhr herum, durchquerte mit zwei, drei gewaltigen Sätzen das Ruderhaus und zerrte Indiana einfach mit sich. Erst nachdem sie die Brücke verlassen und auf den schmalen Metallgang davor hinausgestürzt waren, gelang es Indiana, sich aus seinem Griff zu befreien und seine Hände abzustreifen.
Der Nebel war so dicht, daß er kaum die sprichwörtliche Hand vor Augen sehen konnte. Alles, was weiter als fünf oder sechs Schritte entfernt war, schien sich in graue Unwirklichkeit aufzulösen. Überall rings um sie herum wurde gekämpft, aber Indiana sah nichts anderes als lautlose Schatten, die manchmal aus dem Nebel auftauchten, um sofort wieder von ihm verschlungen zu werden. Einmal krachte ein Schuß unmittelbar in ihrer Nähe; das grell-orangefarbene Mündungsfeuer war allerhöchstens fünf Meter von Indiana und Bentley entfernt. Aber er hörte trotzdem nur einen gedämpften, kaum wahrnehmbaren Laut. Selbst das Poltern ihrer Schritte auf der Metalltreppe, die zum Deck hinunterführte, wurde von diesem Nebel verschluckt.
Indiana blieb hilflos stehen, als sie das Deck erreicht hatten. Beinahe verzweifelt sah er sich um. Er wußte, daß die Tür, nach der er suchte, ganz in seiner Nähe sein mußte — aber der Nebel war hier unten so dicht, daß er einen halben Meter daran vorbeistolpern konnte, ohne sie zu sehen.
Irgend etwas prallte mit einem gedämpften Klirren neben ihm gegen die Metallwand und zerbrach. Indiana gewahrte plötzlich einen Schatten irgendwo in den grauen Schwaden vor sich, warf sich instinktiv zur Seite und spürte, wie ihn ein zweites Blasrohrgeschoß so knapp verfehlte, daß er den Luftzug spüren konnte. Durch die plötzliche Bewegung verlor er auf dem feucht gewordenen Metallboden den Halt. Er fiel, rollte sich über die Schulter ab und kam mit einer kraftvollen Bewegung wieder auf die Füße; gleichzeitig löste er die Peitsche von seinem Gürtel.
Als der Maya heranstürmte, sein Blasrohr wie eine Keule schwingend, traf ihn das geflochtene Ende der Peitschenschnur mit aller Kraft. Der Indio schrie vor Schmerz, krümmte sich und fiel auf die Knie, und Indiana war mit einem blitzschnellen Satz bei ihm und schlug ihm die Faust unter das Kinn. Bewußtlos sackte der Maya nach hinten.
Indiana blieb eine Sekunde stehen, massierte seine schmerzende Rechte und blickte auf den riesigen Mayakrieger hinab. Der Mann war sehr groß und muskulös; aber es war kein solcher Gigant wie der, der ihn in New Orleans umzubringen versucht hatte. Wäre es anders gewesen, dann wäre es jetzt wahrscheinlich Indiana, der bewußtlos oder tot auf dem Rücken lag.
Er verscheuchte den Gedanken, drehte sich herum und versuchte, den Nebel mit Blicken zu durchdringen. Rings um ihn herum tobte der Kampf mit gespenstischer Lautlosigkeit weiter, aber darauf achtete er kaum. Er mußte zu Joana. Wenn sie ihre Kabine verließ und hier heraufkam, um nachzusehen, was der Lärm und die Aufregung zu bedeuten hatten, dann würden die Mayas sie wahrscheinlich umbringen.
Vorerst jedoch fand er nicht einmal den Brückenaufbau wieder, geschweige denn die Tür. Bentley war irgendwo im Nebel verschwunden. Indiana machte einen unsicheren Schritt und blieb erschrocken wieder stehen, als der Nebel einen weiteren, riesigen Schatten ausspie. Aber diesmal wurde er nicht angegriffen — der Indio verschwand ebenso lautlos wieder, wie er aufgetaucht war.
Wie ein Blinder, beide Arme weit ausgestreckt, tastete sich Indiana durch die immer dichter werdenden Schwaden vorwärts. Trotzdem stieß er zweimal schmerzhaft gegen Metall, und einmal ergriffen seine Hände etwas aus Stoff; er hörte einen spitzen Aufschrei, dann wurden seine Arme beiseite geschlagen, und er taumelte zurück und hätte um ein Haar die Balance verloren.
Schließlich stießen seine tastenden Finger auf Widerstand. Aber es war nicht das Metall der Tür, nach der er suchte, sondern feuchtes, geteertes Holz. Indiana machte einen weiteren Schritt und starrte eine Sekunde lang verblüfft auf den unförmigen Schatten, der aus dem Nebel vor ihm aufgetaucht war, ehe er sich eingestand, daß er die Orientierung verloren hatte und statt zurück zur Brücke genau in die entgegengesetzte Richtung gegangen war. Vor ihm lag eines der beiden großen Rettungsboote, die er am Bug des Schiffes gesehen hatte.
Enttäuscht drehte er sich wieder um, tastete einige weitere Sekunden blind im Nebel herum und bekam schließlich etwas zu fassen, das er mit einiger Mühe als die Reling des Schiffes identifizieren konnte. Wenn er sich jetzt nach links und daran entlangtastete, dann mußte er den Weg zur Brücke zurück finden. Indiana war sich schmerzlich der Tatsache bewußt, daß er auf diese Weise weitere kostbare Zeit verlieren mußte, aber die Gefahr, sich in diesem unheimlichen Nebel abermals zu verirren und dabei noch mehr Zeit — oder vielleicht auch sein Leben — zu verlieren, war zu groß.
Über alledem hätte er fast die größte Gefahr vergessen, die über diesem Schiff schwebte.
Aber sie hatte ihn nicht vergessen.
Er hatte sich noch keine fünf Schritte weit an der Reling entlanggetastet, als der Nebel eine weitere riesige Indianergestalt ausspie. Und diesmal kam seine Reaktion zu spät.
Der Maya war nicht mit einem Blasrohr bewaffnet, sondern schwang eine kurzstielige Axt mit einer Schneide aus schwarzem Stein. Indiana wich dem Hieb im allerletzten Moment aus, aber der rasiermesserscharf geschliffene Obsidian hinterließ einen langen, blutigen Kratzer auf seiner Brust, und der Schwung von Indianas eigener verzweifelter Bewegung reichte aus, ihn rücklings gegen die Reling prallen und das Gleichgewicht verlieren zu lassen. Eine halbe Sekunde lang stand er in einer fast grotesken Haltung da, ruderte wild mit den Armen und versuchte, seine Balance wiederzufinden, dann versetzte ihm der Maya einen Stoß vor die Brust, und Indiana schlug einen halben Salto nach hinten und fiel über Bord; für eine halbe, aber entsetzliche Sekunde befand sich der Himmel unter und das Meer über ihm, dann warf sich Indiana mit der Kraft der Verzweiflung weiter herum, vollendete die Drehung und streckte gleichzeitig beide Hände aus. Wie durch ein Wunder bekam er die Reling zu fassen.
Der Ruck war so hart, daß seine linke Hand sofort wieder von ihrem Halt abrutschte und er für einen Moment hilflos an nur einer Hand über dem Nichts schwebte. Indiana biß die Zähne zusammen, ignorierte den entsetzlichen Schmerz in seinem rechten Handgelenk und der Schulter und griff hastig ein zweites Mal mit der Linken zu. Er bekam die Reling zu fassen und klammerte sich daran fest.
Für eine Sekunde.
Dann erschien der Maya wieder über ihm, starrte einen Herzschlag lang ohne eine Spur von Zorn oder gar Haß — aber auch ohne eine Spur von Mitleid — auf ihn herab und schwang seine Axt dann ein zweites Mal. Indiana fand gerade noch Zeit, seine Hand hastig zurückzuziehen, als die Schneide funkensprühend gegen die Reling prallte. Abermals hing er keuchend vor Schmerz und Anstrengung an nur einer Hand über dem Nichts, und seine Augen weiteten sich entsetzt, als er sah, wie der Indio zu einem Hieb nach seiner anderen Hand ausholte. Die Schneide zischte herab, Indiana ließ auch mit der linken Hand los und griff im gleichen Moment wieder mit der anderen zu. Er büßte auch diesmal seine Finger nicht ein, aber er hatte das Gefühl, der Arm würde ihm aus dem Gelenk gerissen. Und der Maya holte schon wieder zu einem Axthieb gegen seine Hand aus.
Indiana setzte alles auf eine Karte. Nur an einer Hand hängend, löste er mit der anderen die Peitsche vom Gürtel und schlug zu. In der unglücklichen Lage, in der er sich befand, konnte er nicht richtig ausholen, geschweige denn zielen. Trotzdem wickelte sich die Peitschenschnur knallend um das Handgelenk des Mayas, so daß dieser mit einem Schmerzensschrei sein Beil losließ, das im hohen Bogen über Indiana hinwegsegelte und im Meer verschwand. Aber er griff auch gleichzeitig mit der anderen Hand zu, packte die Peitsche und zerrte mit aller Kraft daran.
Indiana wurde plötzlich schneller in die Höhe gezogen, als ihm recht war. Sein Gesicht, seine Brust und dann seine Knie schrammten unsanft über die Reling, dann stürzte er der Länge nach auf das Deck und kam endlich auf die Idee, den Peitschenstiel loszulassen.
Der Maya trat nach ihm. Indiana krümmte sich blitzschnell und nahm dem Tritt so die ärgste Wucht; trotzdem reichte er, ihm die Luft aus den Lugen zu treiben und sekundenlang bunte Sterne vor seinen Augen tanzen zu lassen. Keuchend wälzte er sich herum, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und fühlte sich plötzlich von einer gewaltigen Hand im Nacken gepackt und in die Höhe gerissen. Eine zweite, ebenso starke Hand krallte sich in seinen Hosenbund und riß ihn vollends vom Deck hoch. Scheinbar mühelos stemmte der riesige Maya ihn in die Höhe, drehte sich herum und trug ihn an ausgestreckten Armen und hoch über dem Kopf zur Reling zurück, um ihn ins Meer zu schleudern.
«Halt!«
Die Stimme kam aus dem Nebel, und obwohl sie nicht einmal sonderlich laut war, war ihr Klang doch so scharf und befehlend, daß der Mayakrieger mitten in der Bewegung erstarrte. Erst einer, dann zwei und schließlich drei Schatten traten aus den Nebelschwaden heraus. Zwei von ihnen waren Mayakrieger, die Zwillingsbrüder des Riesen hätten sein können, der Indiana immer noch an ausgestreckten Armen hoch über den Kopf hielt; der dritte war José.
«José!«brüllte Indiana und begann heftig mit den Beinen zu strampeln.»Sag diesem Riesenbaby, daß es mich absetzen soll!«
José sagte nichts, sondern musterte Indiana nur eine Sekunde lang kalt, machte aber dann eine knappe Handbewegung, und der Indio setzte Indiana sehr unsanft auf die Füße zurück. Der riß sich los, stolperte einen Schritt zur Seite und durchbohrte abwechselnd den halbnackten Riesen und José mit Blicken.
«Das war knapp, nicht wahr?«fragte José. Er lächelte, aber es wirkte so kalt wie das scheinbare Grinsen einer Schlange, die ihr Opfer betrachtet.
«Vielleicht nicht knapp genug«, sagte Indiana böse.»Wenn ich das hier überlebe, dann drehe ich dir höchstpersönlich den Hals um, mein Freund. Aber ich schätze«, fügte er nach einer winzigen Pause und mit einem Blick auf den bunt bemalten Giganten neben sich hinzu,»ich werde es nicht überleben. Wolltest du dir das Vergnügen nicht entgehen lassen, mich selbst umzubringen, oder warum hast du ihn zurückgehalten?«
José hielt seinem Blick ruhig stand.»Ich will dich nicht umbringen, Indiana«, sagte er. Er streckte die Hand aus.»Gib mir die Kette, und dir passiert nichts.«
«Welche Kette?«erkundigte sich Indiana.
Josés Gesicht verdüsterte sich.»Spiel nicht den Narren, Indiana! Du weißt genau, wovon ich rede. Den Anhänger! Er gehört mir!«
«Das wäre eine interessante Frage für den Rechtsanwalt«, erwiderte Indiana.»Genaugenommen gehört er Joana. Ich habe ihn von ihrem Vater bekommen …«
«Nachdem er ihn unserem Volk gestohlen hat!«unterbrach ihn José zornig und streckte abermals und in einer herrischen, fordernden Geste die Hand aus. Gleichzeitig traten die beiden Mayakrieger hinter ihm drohend einen Schritt näher.
«Dein Volk?«Indiana versuchte zu lachen, aber es gelang nicht richtig.»Du bist wirklich so verrückt, wie Bentley glaubt. Hältst du dich tatsächlich für die Reinkarnation eines alten Mayaprie-sters — oder bist du einfach nur größenwahnsinnig?«
«Wer oder was ich bin, steht hier nicht zur Debatte«, antwortete José wütend.»Gib mir den Anhänger, oder er wird zu Ende bringen, was er begonnen hat. «Er deutete auf den Krieger neben Indiana.
«Und mich über Bord werfen?«Indiana lachte, und diesmal klang es wirklich spöttisch.»Davon abgesehen, daß ich die Kette nicht bei mir habe, wäre es ziemlich dumm, so etwas zu tun. Dann würdest du sie nämlich gar nicht mehr bekommen, mein Freund.«
In Josés Augen blitzte es zornig auf. Er ballte die Hände zu Fäusten, und für eine Sekunde rechnete Indiana fast damit, daß er sich auf ihn stürzen oder seinen Begleitern einen entsprechenden Befehl geben würde, aber er tat weder das eine noch das andere, sondern trat im Gegenteil plötzlich einen Schritt zurück und maß Indiana mit einem langen, verächtlichen Blick.»Du kommst dir sehr schlau vor, wie?«fragte er.
«Ja«, antwortete Indiana.
«Vielleicht bist du es sogar«, sagte José.»Aber ich schwöre dir, ich bekomme die Kette. Du wirst sie mir sogar freiwillig bringen.«
«Warum sollte ich das tun?«erkundigte sich Indiana.
José lachte böse.»Das wirst du schon sehen«, sagte er.»Warte nur ab. «Er trat einen weiteren Schritt zurück, wodurch seine Gestalt schon fast wieder im Nebel verschwand.»Du weißt, wo du mich findest«, sagte er.»Mich — und deine kleine Freundin. «Und damit trat er einen weiteren Schritt in den Nebel zurück und schien sich aufzulösen wie ein Gespenst, das so lautlos wieder verschwand, wie es aufgetaucht war.
Es dauerte einen Sekundenbruchteil, bis Indiana überhaupt begriff, was José gemeint hatte. Dann fuhr er wie elektrisiert zusammen, schrie mit vollem Stimmenaufwand:»Joana!«und stürzte mit einem gewaltigen Satz hinter José und den drei Mayas her.
Das letzte, was er für die nächsten zwei oder auch drei Stunden wahrnahm, war das stumpfe Ende einer Axt, das plötzlich aus dem Nebel auftauchte und gegen seine Stirn prallte.
Er erwachte mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens und auf dem Rücken liegend auf dem Bett in seiner Kajüte. Die Maschinen des Schiffes liefen wieder — das war das erste, was er bewußt registrierte. Das Licht brannte, und jemand saß auf der Kante seines Bettes und preßte ihm ein angefeuchtetes, eiskaltes Tuch über Stirn und Augen.
Als er die Lider hob, lief ihm Wasser in die Augen. Indiana blinzelte, hob den Arm und versuchte das Tuch samt der Hand, die es hielt, beiseite zu schieben. Er ertastete schmale, kühle Finger von erstaunlicher Stärke, und als sich die Hand nach einem Augenblick von sich aus zurückzog, blinzelte er durch einen Schleier aus Tränen und Wasser in ein schmales, von dunklem Haar umrahmtes Gesicht, das er im allerersten Moment für Joa-nas hielt.
Er erkannte seinen Irrtum fast im gleichen Augenblick. Es war nicht Joana, die neben ihm saß und sich um ihn kümmerte, sondern Josés Frau.
«Bleiben Sie liegen, Dr. Jones«, sagte Anita, als er sich automatisch in die Höhe stemmen wollte. Die Sorge in ihrer Stimme klang echt; ebenso wie die Besorgnis in ihrem Blick nicht geschauspielert war. Mit sanfter Gewalt versuchte sie, ihn auf das Bett zurückzudrücken, aber diesmal war Indiana stärker und schob ihre Hand beiseite. Mit einem Ruck setzte er sich auf und wäre um ein Haar beinahe wieder zurückgefallen, denn in seinem Kopf erwachte ein grausamer, pochender Schmerz, der so heftig war, daß ihm für einen Moment übel wurde.
«Was ist passiert?«stöhnte er, während er Daumen und Zeigefinger der Rechten gegen die Nasenwurzel preßte, als könne er den Schmerz auf diese Weise besänftigen.
«Ich hatte gehofft, daß Sie mir diese Frage beantworten können, Dr. Jones«, antwortete Anita.»Zwei von Bentleys Männern haben Sie draußen an Deck gefunden — bewußtlos und in einer riesigen Blutlache. Als sie Sie hereinbrachten, dachte ich im ersten Moment, Sie wären tot.«
Hinter Indianas Stirn wirbelten Bilder und Erinnerungsfetzen durcheinander, ohne im ersten Moment einen Sinn ergeben zu wollen.»Die Mayas …«murmelte er.»José …«
Und dann erinnerte er sich. Schlagartig und mit solcher Klarheit, daß er sich ungeachtet des immer noch rasenden Schmerzes zwischen seinen Schläfen ein zweites Mal aufsetzte. »Joana!«
Er richtete sich weiter auf und wollte die Beine vom Bett schwingen, aber Anita hielt ihn mit einer befehlenden Geste zurück. Indiana wollte ihre Hand wegschieben, doch diesmal ließ sie es nicht geschehen, sondern packte ihn im Gegenteil an der Schulter und hielt ihn mit erstaunlicher Kraft fest.
«Lassen Sie mich!«sagte Indiana matt.»Ich muß …«
«Sie müssen überhaupt nichts, Dr. Jones«, unterbrach ihn Anita streng.»Sie sind schwer verletzt worden. Das mindeste, was Sie sich eingehandelt haben, ist eine schwere Gehirnerschütterung; vielleicht Schlimmeres.«
Wie um ihre Worte zu bestätigen, steigerte sich das Dröhnen in seinem Kopf zu einem qualvollen Hämmern, und für einen Moment schien sich die ganze Kabine um ihn herum zu drehen. Er spürte, daß er abermals das Bewußtsein zu verlieren drohte, griff blindlings um sich und ertastete Anitas hilfreich ausgestreckte Hand.
«Ich muß … Joana suchen«, murmelte er.
«Sie ist nicht hier.«
Eine weitere Erinnerung gesellte sich zu den quälenden Bildern hinter seiner Stirn: Du weißt, wo du mich findest. Und deine kleine Freundin auch.
«José …«, murmelte er.»Er hat … er hat sie mitgenommen. «Mit einem Ruck sah er auf und starrte Anita an. Es war schwer, auf ihrem immer noch verschwommenen Gesicht irgendeine Regung abzulesen — aber die Betroffenheit und der Kummer in ihrem Blick waren echt.
«Ich weiß«, flüsterte sie.
«Wo hat er sie hingebracht?«fragte Indiana.
«Das weiß ich nicht«, antwortete Anita.»Und ich weiß auch nicht, warum er es getan hat, Dr. Jones.«
«Und das soll ich Ihnen glauben?«fragte Indiana. Er sah, wie Anita unter seinen Worten leicht zusammenfuhr, und kam sich selbst ungerecht und grausam dabei vor. Aber er wußte einfach nicht mehr, wem er noch glauben konnte und wem nicht.
«Nein«, sagte Anita nach einigen Sekunden.»Natürlich glauben Sie mir nicht — und ich verstehe das sogar. Aber es ist die Wahrheit: Ich weiß nicht, warum er das getan hat.«
«Aber Sie wissen, warum er hinter diesen Anhängern her ist«, vermutete Indiana.
Anita machte eine Bewegung, die eine Mischung aus einem Nicken, einem Kopfschütteln und einem Achselzucken war.»Ich weiß nicht mehr als Sie, Dr. Jones«, sagte sie.»Jedenfalls nicht viel mehr. José hat niemals über diese Dinge mit mir gesprochen.«
«Gestern abend auf der Hazienda klang das etwas anders«, sagte Indiana.
«Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß«, beharrte Anita. Sie wich seinem Blick bei diesen Worten aus, aber Indiana war nicht sicher, ob sie es tat, weil sie log oder weil sie sich einfach für das schämte, was ihr Mann getan hatte.
«Ich habe das eine oder andere aufgeschnappt und mir das eine oder andere selbst zusammengereimt«, fuhr sie nach einer langen, schweren Pause fort.»Ich weiß, daß das, was José getan hat, nicht richtig ist, Dr. Jones. Er hat nicht nur Sie belogen, sondern auch mich und seine Freunde. Aber er ist nicht schlecht, glauben Sie mir. Norten und Bentley halten ihn für verrückt, aber das ist er nicht. Er ist vielleicht besessen; fanatisch, besessen von der Idee, sein Volk wieder zu dem zu machen, was es einmal war. Aber nicht verrückt.«
Und plötzlich tat sie Indiana nur noch leid. Trotz allem liebte sie José wohl wirklich, und das machte das, was er getan hatte, zumindest zu einem Teil auch zu ihrer Schuld. Behutsam ergriff ihre Hand und drückte sie leicht.
«Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, Anita«, sagte er.»Ich habe nicht vergessen, daß Sie uns geholfen haben. Und ich verspreche Ihnen, daß ich für José tun werde, was ich kann. Immerhin waren wir einmal Freunde.«
Die Worte waren nicht sehr klug gewählt, das begriff er im gleichen Moment, in dem er sie aussprach, denn der Ausdruck von Schmerz in Anitas Blick vertiefte sich. Ihre Finger in seiner Hand schienen merklich kälter zu werden.
«Sind Sie das jetzt nicht mehr?«flüsterte sie.
Indiana deutete ein Achselzucken an.»Ich weiß es nicht«, gestand er.»Vor ein paar Stunden hätten seine Männer mich beinahe umgebracht. Er hat Nortens Hazienda und dieses Schiff überfallen lassen, und er hat Joana entführt. Und ich weiß nicht einmal genau, warum.«
«Er wollte diese Anhänger haben«, antwortete Anita.»Er ist besessen von dem Gedanken, sie zu ihrem Bestimmungsort zu bringen. Er glaubt, er müsse es tun.«
«Und Sie?«fragte Indiana leise.»Glauben Sie das auch?«
Endlose Sekunden vergingen, ehe Anita antwortete:»Ich weiß es nicht«, murmelte sie hilflos.»Ich … glaube, daß das, was José vorhat, falsch ist. Aber er glaubt, richtig zu handeln. Er ist nicht schlecht. «Die letzten Worte klangen fast verzweifelt; wie etwas, das sie immer und immer wiederholte, als wolle sie es sich selbst auf diese Weise einreden.
«Aber er könnte entsetzliches Unheil anrichten«, sagte Indiana ernst.
«Wenn das so ist«, flüsterte Anita,»dann helfen Sie mir, ihn davon abzuhalten. Er ist besessen von den Gedanken, die alten Maya-Götter wieder zu erwecken. Er glaubt, alles könne wieder so werden, wie es war. Aber er tut es nicht seinetwegen. Es sind nicht Macht oder Reichtum, nach denen er strebt, das müssen Sie mir glauben.«
Und so absurd es Indiana beinahe selbst vorkam, nach allem, was geschehen war — er glaubte ihr. Und vielleicht war gerade das das Schlimmste.
Behutsam löste er seine Hand aus der ihren, stand auf und blieb einige Sekunden lang reglos neben dem Bett stehen, bis die Kabine wieder aufgehört hatte, sich um ihn zu drehen.»Ich muß zu Norten und Bentley«, sagte er.»Begleiten Sie mich?«
Anita überlegte einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf.»Ich glaube nicht, daß das klug wäre«, sagte sie.
Indiana widersprach nicht. Wahrscheinlich war es tatsächlich besser, wenn sie hierblieb. Weder Norten noch Commander Bent-ley — wären im Moment wahrscheinlich sehr glücklich darüber gewesen, sie zu sehen. Es überraschte Indiana ohnehin ein wenig, daß Anita sich überhaupt in seiner Kabine aufhielt. Nachdem, was ihr Mann getan hatte, hätte es ihn nicht gewundert, wenn Bentley sie kurzerhand hätte verhaften lassen.
In gewissem Sinne hatte er das auch getan. Als Indiana seine Kabine verließ, vertraten ihm zwei bewaffnete und überaus nervös wirkende Matrosen den Weg, die ihn erst passieren ließen, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß er unbewaffnet und Josés Frau sicher in der Kabine zurückgeblieben war.
Während einer der beiden mit entsichertem Gewehr vor der Tür wachte, begleitete ihn der zweite zu Bentleys Kapitänskajüte.
Hier unten unter Deck hatte der Kampf keine sichtbaren Spuren hinterlassen; oder wenn, so hatte man sie bereits beseitigt. Aber die Bewegungen und Blicke der Männer, denen sie unterwegs begegneten, waren nervös und fahrig, und jeder einzelne war bewaffnet.
Auch vor der Tür der Kapitänskajüte standen zwei bewaffnete Männer. Indianas Begleiter sprach in gedämpften Ton mit einem von ihnen, woraufhin er sich umwandte, anklopfte und für endlose Sekunden hinter der Tür verschwand, ehe er zurückkam und Indiana mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehen gab, daß er eintreten dürfe.
In der Kajüte hielt sich außer Commander Bentley auch Professor Norten auf. Während Bentley wie bei ihrem ersten Zusammentreffen mit steinernem Gesicht hinter seinem Schreibtisch saß, lief Norten unruhig in der kleinen Kajüte auf und ab. Er war leichenblaß, und der nicht besonders sorgfältig angelegte Verband an seinem rechten Handgelenk bewies, daß auch er nicht ganz ungeschoren davongekommen war. Als Indiana die Kabine betrat, hielt er in seinem unablässigen Auf und Ab inne und maß ihn mit einem wilden Blick.
«Was ist passiert?«begann Indiana übergangslos.
«Er hat sie«, sagte Norten.
«Ich weiß«, erwiderte Indiana niedergeschlagen.»Er hat es mir gesagt.«
Trotz allem war er enttäuscht. José hatte ihm nur gesagt, daß er Joana entführt hatte, und es war ein winziger, verzweifelter Hoffnungsschimmer gewesen, daß er sie vielleicht nicht gefunden hatte oder daß es Bentleys Männern gelungen sein mochte, sie zu beschützen.
«Er hat es Ihnen gesagt?«wiederholte Norten überrascht, aber auch ein wenig mißtrauisch.
«Er sagte, ich wüßte schon, wo ich ihn finde«, bestätigte Indiana.»Und Joana auch.«
Norten runzelte die Stirn.»Joana? Ich rede nicht von dem Mädchen.«
«Wovon dann?«
«Die Anhänger!«sagte Norten. Mit einer ärgerlichen Geste deutete er auf Bentley.»Dieser Narr hat sie ihm gegeben!«
«Ich hatte keine andere Wahl!«verteidigte sich Bentley. Seine Stimme war leise, nur ein zitterndes Flüstern, und auch sein Gesicht hatte jede Farbe verloren. Aber anders als bei Norten war es nicht rasender Zorn, der ihn hatte erbleichen lassen. Er war noch immer erschüttert; jetzt vielleicht noch mehr als vorhin während des Überfalls.
«Was ist passiert?«fragte Indiana noch einmal und trat auf den Schreibtisch zu.
Bentley wollte antworten, aber Norten kam ihm zuvor.»Einer dieser Wilden hat ihm das Messer an die Kehle gesetzt, und José hat gedroht, ihn umzubringen, wenn er nicht den Safe aufmacht!«sagte er wütend.»Und dieser Feigling hat natürlich sofort gehorcht!«
Indy maß ihn mit einem halb zornigen, halb verächtlichen Blick.»Was hätten Sie denn an seiner Stelle getan? Sich umbringen lassen?«
In Nortens Augen blitzte es wütend auf.»Jedenfalls nicht sofort klein beigegeben und um mein Leben gebettelt!«behauptete er.»Wissen Sie überhaupt, was dieser erbärmliche Feigling damit angerichtet hat?«
Er machte eine herrische Handbewegung, als Bentley etwas sagen wollte, und fuhr mit erhobener Stimme fort:»Die Macht der alten Maya-Götter in der Hand dieses Wahnsinnigen — das ist unvorstellbar! Er könnte … er könnte das Angesicht dieser Welt verändern!«
Das zumindest hielt Indiana für übertrieben. Aber er verstand auch Nortens Erregung — wenngleich ihn auch sein Versuch, alle Schuld auf den Commander abzuwälzen, in Rage brachte.
«Immerhin hat er nicht alle Anhänger bekommen«, sagte er.
Norten schnaubte verächtlich.»Sind Sie sicher?«
«Völlig«, erwiderte Indiana.»In Ihrem Safe waren nur zehn Ketten, nicht wahr?«
«Plus, die, die seine Männer Joana in New Orleans abgenommen haben.«
Indiana antwortete nicht gleich. Er war jetzt weniger denn je davon überzeugt, daß die beiden Mayas in New Orleans wirklich in Josés Auftrag gehandelt hatten. Es hätte überhaupt keinen Sinn ergeben, so etwas zu tun — der Überfall auf ihn selbst wäre einfach nicht zu erklären, denn José hatte schließlich, was er wollte, und der auf Joana überflüssig — schließlich hätte José einfach nur abzuwarten brauchen, bis Indiana und Gregs Tochter freiwillig zu ihm gekommen wären.
Aber er sprach nichts davon aus, sondern sagte nach einer Weile:»Selbst wenn es so ist, fehlt ihm immer noch eine.«
«Vielleicht hat er ihn ja schon«, sagte Norten.»Vielleicht hat er auf eigene Faust danach gesucht, ohne es uns zu sagen, und selbst wenn nicht — er hat elf von zwölf Amuletten. Vielleicht nicht genug, um die Zeremonie korrekt durchzuführen. Aber ganz bestimmt genug, um Schaden anzurichten.«
«Ein Grund mehr, ihn daran zu hindern«, sagte Indiana.
Norten schnaubte.»Und wie?«
«Das weiß ich nicht«, antwortete Indiana.»Aber ich weiß, wie wir es ganz bestimmt nicht schaffen — wenn wir weiter hier herumstehen und uns gegenseitig Vorwürfe machen. Wir müssen José finden und ihn daran hindern, das Zeremoniell durchzuführen. «Er griff nach Nortens Arm, hob ihn hoch und blickte auf die teure Armbanduhr an seinem Gelenk.
«Wieviel Zeit bleibt uns noch?«
«Nicht einmal ganz zwei Tage«, antwortete Norten.
«Zwei Tage!«Indiana erschrak.»So wenig?«
Während Norten nur mit besorgtem Gesichtsausdruck nickte, erwachte Bentley zum ersten Mal aus seiner Lethargie und hob den Blick.»Das ist mehr als genug«, sagte er.»Wir können die Küste von Yucatan bis morgen früh erreichen.«
«Piedras Negras liegt nicht an der Küste«, erinnerte Indiana.»Und der nächste Hafen …«
«Wir werden nicht in einem Hafen einlaufen«, unterbrach ihn Norten.
Indiana blickte ihn und den Commander eine Sekunde lang verständnislos an.»Nicht?«vergewisserte er sich.
Norten lächelte ohne die geringste Spur von Humor.»Ich weiß, daß Sie sich nicht für die große Politik interessieren, Dr. Jones«, sagte er abfällig,»Aber selbst Ihnen dürfte klar sein, was geschehen würde, wenn ein amerikanischer Schlachtkreuzer ohne Erlaubnis in einen mexikanischen Hafen einläuft.«
«Ohne …?«Und erst in diesem Moment begriff Indiana. Mit einem Ruck fuhr er herum und starrte Bentley an.
«Ihre Vorgesetzten wissen nichts von dieser Fahrt?«fragte er. Er machte eine Handbewegung, die das ganze Schiff einschloß.»Das alles hier ist eine reine Privatsache, nicht wahr?«
Bentley schwieg.
«Sie machen das alles hier, ohne daß irgend jemand in Washington davon weiß«, fuhr Indiana fort. Ein Gefühl ungläubigen Schreckens hatte ihn ergriffen. In einem Punkt hatte Norten recht: Selbst er wußte, daß die Beziehung zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten von Amerika alles andere als gut war.»Sie müssen völlig verrückt sein!«sagte er noch einmal.»Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie hätten anrichten können?«
«Weniger, als Sie zu unterstellen scheinen, Dr. Jones«, unterbrach ihn Norten.»Wir hatten nicht vor, die Drei-Meilen-Zone zu verletzen, wenn es das ist, wovor Sie Angst haben.«
Indiana drehte sich mit einem Ruck zu ihm herum.»Ich verstehe«, sagte er spöttisch.»Sie hatten vor, an Land zu schwimmen.«
«Wir hatten vor«, berichtigte ihn Norten kalt,»mit einem der Beiboote nachts an Land zu gehen, und José wollte einen Wagen besorgen, der uns nach Piedras Negras bringt. Jedenfalls hat er uns das gesagt.«
«Ich bezweifle im Moment, daß er das noch tun wird«, sagte Indiana spöttisch.
«Das ist auch nicht nötig«, erwiderte Norten mit einer Spur von Ungeduld in der Stimme.»Joana und Sie waren freundlich genug, uns ein viel besseres Transportmittel zur Verfügung zu stellen.«
«Das Flugzeug?«entfuhr es Indiana überrascht.
«Warum nicht?«Norten zuckte mit den Achseln und tauschte einen fragenden Blick mit Bentley.»Es gibt genug Treibstoff an Bord dieses Schiffes, um die Tanks aufzufüllen.«
«Und wer soll es fliegen?«
Norten druckste einen Moment herum.»Ich dachte an Joana«, gestand er schließlich.»Aber so, wie die Dinge liegen …«
«Einer meiner Offiziere ist Hobbyflieger«, sagte Bentley.»Er wird es tun.«
«Kennt er sich auch mit Wasserflugzeugen aus?«fragte Indiana.
Bentley zuckte nur mit den Schultern.»Ich werde ihn fragen«, antwortete er.»Aber selbst, wenn nicht, der Unterschied wird wohl kaum so gewaltig sein.«
«Das ist doch alles völlig verrückt!«sagte Indiana kopfschüttelnd.
«Trotzdem werden Sie uns begleiten, Dr. Jones«, erwiderte Norten. Indiana blickte ihn böse an, aber Norten lächelte nur dünn.»Und ich bin sicher, daß Sie den Eingang zu diesem verborgenen Tempel finden werden.«
«So?«fragte Indiana.
Nortens Lächeln wurde noch eine Spur kälter.»Wenn schon nicht der Anhänger wegen, dann, um Joana aus der Gewalt dieses Verrückten zu befreien. Oder täusche ich mich?«
Indiana starrte ihn eine Sekunde lang voll kaum noch verhohlenem Haß an. Aber er sagte nichts von alledem, was ihm auf der Zunge lag, sondern zwang sich zu einem angedeuteten, abgehackten Nicken und fragte nur:»Wann brechen wir auf?«
Obwohl nichts im Moment so knapp war wie Zeit, mußten sie sich noch eine Stunde gedulden; der Schiffsoffizier, von dem Bentley gesprochen hatte, traute es sich zwar durchaus zu, die kleine Cessna zu fliegen, erbat sich aber eine gewisse Frist, um sich mit den Kontrollen des Flugzeugs vertraut zu machen.
Indiana nutzte diese Zwangspause, um noch einmal hinunterzugehen und mit Anita zu reden — genauer gesagt, er versuchte es.
Weder Bentley noch Norten hatten sich etwas Entsprechendes anmerken lassen, aber vor der Tür der Kabine stand ein bewaffneter Posten, der Indiana den Zutritt verwehrte und auch auf sein energisches Drängen hin nur sagte, er hätte Befehl, mit Ausnahme des Commanders und Professor Nortens niemanden in die Kabine hinein — und schon gar niemanden hinauszulassen.
Enttäuscht und wütend zugleich wandte sich Indiana um, um zu Bentley zurückzugehen, besann sich dann aber eines Besseren. Solange Josés Frau in ihrer Kabine eingeschlossen war, konnte er zumindest sichergehen, daß ihr nichts zustieß.
Statt seine Zeit mit einem Streit zu vergeuden, der höchstwahrscheinlich sowieso zu nichts anderem als eben zu diesem Streit führen würde, ging er in die Kabine, die Joana bewohnt hatte, und begann sie gründlich zu durchsuchen. Er rechnete sich keine allzu großen Chancen aus, den Anhänger zu finden. Und er fand ihn auch nicht.
Aber er fand zumindest die Kette, an der er befestigt gewesen war.
Indiana war ein wenig enttäuscht, schöpfte aber auch gleichzeitig neue Hoffnung. Josés Worte hatten ihm bewiesen, daß er keine Ahnung davon hatte, daß sich der letzte noch verbliebene Anhänger in Joanas (und somit bereits in seinem) Besitz befand, und die Tatsache, daß Joana das Schmuckstück von seiner Kette gelöst hatte, ließ Indiana zumindest vermuten, daß sie den kleinen goldenen Anhänger ganz besonders sorgsam versteckt hatte.
Er wog die dünne Kette einen Moment lang unschlüssig in der Hand, wollte sie dann schon in die Schublade zurücklegen, in der er sie gefunden hatte, und besah sie sich dann etwas genauer.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie filigran das winzige Kettchen gearbeitet war. Was auf den ersten Blick wie eine x-beliebige, vielleicht sechzig Zentimeter lange, schmucklose Kette aussah, das entpuppte sich bei genauerem — allerdings nur bei sehr genauem — Hinsehen als ein wahres Meisterwerk. Jedes einzelne Kettenglied war keine schmucklose Öse, sondern in Form einer winzigen Schlange gearbeitet, die sich selbst in den Schwanz beißt. Sogar die einzelnen Schuppen der winzigen Schlangenleiber waren zu erkennen.
Indiana betrachtete das Kettchen lange und sehr verwirrt. Er selbst hatte es mehr als drei Jahre lang um den Hals getragen, ohne daß ihm auch nur aufgefallen wäre, was diese Kette wirklich darstellte. Er fragte sich, ob alle anderen Ketten ebenso aufwendig gearbeitet waren. Und wenn, warum Greg sich solche Mühe damit gemacht hatte.
Aber natürlich fand er auf diese Frage im Moment ebensowenig eine Antwort wie auf alle anderen, die ihm durch den Kopf geisterten. Nach einer Weile steckte er das winzige Kettchen in die Jackentasche, verließ die Kabine wieder und ging an Deck hinauf, um zu sehen, wie weit der Pilot mit den Startvorbereitungen war.