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27. März 1939
Der Sturm tobte die ganze Nacht. Es gelang Lestrade zwar, die Dragon aus dem Schlimmsten herauszuhalten, aber das Luftschiff — und somit auch seine Besatzung — wurde trotzdem stundenlang durchgeschüttelt, und Indiana verbrachte die schrecklichsten sieben oder acht Stunden seines Lebens. Entgegen Dr. Rosenfelds Rat nahm er auch die beiden übrigen Tabletten und fiel wenigstens für die letzten Stunden der Nacht in einen unruhigen, von Alpträumen und Übelkeitsanfällen gestörten Schlaf, aus dem er mit fieberheißer Stirn und hämmernden Kopfschmerzen erwachte. Genauer gesagt: wachgerüttelt wurde.
Es war Bates, der ihn weckte. Das gewohnte spöttische Glitzern war aus seinen Augen verschwunden, und der Ausdruck darin war jetzt ebenso besorgt wie vorher der in Dr. Rosenfelds Augen, als er auf Indiana herabblickte.
«Was ist denn?«nuschelte Indiana undeutlich und versuchte die Hand beiseite zu stoßen, die unbarmherzig weiter an seiner Schulter rüttelte.
«Also, erstens ist es neun Uhr morgens und damit schon längst Zeit aufzustehen«, antwortete Bates.»Und zweitens wartet Doktor Browning auf Sie.«
Indiana gab es endlich auf, sich gegen den Quälgeist wehren zu wollen, und stemmte sich mühsam von seinem Lager hoch.
«Fühlen Sie sich in der Lage dazu?«fragte Bates.
Indiana fühlte sich ganz und gar nicht in der Lage, weder dazu, noch zu irgend etwas anderem. Aber der Gedanke, vor Browning — und erst recht Lestrade! — zuzugeben, daß ihm nicht nur speiübel, sondern so schlecht wie niemals zuvor im Leben war, weckte seinen Trotz. Sehr vorsichtig, um das Schwindelgefühl in seinem Kopf nicht zu einer neuen Attacke zu reizen, richtete er sich ganz auf, tastete sich blind zu dem kleinen Waschbecken, das neben seinem Bett an der Wand angeschraubt war, und goß Wasser hinein.
Es half. Er hatte zwar das Gefühl, bei lebendigem Leib tiefgekühlt zu werden, als er sich das eiskalte Wasser ins Gesicht und in den Nacken schöpfte, aber sein Kopf klärte sich ein wenig. Und als er sich nach wenigen Augenblicken aufrichtete, da bemerkte er zum erstenmal, daß sich der Boden unter seinen Füßen nicht mehr bewegte. Das scheinbare Schwanken und Drehen des Schiffes kam aus seinem Kopf.
«Ist der Sturm vorüber?«fragte er.
Bates nickte.»Schon seit Stunden«, antwortete er. Seine Stimme nahm einen besorgten Klang an.»Sie sahen nicht gut aus, Doktor Jones.«
«Ich fühle mich auch nicht gut«, antwortete Indiana.
«Wenn Sie sich so fühlen, wie Sie aussehen, muß es Ihnen entsetzlich schlecht gehen«, sagte Bates trocken.
Indiana schenkte ihm einen bösen Blick, tastete blind nach dem Handtuch und griff dreimal daneben, bevor Bates ihm die Arbeit abnahm und ihm das Tuch reichte.
Aber das kalte Wasser schien Wunder gewirkt zu haben. Er fühlte sich zwar immer noch reichlich benommen — was wahrscheinlich eher an Dr. Rosenfelds Tabletten als an irgend etwas anderem lag —, aber sein Kopf klärte sich zusehends, während er hinter Bates die Kabine verließ und dem Flieger in den Aufenthaltsraum der Dragon folgte.
Er war nicht der einzige, den Browning zu sich zitiert hatte. Außer den beiden Dänen, Loben, von Ludolf und Morton waren auch Lestrade und zwei weitere, Indiana noch unbekannte Offiziere der Dragon anwesend.
Und alle blickten Indiana auf eine Art und Weise an, die ihm klarmachte, daß Bates Worte keineswegs übertrieben gewesen waren.
Indiana lächelte gequält, bewegte sich mit kleinen, unsicheren Schritten auf den Tisch zu, an dem Brownings ad hoc einberufene Beratung stattfand, und blieb vor einem der großen Fenster stehen, um hinauszublicken. Der Himmel hatte wieder diesen kräftigen strahlend blauen Farbton angenommen, und von den dunklen Gewitterwolken war nicht mehr die allergeringste Spur zu sehen. Unter ihnen, unendlich tief unter ihnen, wie es schien, erstreckte sich ein verwirrendes Muster aus Weiß und Grün und Braun, in dem hier und da das silberne Band eines Flusses glitzerte.
«Wo sind wir?«fragte Indiana.
«Über Kanada«, antwortete Browning. Seine Stimme klang ungeduldig. Er war der einzige, der noch nicht Platz genommen hatte, sondern am Kopfende des längen Tisches stand und offensichtlich voller Ungeduld darauf wartete, daß auch Indiana sich setzte.
«Und wenn Sie jetzt freundlicherweise die Güte hätten, Platz zu nehmen, Doktor Jones«, fuhr er fort,»dann könnten wir vielleicht endlich beginnen. Nachdem wir alle darauf gewartet haben, daß Sie ausgeschlafen haben«, fügte er spitz hinzu.
Jones schenkte ihm den wütendsten Blick, zu dem er im Moment fähig war — was nicht besonders viel sein konnte —, ging absichtlich langsam zum Tisch und setzte sich. Bates ließ sich auf den freien Stuhl neben ihm fallen, und auch Browning nahm endlich Platz.
Er räusperte sich übertrieben.»Da jetzt alle Teilnehmer unserer Expedition versammelt sind…«, begann er.
«Nicht alle«, unterbrach ihn Indiana. Browning sah auf. Er wirkte mehr als nur ein wenig verärgert, beherrschte sich aber noch.»Wie meinen Sie das?«fragte er.
Indiana blickte demonstrativ in die Runde, ehe er antwortete:»Professor van Hesling fehlt. Und Doktor Rosenfeld.«
Browning legte die Stirn in Falten, preßte die Lippen zu einem dünnen, ärgerlichen Strich zusammen und atmete hörbar ein.»Ich glaube kaum, daß wir die Gesellschaft eines Verrückten und seines Kindermädchens brauchen.«
«Da bin ich anderer Meinung«, widersprach Indiana. Für einen Moment tauchte das Gesicht Mabel Rosenfelds vor seinem inneren Auge auf, wie er es gestern abend gesehen hatte, besorgt und mit einem flüchtigen, aber echten Lächeln. Eigentlich hatte er van Hes-ling nur erwähnt, um Browning zu ärgern, aber mit einem Mal hatte er das Gefühl, es Dr. Rosenfeld schuldig zu sein, wenn er auf ihrer Teilnahme an diesem Gespräch bestand.»Immerhin haben Sie selbst oft genug betont, wie wichtig es ist, daß van Hesling uns begleitet«, fügte er hinzu.
Browning starrte ihn finster an, aber in diesem Moment erhielt Indiana Hilfe von unerwarteter Seite.»Ich finde, Doktor Jones hat durchaus recht«, sagte Morton.
In Brownings Augen blitzte es ärgerlich auf.»Wieso?«schnappte er.
«Nun, was van Hesling angeht, dürfte die Antwort auf der Hand liegen«, antwortete Morton.»Ich weiß selbst am besten, daß er nicht ganz zurechnungsfähig ist. Aber so wenig er uns auch sagen kann: Er ist der einzige, der uns überhaupt etwas sagen kann. Und Doktor Rosenfeld…«Er zuckte mit den Schultern und legte eine Kunstpause ein.»Sie wird kaum damit einverstanden sein, daß wir ihren Patienten verhören, ohne daß sie dabei ist.«
«Was für ein Unsinn«, sagte Browning.
Von Ludolf räusperte sich hörbar. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf ihn.
«Ja?«fragte Browning.
«Wenn ich Doktor Jones und Herrn Morton recht verstanden habe«, begann der deutsche Major umständlich,»dann schlagen Sie vor, daß diese jü… diese Ärztin als aktives Mitglied an unserer Expedition teilnimmt.«
Indiana blickte ihn mit kaum verhohlener Wut an. Weder ihm noch einem der anderen Anwesenden war entgangen, was von Ludolf eigentlich hatte sagen wollen.
«Und?«fragte er lauernd.»Was spricht dagegen?«
Von Ludolf starrte ihn fast empört an.»Eine ganze Menge!«antwortete er.»Zum Beispiel der Umstand, daß sie — «
«Einen jüdischen Namen trägt?«fiel ihm Morton ins Wort.
Von Ludolf funkelte ihn böse über den Tisch hinweg an, antwortete aber nicht, und auch in Brownings Blick schien irgend etwas zu Eis zu erstarren. Aber es dauerte noch einen Moment, bis Indiana begriff, daß sie diesmal ausnahmsweise auf der selben Seite standen, denn ganz plötzlich und völlig unerwartet sagte Browning:»Ich glaube, Doktor Jones hat doch recht. Wir werden Professor van Hesling brauchen. Und damit auch Doktor Rosenfeld. Ob es uns nun gefällt oder nicht.«
«Wenn Sie das tun«, sagte von Ludolf eisig,»dann weigere ich mich, weiterhin an dieser Expedition teilzunehmen.«
Browning zuckte nur mit den Achseln.»Das liegt völlig in Ihrem Ermessen, Herr Major. Wir sind zwar knapp in der Zeit, aber ich bin sicher, daß Colonel Lestrade einen kleinen Umweg in Kauf nimmt, um Sie in Anchorage abzusetzen. Von dort aus bekommen Sie jederzeit ein Flugzeug, das Sie zurück nach New York bringt.«
Von Ludolf starrte ihn an, ballte abermals in stummer Wut die Fäuste und sagte gar nichts mehr.
Für lange Augenblicke kehrte vollkommene Stille ein. Schließlich wandte Browning sich an Bates und machte eine auffordernde Geste.»Bitte, seien Sie so freundlich und holen Sie Professor van Hesling und Doktor Rosenfeld. Ich werde solange warten.«
Bates stand wortlos auf und ging, und wieder breitete sich dieses unangenehme, fast aggressive Schweigen aus. Browning und von Ludolf lieferten sich stille Blickduelle, während die beiden Dänen wieder einmal eher amüsiert zu sein schienen. Colonel Lestrades Gesichtsausdruck blieb undurchschaubar.
Es vergingen nur wenige Minuten, bis Bates in Begleitung des deutschen Wissenschaftlers und Doktor Rosenfelds zurückkam. Die Neurologin machte einen verstörten, gleichzeitig aber durchaus kampflustigen Eindruck: Wie am Tag zuvor führte sie van Hesling wie ein zu groß geratenes Kind an der Hand neben sich her, und wie gestern ließ sich der schwachsinnige Riese von ihr gehorsam führen. Doktor Rosenfeld bugsierte ihn auf einen freien Stuhl, setzte sich neben ihn und wandte sich mit einem fragenden Blick an Browning.
«Nun«, begann der Regierungsbeauftragte von neuem.»Jetzt, da wir endlich alle hier sind, kann ich ja vielleicht anfangen. In groben Zügen wurden Sie ja alle bereits über den Sinn dieses Fluges informiert.«
«Ich nicht«, sagte Dr. Rosenfeld.
Browning ignorierte sie, beugte sich vor und öffnete eine schmale Aktenmappe, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er entnahm ihr einige engbeschriebene Schriftstücke sowie eine Anzahl großformatiger Schwarzweiß-Fotos, die er aber ganz bewußt so hielt, daß keiner der Anwesenden erkennen konnte, was darauf zu sehen war.
«Wie Ihnen Kapitän Morton bereits erzählt hat«, begann er,»ist er mit seinem Schiff auf seiner letzten Fahrt in der Nähe Grönlands auf einen schwimmenden Eisberg gestoßen. Wir haben diesen Eisberg Odinsland getauft. Und das nicht ohne Grund. «Er legte eine kleine, genau bemessene Pause ein und deckte dann eines der Fotos auf.
Nicht nur Indiana beugte sich neugierig vor. Das Bild war offensichtlich eine Amateuraufnahme: nicht besonders scharf und mit einer falschen Belichtungszeit aufgenommen, so daß die Umrisse der Eisinsel leicht verschwommen erschienen. Und trotzdem war das, was es zeigte, beeindruckend. Das Foto war offensichtlich von Bord eines Schiffes aufgenommen worden, denn am unteren Rand war ein Stück der Reling zu erkennen. Das Meer war mit Eisschollen bedeckt, und die gesamte hintere Hälfte der Fotografie wurde von einem wahrhaft riesigen treibenden Eisberg eingenommen: Odinsland.
«Mein Gott!«flüsterte Bates.»Das Ding ist ja gigantisch.«
«An die drei Meilen im Durchmesser«, sagte Morton.»Und fast eine viertel Meile hoch. Jedenfalls war er das, als wir ihn das letzte Mal gesehen haben.«
«Was soll das heißen«, fragte Indiana,»war?«
Browning warf Morton einen raschen, aber eindeutig warnenden Blick zu und antwortete an seiner Stelle:»Wenn der Berg seinen damaligen Kurs beibehalten hat, dann dürfte er mittlerweile weit genug nach Süden abgetrieben sein, um zu schmelzen.«
«Quatsch!«
Alle Blicke wandten sich Erikson zu. Soweit Indiana sich erinnern konnte, war es das erste Mal, daß er den Dänen überhaupt reden hörte.
«Eisberge schmelzen nicht einfach so«, fuhr Erikson fort.»Auch nicht, wenn sie weiter nach Süden abgetrieben werden. Bis ein solcher Koloß schmilzt«, er deutete mit dem Zeigefinger auf den gigantischen Eisberg auf dem Foto,»dauert es Monate, wenn nicht Jahre. Haben Sie eine Ahnung, wieviel Eis in einem solchen Berg steckt?«
Mortons Lächeln wirkte plötzlich ein wenig gequält.»Das habe ich«, sagte er.»Jedenfalls normalerweise.«
Erikson blickte verwirrt zu ihm auf, und Browning hob die Hand zu einer begütigenden Geste.»Vielleicht ist es am einfachsten«, sagte er,»wenn Sie Kapitän Morton und mich erst einmal berichten lassen und wir hinterher diskutieren.«
Erikson widersprach nicht mehr, aber sein Gesichtsausdruck machte deutlich, was er von Brownings Worten hielt: nämlich nichts.
«Ich muß ein wenig weiter ausholen«, begann Browning.»Wie bereits gesagt, schickte die deutsche Wehrmacht vor ziemlich genau neun Monaten ein Forschungsschiff in die arktischen Gewässer, um die Strömungs- und Wetterverhältnisse dort zu untersuchen. Vor siebeneinhalb Monaten nun verschwand dieses Schiff, und zwar spurlos und ohne daß auch nur ein einziger Notruf aufgefangen wurde. Das Schicksal dieser Expedition ist bis heute nicht geklärt. Aber das Schiff, oder zumindest ein Rettungsboot, muß den Kurs von Odinsland gekreuzt haben. Auch wenn das«- er warf einen raschen, warnenden Blick auf die beiden Deutschen, den von Ludolf eisig erwiderte —»eigentlich nicht möglich ist, wenn man den Kurs bedenkt, den der Eisberg genommen haben muß. Und den, den das Forschungsschiff gefahren ist.«
Von Ludolf starrte weiter ins Leere und schwieg.
«Auf jeden Fall«, fuhr Browning fort,»haben Professor van Hes-ling und auch noch einige andere Überlebende des Schiffsuntergangs — wenn es einer war — Odinsland erreicht. Offensichtlich ist es ihnen gelungen, dort mehrere Monate lang zu überleben. Wie, weiß niemand. Am 20. Dezember des vergangenen Jahres jedenfalls fing der Funker der POSEIDON einen verstümmelten SOS-Ruf auf, der das Schiff schließlich nach Odinsland führte. Kapitän Morton und eine Rettungsmannschaft betraten den Eisberg, aber sie fanden zuerst keine Überlebenden. Nur ein völlig zerstörtes Zelt und die Überreste einer Funkanlage.«
Er nahm ein zweites Foto aus dem Stapel heraus und ließ es herumgehen. Das Bild zeigte die letzten Überreste des Lagers, auf die Mor-ton und die Matrosen gestoßen waren.
Browning wartete geduldig, bis alle das Foto in Ruhe begutachtet hatten, bevor er fortfuhr.»Kapitän Morton, sein Erster Offizier und eine Rettungsexpedition untersuchten daraufhin den Eisberg. Und wie Sie alle wissen, fanden sie einen Überlebenden. Professor van Hesling. Aber sie fanden noch etwas.«
Diesmal war die dramatische Pause, die er einlegte, noch etwas länger. Und er konnte auch der Versuchung nicht widerstehen, die nächsten drei Fotos ganz langsam aus dem Stapel herauszuziehen und mit der Rückseite nach oben vor sich auszubreiten, wie ein Pokerspieler, der ein Full House auf der Hand hat und es genießt, den Moment noch hinauszuzögern, wo er es aufdeckt.»Professor van Hesling hat ganz offensichtlich nicht mit den wenigen Vorräten überlebt, die an Bord des Rettungsbootes gewesen sind. Kapitän Morton fand ihn in einer Höhle im Inneren des Eisbergs.«
«Und er fand auch noch etwas anderes, nehme ich an«, sagte Indiana Jones. Brownings theatralisches Gehabe begann ihm allmählich auf die Nerven zu gehen. Und nicht nur ihm, wie die Blicke der anderen deutlich machten.
Browning nickte.»Das ist richtig. Aber bevor ich Ihnen zeige, was sie gefunden haben, möchte ich eines ganz klarstellen: Kapitän Mor-ton besitzt unser absolutes Vertrauen. Er ist ein durch und durch integerer Mann, und seine Besatzung ist über jeden Zweifel erhaben; schließlich handelt es sich nicht um einen Bananendampfer, sondern um ein Forschungsschiff, das im Auftrag der US-Regierung unterwegs war.«
«Und was haben Sie nun so Spannendes gefunden?«fragte Erikson ungeduldig.
«Das hier.«
Morton drehte die drei Bilder um und reichte sie an den Dänen weiter. Erikson nahm sie, fächerte sie in der Hand auseinander — und riß erstaunt die Augen auf. Auch sein Kollege Baldurson, der neben ihm saß und sich neugierig vorgebeugt hatte, um über seine Schulter sehen zu können, stieß einen überraschten Laut aus, starrte Browning und dann Morton eine Sekunde lang fassungslos an und begann dann hastig und in seiner Muttersprache auf seinen Kollegen einzureden, wobei er heftig gestikulierend auf die Bilder deutete.
Es dauerte eine Weile, bis sich die beiden so weit beruhigt hatten, daß sie wenigstens zwei der drei Bilder an die anderen weiterreichten. Und was Indiana auf dem Foto sah, das schließlich bei ihm anlangte, das ließ ihn die ungläubige Erregung der beiden Dänen durchaus verstehen.
Das Bild war von wesentlich besserer Qualität als das erste, das Browning ihm gezeigt hatte. Die Aufnahme war gestochen scharf, und sie zeigte das Innere einer wahrhaft gigantischen Eishöhle. Der Durchmesser war schwer zu schätzen, da es keinen Vergleichsmaßstab gab, aber wenn die Zahlen stimmten, die Morton vorhin genannt hatte, dann mußte sie den Großteil des Inneren von Odinsland beanspruchen. Und eigentlich war es keine richtige Höhle, sondern ein gewaltiger, nahezu perfekt kreisrunder Schacht, der bis auf den Meeresboden hinabreichte. Auf seinem Grund war ein riesiger runder See zu erkennen, und auf diesem See…
«Das ist unmöglich!«rief Erikson im Brustton der Überzeugung. Browning schwieg.
Im ersten Moment war Indiana Jones durchaus geneigt, dem Dänen vorbehaltlos zuzustimmen. Denn was er sah, das war vielleicht nicht unmöglich, aber doch so phantastisch, daß es schwerfiel, es zu glauben: Am Rand des gewaltigen Sees, noch zu gut einem Drittel ins Eis der Höhlenwand eingebettet, befand sich ein Schiff. Nicht irgendein Schiff. Es war ein großes, offensichtlich ganz aus Holz gebautes Schiff mit einem breiten ausladenden Rumpf, einer niedrigen Reling, hinter der sich runde, bunt bemalte Schilde aufreihten, zwischen denen eine Anzahl schlanker Ruder hervorragten, und einem weit nach oben gezogenen Bug, der in einem geschnitzten Drachenkopf endete. Das einzige Segel, das schlaff von dem hohen Mast herabhing, war rot und grün gestreift, und statt des gewohnten Deck- oder Achteraufbaus gab es nur ein niedriges, ebenfalls rot und grün gestreiftes Zelt, das das gesamte hintere Drittel des Schiffes beanspruchte.
Es war ein Wikingerboot, ohne Zweifel.
«Unmöglich«, murmelte Erikson noch einmal.
«Genau das haben wir auch gedacht«, sagte Browning.»Um ehrlich zu sein, im allerersten Moment haben wir an einen schlechten Scherz geglaubt, trotz des guten Rufs, den Kapitän Morton und seine Besatzung genießen. Aber es gibt ein paar Punkte, die entschieden dagegen sprechen.«
Erikson warf das Foto mit einer fast angewiderten Geste aus der Hand und blickte abwechselnd Morton und Browning mit einer Mischung aus Verwirrung und ganz offener Feindseligkeit an.»So? Und welche?«
Browning antwortete nicht, sondern gab das Wort mit einer auffordernden Handbewegung an Morton weiter.
«Zum einen die Tatsache«, sagte Morton ruhig,»daß ich selber dort war in dieser Höhle und das Schiff gesehen habe. Zum anderen der Umstand, daß außer mir auch mein Erster Offizier und ungefähr zwanzig Besatzungsmitglieder das Schiff gesehen haben. Drittens das Foto, das Sie gerade selbst in Händen halten, Doktor Erikson. Und viertens Professor van Hesling. «Er warf dem deutschen Wissenschaftler einen Blick über den Tisch hinweg zu, den dieser auf seine gewohnte Art beantwortete: mit einem dümmlichen Grinsen. Indiana fiel auf, daß niemand van Hesling die Bilder gezeigt hatte, ja, daß man sogar sorgsam darauf achtete, daß er die Fotos nicht zu Gesicht bekam.
«Mit allem Respekt«, sagte Erikson,»aber der geschätzte Kollege van Hesling scheint mir im Moment kaum in der Lage zu sein, eine glaubwürdige Aussage zu machen.«
Morton nickte. Er wirkte nervös, aber Indiana hatte das sichere Gefühl, daß es nicht daran lag, daß er etwa befürchtete, man könnte ihm nicht glauben. Vielmehr schien es an der Erinnerung daran zu liegen, was er auf Odinsland gesehen — oder erlebt — hatte.
«Auch das ist richtig«, sagte Morton.»Aber als wir Professor van Hesling…«Er zitterte hörbar, und ein Ausdruck von Schmerz huschte kurz über sein Gesicht.»…fanden, da war er in dieser Höhle. Und er muß ganz offensichtlich auch auf dem Schiff gewesen sein, denn er trug die typische Kleidung eines Wikingers. Einen Fellmantel, ein Kettenhemd, Schwert, Helm — Sie können all diese Dinge persönlich in Augenschein nehmen, wenn Sie das wünschen. Sie befinden sich an Bord der Dragon.«
«Das werden wir«, knurrte Erikson grimmig.»Darauf haben Sie mein Wort.«
«Und wir würden gern auch mit einem der anderen Kollegen reden«, fügte Baldurson hinzu.»Wo ist zum Beispiel Ihr Erster Offizier? Wieso ist er nicht hier?«
«O’Shaugnessy«, sagte Morton leise.»Leider wird er Ihnen nichts mehr sagen können. Professor van Hesling hat ihn getötet.«
Für einen Moment breitete sich betretenes Schweigen am Tisch aus. Schließlich räusperte sich Browning und warf Morton einen auffordernden Blick zu, und der Kapitän fuhr, nun wieder etwas gefaßter, fort:»Ich verstehe Ihre Zweifel durchaus, meine Herren, aber ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß wir ganz genau das, was Sie auf diesen Bildern sehen, im Inneren des Berges gefunden haben.«
«Aber das ist völlig unmöglich!«rief Baldurson. Er deutete mit einer fast wütenden Geste auf das Foto.»Entweder dieses Foto ist schlicht und einfach gefälscht, oder jemand hat sich einen schlechten Scherz erlaubt.«
«Das wäre der aufwendigste schlechte Scherz, von dem ich je gehört hätte«, sagte Bates.
Baldurson warf ihm einen schrägen Blick zu und fuhr mit einem überzeugten Nicken fort:»Das mag sein. Aber ich kann Ihnen auf Anhieb ein halbes Dutzend Details an diesem Boot zeigen, die nicht stimmen. Das Ding sieht vielleicht auf den ersten Blick wie ein Wikingerschiff aus, aber es ist keins.«
«Auch das ist uns klar«, sagte Browning. Er lächelte beinahe entschuldigend in Baldursons Richtung.»Auch wir haben Spezialisten, wissen Sie? Aber echt oder nicht — dieses Schiff ist da. Und wenn auch nur die allergeringste Chance besteht, daß es sich um ein echtes Wikingerboot aus der Zeit um fünfhundert oder auch tausend nach Christus handelt, dann ist dies hier der bedeutendste Fund seit der Wiederentdeckung Trojas.«
Und genau das war es nicht. Indiana spürte es. Erikson und Baldur-son mußten es wissen, und auch die anderen blickten Browning eher mißtrauisch denn verwirrt an. Indiana bezweifelte in diesem Moment nicht einmal die Echtheit dieses Schiffs; aber er spürte ebenso deutlich wie die anderen, daß da noch mehr sein mußte. Ein echtes Wikingerschiff wäre natürlich eine archäologische Sensation. Sogar eine ganz gewaltige Sensation. Aber all das hätte nicht diesen Aufwand gerechtfertigt. Und da war noch etwas, von dem nur er und Browning wußten: Alle Wikingerschiffe der Welt zusammen wären wohl kaum Grund genug für den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen, seine besten Leute, ein bisher streng geheimgehaltenes Versuchsschiff der US-Navy und Doktor Browning, seinen Mann für ganz besondere Fälle, auf eine Reise um die halbe Welt zu schicken. Von Indiana Jones und den anderen einmal ganz abgesehen.
«Ich glaube das nicht«, beharrte Erikson.»Irgend etwas stimmt an dieser Sache nicht.«
«Und um genau das herauszufinden, sind wir hier«, sagte Browning.
«Und wozu dann all die Geheimniskrämerei?«erkundigte sich Bal-durson.
Browning zuckte nur ganz leicht zusammen, aber das änderte nichts daran, daß Indiana Jones es registrierte.»Nun«, begann er langsam.»Sie können sich vielleicht vorstellen, welches Aufsehen eine solche Entdeckung in der Fachwelt hervorrufen wird. Und leider nicht nur in der Fachwelt. Ich muß Ihnen nicht sagen, was geschehen wäre, hätten wir Kapitän Mortons Entdeckung vorschnell publik gemacht. Nicht nur sämtliche Wissenschaftler der Welt, sondern auch alle Abenteurer, Schatzsucher und Verrückten hätten sich einen Wettlauf nach Grönland geliefert. Und ganz davon abgesehen, daß der Schaden, wenn dieses Schiff von einem unqualifizierten Team gefunden und etwa aus dem Eis herausgebrochen würde, nicht abzusehen wäre, sind die Gewässer dort gefährlich, selbst für so erfahrene Seeleute wie Kapitän Morton oder den Kapitän des Forschungsschiffes, auf dem Professor van Hesling war. Möchten Sie die Verantwortung für Dutzende, wenn nicht Hunderte von Menschenleben übernehmen, die dabei aufs Spiel gesetzt würden?«
Erikson antwortete nicht, aber nun griff von Ludolf nach dem Foto und drehte es nachdenklich in den Händen. Schließlich blickte er zu Morton auf.»Ich will einmal ganz dahingestellt lassen, mein lieber Kapitän«, sagte er,»ob dieses Bild echt, gefälscht oder einfach ein übler Scherz ist, dem Sie aufgesessen sind. Aber ich nehme doch an, daß Sie diesen Eisberg hinterher gründlich untersucht haben.«
Morton schwieg. Aber auf seinem Gesicht erschien plötzlich ein betroffener Ausdruck.
«Das ist doch so?«vergewisserte sich von Ludolf.
Morton druckste eine Weile herum, dann schüttelte er den Kopf.»Nein«, gestand er.»Dazu war keine Gelegenheit mehr.«
Von Ludolf legte das Foto aus der Hand und starrte den Kapitän an.»Wie bitte?«
«Wir haben Professor van Hesling an Bord der POSEIDON genommen und sind sofort wieder auf Westkurs gegangen«, sagte Mor-ton.
«Ohne nach weiteren Überlebenden zu suchen?«fragte von Ludolf empört.
«Das war nicht möglich«, sagte Browning an Mortons Stelle.
Von Ludolf wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte ihn eisig an.»Was soll das heißen?«
«Sie müssen die Situation verstehen, in der wir waren«, sagte Mor-ton.»Professor van Hesling hat nicht nur meinen Ersten Offizier, sondern auch ein weiteres Besatzungsmitglied getötet. Außerdem zog ein Sturm auf. Ich konnte es nicht riskieren, das Schiff länger in der Nähe dieses Eisbergs zu lassen.«
«Und Sie haben eventuelle Überlebende einfach ihrem Schicksal überlassen?«empörte sich von Ludolf.
«Mir blieb keine Wahl!«verteidigte sich Morton.»Ich hatte die Verantwortung für mein Schiff und meine Besatzung.«
«Das ist… unglaublich!«sagte von Ludolf. Zornig deutete er auf das zweite Foto, das das Zelt und die zertrümmerte Punkanlage zeigte.»Van Hesling war mit Sicherheit nicht allein auf diesem Berg. Sie haben die Männer einfach ihrem Schicksal überlassen!«
«Bitte!«meinte Browning beschwörend.»Ich gebe Ihnen mein Wort, Herr Major, daß wir auch diesen Aspekt gründlich geprüft haben. So wie die Dinge lagen, hatte Kapitän Morton keine andere Wahl, als sein Schiff aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Gäbe es daran irgendeinen Zweifel, dann wäre er jetzt nicht hier, sondern müßte sich vor einem Seegericht verantworten.«
«Humbug!«widersprach von Ludolf.»Der Mann war schlicht und einfach feige!«
«Das reicht!«mischte sich Lestrade ein. Er hatte nicht einmal besonders laut gesprochen, aber seine Stimme war so schneidend, daß selbst von Ludolf für einen Moment verstummte und ihn nur verwirrt und ein wenig verunsichert ansah. Dann schürzte er kampflustig die Lippen und beugte sich vor, aber auch diesmal kam ihm Lestrade zuvor:
«Kapitän Morton ist Mitglied der US-Navy, Herr Major«, sagte er kalt.»Ich lasse nicht zu, daß einer unserer Offiziere in meiner Gegenwart beleidigt wird.«
«Offizier! Der Mann ist kein Offizier. Er ist schlichtweg verrückt. Oder ein Betrüger!«
Lestrade setzte zu einer zornigen Antwort an, aber wieder unterbrach ihn Browning, der offenbar endlich begriff, daß die ganze Situation ihm aus den Händen zu gleiten drohte.»Bitte, meine Herren«, rief er.»Ich beschwöre Sie! Ich verstehe ja, daß Sie alle von dem, was ich Ihnen gerade berichtet habe, auf die eine oder andere Weise überrascht wurden. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß wir Ihnen nichts verheimlicht und auch nichts hinzugefügt haben.«
«Überdies«, fügte Morton hinzu,»werden Sie alle in wenigen Tagen Gelegenheit haben, das Schiff mit eigenen Augen zu sehen.«
Von Ludolf sagte nichts mehr, aber die Blicke, mit denen er Morton maß, sprachen Bände. Die beiden Dänen steckten weiter die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise und offensichtlich sehr erregt in ihrer Muttersprache, während sie immer wieder auf die Fotos von Odinsland und dem darin eingeschlossenen Wikingerschiff deuteten.
Schließlich war es Indiana Jones, der das immer unangenehmer werdende Schweigen brach:»Vielleicht können Sie uns ja weiterhelfen, Professor«, sagte er, an van Hesling gewandt. Er sah den deutschen Wissenschaftler dabei zwar an, aber die Frage galt eher Dr. Rosenfeld, und sie war es auch, die antwortete.
«Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist«, sagte sie.»Ebensowenig wie ich es für eine gute Idee halte, Professor van Hesling zurück auf diesen Eisberg zu bringen. «Sie schenkte Browning einen vorwurfsvollen Blick.»Sie hätten mir sagen müssen, wohin diese Reise geht, Doktor Browning.«
«Ich habe Sie nicht gerade aufgefordert, uns zu begleiten«, erinnerte Browning unfreundlich.
«Das stimmt«, erwiderte Doktor Rosenfeld.»Und wenn Sie es getan hätten, dann hätte ich es abgelehnt. Was, glauben Sie, passiert, wenn Professor van Hesling zurück an den Ort gebracht wird, der seine Krankheit verursacht hat?«
«Das weiß ich nicht«, gestand Browning ruhig.»Aber schließlich haben wir ja einen Spezialisten für solche Fälle bei uns, nicht wahr?«
Doktor Rosenfeld schenkte ihm einen giftigen Blick.
«Wenn nicht Professor van Hesling«, sagte Indiana,»dann können uns vielleicht die Herren Offiziere weiterhelfen. «Er wandte sich an Loben und von Ludolf und machte eine rasche erklärende Geste auf van Hesling.»Welchem Zweck diente die Expedition, an der der bedauernswerte Professor teilnahm, wirklich?«
Von Ludolf musterte ihn kalt. In den wenigen Augenblicken, die vergangen waren, hatte er seine gewohnte Selbstbeherrschung zurückgefunden.»Diese Frage wurde bereits mehrmals beantwortet«, erwiderte er kühl.»Es war ein rein wissenschaftliches Unternehmen. Das Schiff sollte die Strömungsverhältnisse im Arktischen Meer erforschen.«
«Vermutlich«, sagte Bates,»damit Ihre Unterseeboote dort besser navigieren können.«
Falls diese Worte den Versuch darstellen sollten, den deutschen Major aus der Reserve zu locken, so schlug er fehl. Von Ludolf machte sich nicht einmal die Mühe, den Marineflieger anzusehen, sondern fuhr, an Indiana gewandt, fort:»Ich kenne Ihren Ruf, Doktor Jones, und ich weiß, daß Sie dem Deutschen Reich nicht unbedingt wohlgesonnen sind. Aber was immer Sie in diese Sache hineinzuge-heimnissen versuchen, es ist falsch. Allein die Tatsache, daß unsere Regierung zugestimmt hat, die Vereinigten Staaten an diesem Rettungsunternehmen teilnehmen zu lassen, sollte Ihnen beweisen, daß wir nichts zu verbergen haben.«
«Teilnehmen?«wiederholte Indiana ungläubig. Er lachte ohne die mindeste Spur von Humor.»Es kann ja sein, daß ich mich täusche«, sagte er.»Aber für mich sieht es so aus, als hätten wir zugestimmt, Sie mitzunehmen, Herr Major.«
«Haarspaltereien!«antwortete von Ludolf.»Immerhin war es ein deutscher Staatsbürger, der den Eisberg, den Ihr etwas übereifriger Kollege auf den Namen Odinsland getauft hat, als erster betrat. Strenggenommen handelt es sich bei dieser Insel also um deutsches Hoheitsgebiet.«
«Ich dachte, die Kolonialzeiten wären vorbei«, grinste Indiana spöttisch.
«Ich verbitte mir Ihre Unverschämtheiten!«zischte von Ludolf. Er wandte sich an Browning.»Muß ich mir das als Gast auf diesem Schiff wirklich gefallen lassen?«
Browning blickte Indiana Jones sekundenlang beinahe betrübt an, ehe er den Kopf schüttelte.»Nein, Herr Major, das müssen Sie nicht«, antwortete er.»Aber Sie müssen auf der anderen Seite auch Doktor Jones verstehen. Schließlich kann uns schon die winzigste Information weiterhelfen.«
«Sie haben ein komplettes Dossier über die verschollene Expedition Professor van Heslings von der Reichsregierung in Berlin erhalten!«sagte von Ludolf. Mit einer ärgerlichen Bewegung stand er auf, und auch sein Assistent erhob sich.»Aber ich sehe schon, es ist völlig sinnlos weiterzureden.«
Browning hob besänftigend die Hand.»Herr Major — «
«Wenn Sie dem Ehrenwort eines deutschen Offiziers nicht mehr glauben«, fuhr von Ludolf ungerührt und in eisigem Tonfall fort,»dann frage ich mich, ob es überhaupt noch Sinn hat, daß wir an diesem Unternehmen teilnehmen. «Damit nahm er seinen Hut vom Tisch, setzte ihn mit einer zackigen Bewegung auf und verließ in Begleitung seines Assistenten Loben die Kabine.
Indiana Jones blickte ihm stirnrunzelnd nach. Er war jetzt sicher, daß Morton und Browning nicht die einzigen waren, die ihm etwas verschwiegen. Offensichtlich verheimlichte auf dieser Expedition jeder etwas vor jedem. Und er war auch ebenso sicher, daß er mit den beiden Wehrmachtsoffizieren nicht zum letztenmal aneinandergeraten war.
Und auch damit sollte er recht behalten.
Indiana schlief auch in der folgenden Nacht nicht besonders gut. Das Wetter verschlechterte sich zwar nicht mehr, so daß der Flug auf seine gewohnt ruhige Art weiterging, aber der Streit vom Morgen wirkte noch während des ganzen Tages nach. An Bord herrschte eine niedergeschlagene und gleichzeitig gereizte Stimmung, in der jeder nur darauf zu warten schien, daß irgend jemand etwas sagte oder tat, was ihm nicht paßte. Selbst Bates, zu dem Indiana bisher noch das beste Verhältnis gehabt zu haben glaubte, schien ihm aus dem Weg zu gehen.
So verbrachte er den größten Teil des Tages im Laderaum, in dem Quinn und die Hunde untergebracht waren. Jeder von ihnen hatte schon von Browning einen Satz der Fotografien erhalten, die er ihnen am Morgen gezeigt hatte, sowie eine Kopie der wenigen schriftlichen Aufzeichnungen, die es über Mortons Abenteuer auf Odinsland gab. Und natürlich hatte es sich auch Indiana Jones nicht nehmen lassen, die wenigen Dinge, die Morton von dort mitgebracht hatte, selbst in Augenschein zu nehmen. Aber obwohl sie unzweifelhaft echt und ebenso unzweifelhaft sehr alt waren, stellten sie im Grunde doch nichts Besonderes dar: ein Mantel, aus grobem Leder gefertigte Stiefel, ein rostiges Kettenhemd und ein germanisches Griffzungenschwert nebst einem fast einen halben Zentner schweren, wuchtigen Hörnerhelm. Die typische Kleidung eines hochgestellten Wikingers eben. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Indiana und die beiden Dänen untersuchten die Dinge, die Browning ihnen bereitwillig zeigte, sehr gründlich, und sie fachsimpelten fast eine Stunde darüber. Aber sie kamen alle drei zu dem Schluß, daß diese Funde zwar erstaunlich, keineswegs aber ein Beweis für Mortons Behauptungen waren. So wenig wie die Fotos. Erikson hatte im Laufe des Tages nicht mehr so vehement an der Echtheit der Bilder gezweifelt wie am frühen Morgen, aber er hatte Indiana auf eine ganze Reihe von Besonderheiten hingewiesen, die dieses Boot aufwies und die ganz eindeutig nicht mit dem übereinstimmten, was man bisher über Wikingerboote zu wissen glaubte.
Alles in allem hatte das Gespräch am Morgen außer einem ausgewachsenen Streit nichts gebracht; keine Aufklärung, sondern nur zahllose neue Fragen. Und nicht nur in Indiana Jones hatte es das Gefühl erzeugt, sich auf etwas eingelassen zu haben, das vielleicht ganz anders enden würde, als es jetzt aussah.
Er schlief schlecht in dieser Nacht, obwohl er erst lange nach Sonnenuntergang in seine Kabine gegangen war und sich vorher an der kleinen, aber gutbestückten Bar der Dragon gleich vier doppelte Whiskys genehmigt hatte, um seinen revoltierenden Magen gewissermaßen schon im voraus zu beruhigen. Dr. Rosenfeld hatte seine Bitte, ihm noch einige ihrer Wunderpillen zu geben, rundheraus abgelehnt. Und sie hatte auch jeden seiner Versuche, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, bereits im Ansatz erstickt. Auch wenn sie sich am Morgen Mühe gegeben hatte, es sich nicht zu deutlich anmerken zu lassen, war sie doch sehr verärgert, jetzt, als sie das wirkliche Ziel ihrer Reise erfahren hatte.
Und Indiana verstand sie sogar: Er war zwar kein Psychologe, aber selbst ihm war klar, daß van Heslings Reaktionen, wenn er zurück zu Odinsland kam und vielleicht wirklich dieses Schiff dort sah, schlichtweg nicht vorauszusehen waren. Es war möglich, daß es der heilsame Schock sein konnte, den sein Geist brauchte, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Genausogut möglich war aber auch, daß ihn die Erinnerung an das, was er in den Monaten auf dem Eis mitgemacht hatte, vollends zerbrechen würde.
So war es kein Wunder, daß Indiana — lange nach Mitternacht, aber noch sehr viel länger vor Sonnenaufgang — aus einem unruhigen, von Alpträumen geplagten Schlaf hochschreckte. Er war noch immer müde, und in seinem Magen war schon wieder ein ungutes Gefühl. Der Boden unter ihm wiegte sich sanft auf und ab. Das Wetter schien während der Nacht wieder schlechter geworden zu sein. Eine Zeitlang wälzte er sich unruhig auf seinem schmalen Lager, dann sah er ein, daß er doch nicht wieder würde einschlafen können, und stand auf.
Er verließ die Kabine. Es war sehr still an Bord des Schiffes. Ganz leise, und wie aus sehr, sehr weiter Entfernung, hörte er das Heulen des Windes, der an der Hülle des Luftschiffs zerrte, und selbst das beständige Dröhnen und Rumoren der Propellermotoren schien leiser geworden zu sein. Aber aus dem Aufenthaltsraum drang Licht, und als er sich der Tür näherte, hörte er gedämpfte Stimmen. Er betrat den Raum und erkannte Bates und Morton, die an einem kleinen Tisch neben einem der großen Fenster saßen und sich unterhielten. Morton drehte ihm den Rücken zu, aber Bates sah auf, runzelte für einen Moment überrascht die Stirn und winkte ihn dann mit einer Geste herbei.
«Sie können auch nicht schlafen, wie?«fragte er, als sich Indiana zu ihnen setzte. Indiana schüttelte den Kopf, nickte Morton flüchtig zu und sagte erst dann:»Nein. Ich fürchte, die Luftfahrt ist nicht unbedingt mein Metier.«
«Meines auch nicht«, meinte Morton gequält.
Indiana sah ihn fragend und überrascht an, und Morton fügte erklärend hinzu:»Ich weiß, daß es lächerlich klingt. Immerhin bin ich Seemann und mein ganzes Leben nicht seekrank gewesen. Aber an Bord dieses fliegenden Ungetüms hier beginne ich zu begreifen, was so mancher auf meinem Schiff mitgemacht haben muß.«
Indiana lachte leise und schüttelte ablehnend den Kopf, als Bates ihm eine Zigarette anbot. Nachdenklich blickte er aus dem Fenster. Draußen herrschte tiefste Nacht, und der Himmel hatte sich wieder bewölkt, so daß auch die Sterne nicht mehr zu sehen waren. Aber tief, sehr tief unter dem Schiff sah er ein schwaches Glitzern. Sie befanden sich über dem offenen Meer. Offensichtlich hatte die Dra-gon während der Nacht beigedreht und Kurs nach Norden genommen, auf den Ozean hinaus.
«Wie lange werden wir brauchen?«
Bates zuckte mit den Schultern.»So genau kann man das nicht sagen«, antwortete Morton.»Vielleicht, zwei, drei Tage, vielleicht aber auch eine Woche. Das kommt darauf an, wie weit der Berg abgetrieben ist und ob wir ihn auf Anhieb finden oder nicht.«
«Reizende Aussichten«, knurrte Indiana.
Morton lächelte.»Mit etwas Glück dauert es ja nur ein paar Tage«, sagte er.
«Ja, und wenn nicht, dann sind wir auch auf ein paar Monate eingerichtet«, fügte Indiana hinzu. Morton sah ihn fragend an, und auch Bates runzelte die Stirn.
Indiana deutete mit der Hand zur Decke hinauf.»Ich war ein paarmal oben«, sagte er.»Quinn und die Hunde sind in den Lagerräumen untergebracht, wissen Sie. Und dabei ist mir aufgefallen, daß dieses Schiff vollgestopft mit Vorräten ist.«
Bates überraschte dies nicht.»Immerhin kann es sein, daß wir lange auf diesem Eisberg bleiben müssen«, meinte er.»Wenn dieses Schiff wirklich dort ist…«
«Das ist es«, sagte Morton ernst. Er beobachtete Bates und Indiana bei diesen Worten genau.
«Niemand zweifelt daran, daß Sie es gesehen haben«, stellte Indiana hastig richtig.»Aber es ist…«Er suchte einen Moment vergeblich nach Worten und rettete sich schließlich in ein verlegenes Lächeln.»Nun, selbst — oder gerade — mir als Wissenschaftler fällt es schwer, so etwas zu glauben. Ich habe eine Menge erstaunlicher Dinge gesehen, aber so etwas war noch nicht dabei.«
Morton nickte. Er lächelte flüchtig, aber er sah gleichzeitig auch verletzt aus, und Indiana konnte das verstehen.»Glauben Sie mir, Doktor Jones«, antwortete er.»Mir ging es genauso. Aber ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist, daß ich dieses Schiff gesehen habe. Es ist dort.«
«Waren Sie an Bord?«fragte Indiana.
Morton schüttelte den Kopf.»Leider nein. Es war nicht möglich, heranzukommen. Und davon abgesehen, hatten wir andere Probleme.«
«Van Hesling?«
Morton nickte. Ein Schatten huschte über sein Gesicht.
«Was meinen Sie damit?«fragte Jones.
Es dauerte eine Weile, bis Morton antwortete. Und als er es tat, trat ein sonderbarer Ausdruck in seine Augen. Er sah Indiana an, aber gleichzeitig war es, als sähe er etwas ganz anderes. Und was immer es war, woran ihn die Worte erinnerten, es mußte eine sehr unangenehme, bittere Erinnerung sein.»Irgend etwas… war dort«, sagte er.»Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich habe es einfach gespürt. Etwas… Böses umgibt diesen Berg.«
«Etwas Böses?«
Morton lächelte nervös.»Ich weiß, wie das in Ihren Ohren klingen muß, Doktor Jones. Immerhin sind Sie Wissenschaftler. Aber ich kann es nicht anders beschreiben. Und es erging allen an Bord so. Sie können jeden Mann der POSEIDON fragen: Sie alle haben es gefühlt. Dieser schwimmende Eisberg ist ein böser Ort.«
«Es muß schlimm gewesen sein dort«, meinte Bates mitfühlend.
Morton nickte abermals. Er hob die linke Hand, und Indiana merkte erst jetzt, daß drei seiner Finger steif waren.»Ein kleines Andenken an meine letzte Begegnung mit Odinsland«, sagte Morton.»Und ich habe noch Glück gehabt. Mein Erster Offizier und drei Mann der Besatzung sind tot.«
Indiana und auch Bates warteten darauf, daß er weitersprach, aber das tat Morton nicht. Statt dessen stand er plötzlich auf, starrte noch eine Sekunde aus dem Fenster in die Nacht hinaus und verabschiedete sich dann mit ein paar gemurmelten Worten. Indiana sah ihm nachdenklich hinterher, als er den Raum verließ.
«Ich bin gespannt, was wir wirklich dort finden werden«, sagte Ba-tes, als sie allein waren.
Indiana blickte ihn fragend an.
«Ich wollte es gerade nicht sagen, als Morton dabei war«, fuhr Ba-tes fort. Er sprach plötzlich leiser, und er tat es auch erst, nachdem er sich mit einem raschen Blick in die Runde davon überzeugt hatte, daß sie auch wirklich allein waren.»Aber ich war in einem dieser Laderäume, von denen Sie gesprochen haben. In manchen sind wirklich Vorräte.«
«Und in den anderen?«fragte Indiana.
Wieder zögerte Bates einen Moment mit der Antwort.»Waffen«, sagte er schließlich. Indiana hätte nicht überrascht sein dürfen, nach allem, was bisher geschehen war. Aber er war es trotzdem.»Waffen?«wiederholte er ungläubig.
Bates nickte und fuhr sich mit dem Handrücken unter dem Kinn entlang.»Die Dragon ist bis hierhin vollgestopft mit Waffen«, bestätigte er.»Und Lestrades sogenannte Besatzung ist auch keine Besatzung. Ich weiß ja nicht, was Browning auf diesem Eisberg wirklich zu finden glaubt, aber er muß einen verdammten Respekt davor haben.«
«Waffen?«wiederholte Indiana noch einmal.»Sind Sie sicher?«
«Hundertprozentig«, antwortete Bates. Und plötzlich grinste er wieder.»Wollen Sie sie sehen?«
Indiana zögerte. Er glaubte Bates. Der Marineflieger hatte überhaupt keinen Grund, ihn anzulügen, Und gleichzeitig wollte er nichts dringender, als sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß Bates die Wahrheit sprach. Aber andererseits war da immer noch das, was der Präsident zu ihm gesagt hatte. Vielleicht wurde es Zeit, sich einzugestehen, daß er den Ernst dieser Worte bisher noch gar nicht richtig begriffen hatte.
Trotzdem…
Er hob den Blick und sah Bates an.»Warum nicht?«
Sie standen auf, verließen den Aufenthaltsraum und stiegen über die schmale Eisentreppe nach oben. Bates gebot ihm mit einer Geste, still zu sein, und sah sich aufmerksam in alle Richtungen um, ehe er die ins Innere des eigentlichen Rumpfes führende Luke öffnete. Indiana wußte, daß seine Vorsicht nur zu berechtigt war. Bei der gereizten Stimmung, die ohnehin an Bord herrschte, wäre es ein gefundenes Fressen für Lestrade, Bates und ihn bis zum Ende ihrer Reise einzusperren, wenn sie ihm auch nur einen fadenscheinigen Vorwand dafür lieferten. Andererseits bestand kaum die Gefahr, daß man sie entdeckte. Es war mitten in der Nacht, und selbst wenn jemand sie beobachten sollte, konnte er immer noch behaupten, daß sie zu Quinn und den Hunden hatten gehen wollen.
Gebückt kletterte er hinter Bates durch die schmale Luke, ließ sie hinter sich wieder zugleiten — und erstarrte.
Sie waren nicht allein.
Rings um sie herum herrschte fast vollkommene Dunkelheit, an die sich ihre Augen erst allmählich gewöhnten, und das einzige, was er hörte, waren seine und Bates’ gedämpfte Atemzüge, sowie das ferne Dröhnen der Propellermotoren. Und trotzdem spürte er, daß noch jemand hier war. Ganz in der Nähe.
«Was haben Sie?«fragte Bates im Flüsterton.
Indiana hob hastig die Hand und winkte ab — was angesichts der Dunkelheit ziemlich sinnlos war —, aber Bates schien die Bewegung zu spüren, denn er verstummte.
Indiana lauschte angespannt. Im ersten Moment hörte er weiter nichts, aber dann glaubte er ein leises schleifendes Geräusch in der Dunkelheit links von sich wahrzunehmen. Vorsichtig drehte er den Kopf, schloß die Augen, zählte in Gedanken langsam bis zehn und hob die Lider dann wieder. Er sah jetzt wenigstens Umrisse.
In der Dunkelheit wirkte das Schiff noch größer und unheimlicher als bei Tageslicht. Eine riesige fliegende Halle, in der sich formlose Umrisse und Schatten aneinanderdrängten und deren Enden in beiden Richtungen nicht auszumachen waren. Dicht vor sich konnte er Bates’ geduckten Schatten erkennen, der, wie er, mitten in der Bewegung erstarrt war und offensichtlich ebenfalls lauschte — und dahinter einen Umriß, der ganz und gar nicht hierher gehörte.
«Vorsicht!«
Seine Warnung kam keine Sekunde zu früh. Der Schatten hinter Bates erwachte plötzlich zu lautloser, aber entsetzlich schneller Bewegung, und unmittelbar danach hörte Indiana einen dumpfen, klatschenden Schlag, gefolgt von Bates’ Stöhnen und einem zweiten, etwas lauteren Poltern, als der Marineflieger zu Boden stürzte.
Indiana stieß sich mit aller Kraft ab und sprang mit ausgebreiteten Armen auf den unsichtbaren Angreifer zu. Aber er hatte den Mann unterschätzt. Der andere schien seine Bewegung vorausgeahnt zu haben, denn er wich im letzten Moment zur Seite, streckte blitzschnell das Bein vor und versetzte Indiana einen wuchtigen Fausthieb in den Nacken, der ihn unmittelbar neben Bates zu Boden fallen ließ.
Sofort rappelte er sich wieder hoch, hob schützend den linken Arm vor das Gesicht und ballte die andere Hand zur Faust, während er sich wild nach dem Angreifer umsah. Aber der Mann verzichtete darauf, seinen momentanen Vorteil auszunutzen, sondern verschwand mit weit ausgreifenden Schritten in der Dunkelheit. Schon nach wenigen Augenblicken konnte Indiana ihn nicht mehr sehen, aber seine Schritte polterten hörbar auf dem schmalen Laufweg.
Jones fuhr herum, setzte dazu an, die Verfolgung aufzunehmen, und blieb dann mitten in der Bewegung stehen, um sich zu Bates hinab-zubeugen.»Sind Sie okay?«fragte er.
Bates stöhnte leise, stemmte sich auf Knie und Hände hoch und schüttelte den Kopf.»Der Kerl hat einen Faustschlag wie ein Ochse«, meinte er.»Aber es geht schon. Schnappen Sie sich den Kerl!«
Indiana zögerte, aber schließlich nickte er.»Rufen Sie die anderen!«sagte er. Dann fuhr er herum und stürmte hinter dem Mann her.
Indiana war dem Schatten dicht auf den Fersen, aber der andere mußte entweder über das Orientierungsvermögen einer Fledermaus verfügen oder sich schlicht und einfach besser hier auskennen, denn während Indiana unentwegt über irgendwelche jäh aus dem Dunkel auftauchenden Hindernisse stolperte, bewegte der andere sich mit fast tänzerischer Leichtigkeit. Sein Vorsprung wuchs. Indiana war noch nicht ganz klar, wohin er überhaupt wollte — das Luftschiff war zwar groß, aber selbst der größte Raum ist irgendwo zu Ende.
Und dann war der Mann plötzlich verschwunden.
Indiana stolperte noch ein paar Schritte weiter, ehe er überrascht stehenblieb und sich verwirrt umsah. Er hatte den Bug der Dragon fast erreicht. Vor ihm, kaum noch ein Dutzend Schritte entfernt, endete die Laufplanke an einem nur hüfthohen metallenen Geländer, und dahinter war nichts als das grazile Metallskelett des Luftschiffs und die silberne Hülle, die sich darüber spannte.
Aber das war doch unmöglich! Der Kerl konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.
«Jones! Über Ihnen!«
Indianas Kopf flog mit einem Ruck in den Nacken — und tatsächlich: Die Gestalt befand sich schon gut fünf, sechs Meter über ihm. Wie eine riesige, vierbeinige Spinne kletterte sie geschickt und beinahe lautlos an der dünnen Metalleiter hinauf, die in die oberen Bereiche der Dragon führte.
Sofort setzte Indiana zur Verfolgung an. Aber auch diesmal war der andere schneller. Indiana kletterte, so rasch er konnte, und mehr als einmal ahnte er die dünnen Sprossen in der Dunkelheit mehr, als er sie wirklich sah. Trotzdem entfernte sich der andere immer weiter von ihm, und Indiana hatte kaum die Hälfte der Leiter hinter sich gebracht, als die Gestalt über ihm verschwand. Augenblicke später hörte er hastige Schritte auf dem Metall eines zweiten, noch schmaleren Laufstegs, der sich über ihm entlangzog.
Ein eisiger Luftzug traf ihn, als er Augenblicke später schnaubend auf den Steg hinauskletterte. Er sah den Schatten jetzt etwa dreißig, wenn nicht vierzig Schritte vor sich, eine gebückte, massige Gestalt, die sich mit weit ausgreifenden Schritten von ihm entfernte. Aber obwohl er jetzt viel weiter weg war, konnte er ihn trotzdem deutlicher erkennen, denn seine Gestalt hob sich als scharf umrissener Schatten vor einem grauen Schimmer ab, der das Schiff plötzlich erfüllte.
Die Hülle! schoß es Indiana durch den Kopf. Jemand hatte ein Loch in die Hülle des Luftschiffs geschnitten!
«Stehenbleiben!«brüllte Indiana. Natürlich reagierte die Gestalt auch jetzt nicht darauf, aber immerhin wandte sie mitten im Lauf den Blick und sah kurz zu ihm her. Das Licht war zu schlecht, als daß er ihr Gesicht erkennen konnte, aber er sah zumindest, daß es niemand von der Besatzung war. Der Mann trug nicht die blaue Borduniform der Marine, sondern einen einfachen dunklen Anzug, den er sich offensichtlich aus einem einzigen Grund angezogen hatte: um sich in der hier oben herrschenden Dunkelheit verbergen zu können. Und Indiana sah noch etwas: In seiner rechten Hand blitzte es kurz und silbern auf — ein Messer!
«Bleiben Sie stehen, verdammt noch mal!«rief Indiana.»Sie haben ja doch keine Chance!«
Der andere schien da etwas anderer Meinung zu sein. Statt aufzugeben, beschleunigte er seine Schritte noch mehr und näherte sich rasch dem großen, ausgefransten Loch, das in der Seitenwand der Dragon klaffte.
Der eisige Wind peitschte Indiana heftiger ins Gesicht. Mit ihm trieben Regenschleier ins Innere des Luftschiffs, die das glatte Metall unter seinen Füßen noch schlüpfriger und unsicherer machten. Er hatte Mühe, sich überhaupt noch auf den Füßen zu halten, während der andere mit schon beinahe unverschämter Sicherheit vor ihm herraste.
Er sah die Falle, einen Sekundenbruchteil, bevor er wirklich hineinlaufen konnte.
Der Mann war nämlich nicht allein. Er blieb plötzlich stehen und drehte sich um, und im gleichen Moment sah Indiana einen zweiten gedrungenen Schatten, der hinter ihm wie aus dem Nichts auftauchte. Und noch eine dritte dunkle Gestalt, die sich auf dem Boden zwischen den beiden krümmte. Ein leises Stöhnen drang an sein Ohr.
Indiana blieb ebenfalls stehen, löste seine Peitsche vom Gürtel und warf sich instinktiv zur Seite, als einer der Schatten eine Bewegung machte und er das flüchtige Blitzen von Metall wahrnahm.
Das Messer verfehlte ihn um Haaresbreite und prallte irgendwo weit hinter ihm klappernd gegen den Steg. Aber die plötzliche Bewegung hatte Indiana aus dem Gleichgewicht gebracht. Hart und schmerzhaft prallte er mit der Hüfte gegen das Eisengeländer des Stegs, spürte, wie er das Gleichgewicht zu verlieren drohte, und streckte instinktiv die Arme aus, als er nach hinten kippte. Seine Hände klammerten sich mit verzweifelter Kraft um das dünne Metallrohr.
Er sah, wie eine der schattenhaften Gestalten sich auf ihn zuzubewegen begann, versuchte sich in die Höhe zu ziehen und verlor dabei fast vollends den Halt.
Seine baumelnden Füße streiften etwas Weiches, Nachgiebiges. Indiana sah nach unten und erkannte, daß er genau über einer der riesigen Gaskammern des Luftschiffs hing. Sie hatte die Form eines prall aufgeblasenen, gut fünfzehn Meter durchmessenden Luftballons, und selbst wenn ihre Oberfläche stabil genug gewesen wäre, sein Gewicht zu tragen — woran er zweifelte —, gab es nichts, woran er sich festhalten konnte. Wenn er den Halt am Geländer verlor, dann würde er unweigerlich von diesem riesigen Luftballon abrutschen und sich fünfzehn Meter tiefer den Hals brechen.
Unter ihm wurden jetzt Schreie laut. Zahlreiche hastige Schritte dröhnten auf dem Metall der Laufplanke, und als er den Blick wandte, sah er eine hünenhafte schwarzhaarige Gestalt mit der Geschicklichkeit eines Affen die Leiter heraufturnen. Quinn. Aber so schnell der Eskimo auch war, er würde zu spät kommen. Der Angreifer hatte ihn fast erreicht, und auch wenn er jetzt kein Messer mehr hatte, würden zwei oder drei beherzte Faustschläge auf Indianas Finger den gleichen Zweck erfüllen wie die Klinge. Noch einmal versuchte er mit aller Kraft, die Knie an den Körper zu ziehen und wenigstens ein Bein auf die Planke zu bekommen, dann traf ein fürchterlicher Schlag seine linke Hand und lähmte sie bis in den Arm hinauf. Jedes Gefühl wich aus seinen Fingern. Hilflos mußte er zusehen, wie seine Hand an ihrem Halt abrutschte, und für einige schreckliche Sekunden hing er nur noch an einem Arm über dem Abgrund. Vergeblich versuchte er, die linke, geprellte Hand zur Faust zu ballen, um damit nach dem Angreifer zu schlagen. Und der Mann hob in diesem Moment die beiden aneinandergelegten Fäuste, um sie auf seine rechte Hand herunterkrachen zu lassen.
Indiana setzte alles auf eine Karte. Er zog beide Knie an den Körper, stemmte die Füße gegen die Kante der schmalen Laufplanke — und stieß sich mit aller Gewalt nach hinten ab.
Eine endlos scheinende Sekunde schien er schwerelos über dem Nichts zu hängen. Dann prallte er auf etwas Weiches, sehr Nachgiebiges, warf sich instinktiv herum und streckte die Arme aus, um irgendwo Halt zu finden.
Die Oberfläche des Heliumballons war noch glatter, als er gefürchtet hatte. Er spürte, wie er in die Tiefe zu rutschen begann, krallte sich verzweifelt mit den Fingern fest — und das Wunder geschah: Aus dem Abstürzen wurde ein langsames Gleiten, und nach einer weiteren schreckerfüllten Sekunde kam er zur Ruhe.
Auf dem Laufsteg über ihm erscholl ein enttäuschtes Knurren. Indiana hob vorsichtig den Kopf, blinzelte zu der riesigen Gestalt hinauf, die er auch jetzt nur als schwarzen Schatten erkennen konnte, und stellte fest, daß er in einer sanften Vertiefung lag, die sein eigenes Körpergewicht in die Oberfläche des riesigen Luftsacks gedrückt hatte. Und wie durch ein Wunder hielt das Material der Belastung stand.
Vorsichtig begann er sich zu bewegen. Es ging, wenn er sich nur Millimeter um Millimeter rührte und versuchte, sein Gewicht möglichst gleichmäßig zu verteilen, auch wenn der dünne Boden unter ihm dabei bedrohlich zu schwanken begann. Sacht gegen die Oberfläche des Luftsacks gepreßt und sich nur mit Finger- und Zehenspitzen vorwärts arbeitend, versuchte er, wieder in die Höhe zu kriechen, um ganz auf die Oberseite des riesigen Gasbehälters zu gelangen.
Und wahrscheinlich hätte es sogar geklappt, wäre der Mann auf dem Laufsteg nicht gewesen.
Indiana war viel zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, um dem Angreifer die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Aber er registrierte immerhin, daß Quinn auf der anderen Seite des Ganges das Ende der Leiter erreicht hatte und sich drohend zu seiner vollen Größe von weit über zwei Metern aufrichtete. Der Schatten auf der Planke wich ein paar Schritte zurück, blieb stehen und zog ein Messer.
Aber nicht, um Quinn damit anzugreifen. Statt dessen holte er aus, zögerte noch einen Sekundenbruchteil — und schleuderte es mit aller Kraft nach Indiana Jones!
Indiana duckte sich, so gut er konnte, um der Klinge auszuweichen. Diesmal verfehlte ihn das Messer um gut einen Meter — aber er begriff entschieden zu spät, daß der Mann auch gar nicht auf ihn gezielt hatte.
Der schwere Dolch durchschlug die dünne Folie, auf der er lag, ohne sichtlichen Widerstand und verschwand in der Tiefe.
Einen Moment lang starrte Indiana ungläubig auf das winzige, kaum handspannengroße Loch, das der Dolch in das beschichtete Segeltuch gerissen hatte, und plötzlich fauchte ein übelriechendes Gas aus der Tiefe direkt in sein Gesicht.
Indiana Jones holte erschrocken tief Luft und krümmte sich sofort in einem Erstickungsanfall, als statt Sauerstoff Helium in seine Lungen strömte.
Die hastige Bewegung ließ den Riß im Gewebe unter ihm noch weiter anwachsen. Ein widerliches reißendes Geräusch, wie von einer Messerklinge in Seide, erklang, und sofort spürte Indiana, wie alles unter ihm nachgab, sich in einer fast langsamen Bewegung senkte — und dann war nichts mehr unter ihm.
Hilflos stürzte er in die Tiefe. Eine Sekunde, zwei — und er schlug auf etwas auf, das seinen Körper wie ein übergroßes Trampolin sanft abfing und noch zwei-, dreimal in die Höhe federn ließ, ehe er endlich zur Ruhe kam.
Ganz instinktiv hatte er den Atem angehalten, und wahrscheinlich war es auch das, was ihm das Leben rettete. Hastig richtete er sich auf, verlor sofort wieder das Gleichgewicht, denn auch hier gab der Boden unter ihm wie Schaumgummi nach, und sah sich verzweifelt um. Absolute Schwärze umgab ihn. Der Riß in der Oberseite des riesigen Ballons, durch den er heruntergestürzt war, schien unendlich weit entfernt. Und das war er auch. Selbst wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, dort hinaufzukommen — ihm blieb einfach nicht genug Zeit.
Er fuhr herum, starrte wild in die Dunkelheit und versuchte mit aller Konzentration das Chaos in seinen Gedanken zu beruhigen. Er hatte nur noch Sekunden. Seine Lungen brannten schon jetzt, als wären sie mit Säure verätzt, und in seinem Kopf begann sich bereits ein taubes, einschläferndes Gefühl breit zu machen. Und nur noch ein paar Augenblicke, und er würde atmen müssen. Das Gas, mit dem die Kammer gefüllt war, war zwar nicht giftig, aber auch nicht lebenserhaltend, und er würde daran ebenso sicher ersticken, als wäre es Zyanidgas. Nur nicht ganz so schnell.
Seine Gedanken rasten. Seine Hände tasteten über seine Kleidung, suchten nach irgend etwas, mit dem er das dünne Gewebe zerreißen oder zerschneiden konnte, fand aber nichts. Die Peitsche hatte er ja oben fallengelassen, und da sie sich hier an Bord eines — vermeintlich — nur mit Verbündeten besetzten Luftschiffs befanden, hatte es auch keine Veranlassung für ihn gegeben, irgendeine Waffe mitzubringen.
Das Hämmern in seiner Brust wurde schlimmer. Seine Lungen schrien nach Sauerstoff, und er fragte sich, wie lange er dem allem standhalten würde. Er mußte hier raus! Ganz egal, wie.
Seine Finger glitten über etwas Hartes. Die Gürtelschnalle!
Mit hastigen Bewegungen öffnete Indiana Jones seinen Gürtel, riß ihn kurzerhand samt den Schlaufen, die ihn normalerweise an der Hose hielten, herunter und rammte den stumpfen Metalldorn der Schnalle mit aller Gewalt in das dünne Material unter sich.
Ein Zischen erklang, und unter seinen Fingern entstand ein winziges Loch. Indiana riß und zerrte mit verzweifelter Kraft an der Gürtelschnalle, versuchte sie wie ein Messer durch das zähe Material des Heliumsacks zu ziehen und begriff immer deutlicher, daß er es nicht schaffen würde. Er konnte kaum noch denken. Seine Lungen schmerzten, als wären sie mit weißglühender Lava gefüllt, und seine Kraft ließ bereits stark nach. Er fiel zur Seite, griff noch einmal mit beiden Händen zu und schaffte es schließlich, das Loch so sehr zu erweitern, daß er beide Hände hineinschieben konnte.
Alles begann um ihn herum zu verschwimmen. Der Schmerz in seinen Lungen und das Hämmern seines eigenen Pulsschlages hinter den Schläfen verschwanden, und plötzlich fühlte er sich leicht, fast schwerelos. Unter ihm war ein blasses, winziges Licht, durch das rote Blitze zuckten und an dem sich seine Hände zu schaffen machten. Er sank nach vorne, kroch mit dem letzten bißchen Kraft genau auf diesen winzigen Lichtfleck zu, preßte das Gesicht dagegen -
— und dann konnte er atmen.
Seine Lungen füllten sich mit süßem, köstlichem Sauerstoff. Gierig sog er ihn so tief ein, wie er konnte, schloß die Augen und tat für die nächsten zwei, drei Minuten nichts anderes, als Luft zu holen.
Sein rasender Pulsschlag beruhigte sich allmählich. Seine Lungen schmerzten jetzt nicht mehr, dafür begann sich in seinem Kopf ein immer heftiger werdendes Schwindelgefühl auszubreiten. Wie durch einen grauen treibenden Nebel hindurch sah er, daß Gestalten unter ihm erschienen, Gestalten in blauen Uniformen und weißen Marinemützen, eine von ihnen in einer grauen, mit schwarzen und goldenen Tressen geschmückten Uniform, die irgendwie unpassend wirkte. Schreie erfüllten das Luftschiff, und das Trappeln zahlloser hastiger Schritte.
Plötzlich blieb eine der Gestalten stehen, hob den Kopf und blickte direkt zu ihm hinauf. Es war Lestrade. Seine Augen weiteten sich fassungslos, als er das Gesicht von Indiana Jones in der zerschnittenen Hülle des Gastanks erblickte.»Was, zum Teufel, tun Sie dort?«schrie er.
«Ich versuche, am Leben zu bleiben«, antwortete Indiana Jones mühsam. Seine Stimme klang lächerlich: schrill und quietschend, verzerrt vom Helium, das sein Lungen gefüllt hatte. Er atmete noch einmal tief ein, richtete sich auf und zerrte mit aller Kraft. Das dünne Material zerriß jetzt wie Papier, und plötzlich verlor Indiana zum wiederholten Male in den vergangenen Minuten den Halt, konnte sich gerade noch irgendwo festklammern, um wenigstens nicht kopfüber in die Tiefe zu stürzen, und landete reichlich ungeschickt kaum einen Meter vor Lestrades Füßen. Über ihm begann der Gastank allmählich seine Form zu verlieren. Das Helium strömte jetzt aus beiden Rissen immer schneller und schneller ins Freie, und aus dem gewaltigen prall gefüllten Luftballon war längst ein nur noch halb so großer Sack mit dem Aussehen einer schrumpeligen braunen Riesenmelone geworden.
Lestrade blickte fassungslos von Indiana Jones zu dem zusammensackenden Gastank hinauf und dann wieder zurück.»Was… was haben Sie getan?«fragte er. Seine Stimme war nur noch ein entsetztes Krächzen. Daß es jemand gewagt hatte, Hand an sein Schiff zu legen, das mußte für ihn einer Gotteslästerung gleichkommen.
Indiana rappelte sich mühsam hoch, schüttelte zwei-, dreimal den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und sagte noch einmal:»Ich habe versucht, zu überleben, mein lieber Colonel. Irgend jemand war so freundlich, mir für den Rest der Reise ein Einzelzimmer zuweisen zu wollen. «Er deutete mit dem Zeigefinger nach oben.»In dem Ding da.«
Lestrades Augen quollen fast aus den Höhlen.»Sie… Sie…«, stammelte er.
Indiana hörte gar nicht mehr hin. Das Schwindelgefühl in seinem Kopf wurde immer schlimmer, und in seinem Mund begann sich ein widerwärtiger fauliger Geschmack auszubreiten. Offensichtlich war das Gas, das die Dragon in der Luft hielt, doch nicht ganz so ungefährlich, wie allgemein behauptet wurde. Er wollte einen Schritt machen, spürte, wie seine Knie weich wurden, und griff instinktiv nach dem erstbesten, was seine Hände fanden: dem Ordensband auf der linken Brustseite von Lestrades Uniform, das unter seinem Gewicht abriß.
Indiana taumelte. Er versuchte vergeblich, irgendwo Halt zu finden, und machte einen letzten mühsamen Schritt. In seinem Kopf drehte sich alles, und seine Gedanken begannen sich zu verwirren.
Als er an Lestrade vorbeizuwanken versuchte, fiel er der Länge nach hin — und diesmal über seine eigenen Hosen, die, ihres Gürtels beraubt, ins Rutschen geraten waren und bis zu seinen Knöcheln hinunterglitten.
Aber davon bemerkte er schon nichts mehr.
Er erwachte mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens. In seinem Mund war ein Geschmack, als hätte er versucht, das Totenhemd seines Großvaters zum Frühstück zu verspeisen, und in seinen Gliedern machte sich ein Gefühl von Betäubung breit, das fast an Schmerz grenzte. Er blinzelte, stöhnte unterdrückt, als ein grelles, unerträglich gleißendes Licht in seine Augen stach, und senkte hastig wieder die Lider.
«Ich glaube, er kommt zu sich.«
Die Stimme kam ihm vage bekannt vor, aber er war noch zu benommen, um sie einordnen zu können. Wesentlich vorsichtiger als beim ersten Mal hob er wieder die Lider, und diesmal konnte er sehen.
Er befand sich nicht mehr im Inneren des Luftschiffs, sondern lag auf der Pritsche in seiner eigenen Kabine. Colonel Lestrade, Browning sowie Bates standen mit besorgten Gesichtern um ihn herum, und Dr. Rosenfeld saß auf dem Rand seiner Liege und knipste gerade die bleistiftdünne Taschenlampe aus, mit der sie ihm in die Augen geleuchtet hatte. Als sie seinem Blick begegnete, lächelte sie flüchtig und fragte:»Wie fühlen Sie sich?«
«Wollen Sie eine ehrliche Antwort?«
Dr. Rosenfelds Lächeln wurde noch freundlicher, während sie den Kopf schüttelte.»Versuchen Sie nicht, aufzustehen«, sagte sie. Zu Lestrade und den anderen gewandt, erklärte sie:»Er scheint es relativ gut überstanden zu haben. Ich glaube nicht, daß er ernsthaft verletzt ist. Aber ich bin keine Ärztin«, fügte sie hinzu.
Indiana Jones ignorierte Doktor Rosenfelds Rat und stemmte sich auf den Ellbogen hoch, was er fast in der gleichen Sekunde wieder bereute, denn das Schwindelgefühl in seinem Kopf erwachte jäh zu neuem Leben, und in seinem Magen breitete sich Übelkeit wie eine warme, klebrige Woge aus.
«Was ist passiert?«fragte er mühsam. Er hatte Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Was aus seinem Mund kam, war jetzt nicht mehr diese alberne Mickymaus-Stimme, aber sein Kehlkopf und seine Lippen fühlten sich noch immer taub an, und er war unbeschreiblich durstig.
«Ich dachte, das könnten Sie uns sagen. «Lestrade gab Doktor Rosenfeld mit den Augen zu verstehen, daß sie aufstehen sollte, wartete, bis sie gehorchte, und ließ sich dann an ihrer Stelle auf Indianas Bettkante nieder.»Was war da oben los?«
«Ich weiß es nicht«, antwortete Indiana wahrheitsgemäß.»Jemand hat Bates und mich angegriffen, als wir hinaufkamen. «Er warf dem Marineflieger einen beistandheischenden Blick zu, aber Bates nickte nur und schwieg.
Lestrade musterte ihn und Bates abwechselnd mit feindseligen Blicken.»Das wissen wir mittlerweile auch«, erwiderte er.»Was haben Sie überhaupt dort oben gesucht?«
Bates fuhr ganz leicht zusammen, und Indiana begriff, daß er dem Kapitän der Dragon nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.»Wir wollten zu Quinn und den Hunden«, log er.»Ich konnte nicht schlafen, und Bates mag Tiere genauso gern wie ich.«
Lestrades Blick machte sehr deutlich, was er von dieser Antwort hielt, aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern fragte:»Konnten Sie einen der Kerle erkennen?«
«Nein. «Indiana schüttelte bedauernd — und sehr vorsichtig — den Kopf und versuchte, die Beine von der Liege zu schwingen. Daß er Lestrade damit mehr oder weniger von seiner Bettkante schubste, war ein unbeabsichtigter, aber keineswegs bedauernswerter Nebeneffekt.»Ich dachte, Sie hätten sie gekriegt«, fuhr er fort, nachdem er sich aufgerichtet hatte.
Lestrades Gesichtsausdruck wurde noch düsterer.»Nein«, antwortete er.»Wir hatten alle Hände voll damit zu tun, das Schiff am Abstürzen zu hindern, und Sie und Morton hier herunter zu bringen.«
«Morton?«Indiana sah verwirrt auf.
«Jemand hat versucht, ihn umzubringen«, gestand Browning leise und sehr ernst.»Und es wäre ihm gelungen, wenn Sie und Bates nicht dazwischengeplatzt wären.«
«Jemand?«fragte Indiana Jones.
«Sie sind entkommen«, sagte Browning düster.»Aber ich kann mir ungefähr denken, wer es war. «Er machte eine aufforderne Handbewegung und blickte zuerst Doktor Rosenfeld, dann Indiana fragend an.»Fühlen Sie sich in der Lage aufzustehen?«
Indiana fühlte sich ganz und gar nicht in der Lage, irgend etwas zu tun, aber er nickte trotzdem, griff dankbar nach Bates’ hilfreich ausgestreckter Hand und stand vorsichtig auf.
Sie verließen die Kabine. Obwohl es noch immer tiefste Nacht sein mußte, herrschte an Bord der Dragon jetzt rege Betriebsamkeit. Überall hörte man Schritte, Stimmen und die Geräusche eilig hin und her hastender Menschen. Und auch das Dröhnen der Motoren hatte sich verändert: Es klang jetzt kraftvoller, tiefer, und Indiana begriff, daß er selbst nicht nur um ein Haar sein Leben, sondern Colonel Lestrade auch die Gewalt über sein kostbares Schiff verloren hätte.
Sie betraten den Aufenthaltsraum. Er war taghell erleuchtet, und an die zwanzig Soldaten — diesmal voll bewaffnet mit Gewehren, aufgepflanzten Bajonetten und Pistolengürteln — standen in kleinen Gruppen zwischen den Tischen herum. Er entdeckte Morton an demselben Tisch, an dem er vor zwei Stunden mit ihm und Bates zusammengesessen hatte. Der Kapitän saß vornübergebeugt da und hatte den Kopf in die Hände gestützt; auf seiner Stirn leuchtete ein weißer Verband, auf dessen rechter Seite sich ein häßlicher dunkler Fleck zeigte. Die beiden dänischen Forscher saßen neben ihm. An einem anderen Tisch, nur ein Stück entfernt, hockten Loben und von Ludolf, wie immer mit steinernen Gesichtern und trotz der späten Stunde mit perfekt sitzenden Uniformen. Und die Soldaten, die ihren Tisch umgaben, standen nicht zufällig dort, das begriff Indiana Jones im gleichen Moment, in dem er sie sah.
Er ging ein wenig schneller, beugte sich vor und berührte Morton an der Schulter. Der Kapitän sah auf. Er blinzelte. Sein Blick war trüb, und es schien eine Weile zu dauern, bis er Indiana überhaupt erkannte. Dann zwang er sich zu einem mühsamen Lächeln.»Doktor Jones«, sagte er.
«Wie geht es Ihnen?«fragte Indiana besorgt. Mortons Lächeln wurde noch etwas gequälter.»Ich bin noch am Leben, wenn Sie das meinen. Aber das habe ich nur Ihnen zu verdanken. Wenn Sie nicht gekommen wären…«
«Das war reiner Zufall«, sagte Indiana.»Was ist passiert?«
Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, als Morton mit den Schultern zuckte.»Ich weiß es nicht«, gestand er unglücklich.»Ich bin in meine Kabine gegangen, nachdem wir miteinander gesprochen haben, und von da an…«
Er zögerte.»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist«, meinte er schließlich.
«Ich muß wohl einen Schlag über den Kopf bekommen haben. Als ich aufwachte, lag ich jedenfalls dort oben auf dem Steg, und einer der beiden Kerle war gerade dabei, mit einem Messer ein Loch in die Hülle zu schneiden.«
«Aber wozu denn?«wunderte sich Erikson.
«Bestimmt nicht, weil ihm warm war«, knurrte Lestrade zornig.»Die beiden wollten Kapitän Morton über Bord werfen, vermute ich.«
«Und dafür schneiden sie extra ein Loch in die Hülle?«fragte Indiana zweifelnd.
«Wissen Sie eine bessere Erklärung?«
«Nein«, gestand Indiana.»Aber Ihre gefällt mir auch nicht.«
Er wandte sich wieder an Morton.»Haben Sie sie erkannt?«
Morton schüttelte abermals den Kopf.»Ich habe überhaupt nichts mitbekommen«, sagte er.»Die beiden müssen auf mich gewartet haben. Ich weiß wirklich nicht, wer es war.«
«Wer, zum Teufel, sollte einen Grund haben, Sie umzubringen?«fragte Indiana.
Kapitän Morton antwortete nicht sofort, aber er war auch nicht der einzige, der den Blick hob und zu den beiden Deutschen hinübersah, die ein paar Tische entfernt saßen und die kleine Versammlung voll unverhohlenem Mißtrauen beobachteten.
«Das ist nicht Ihr Ernst«, zweifelte Indiana. Er war vermutlich der letzte an Bord, der die beiden deutschen Wehrmachts-Offiziere als seine Freunde bezeichnet hätte; aber einen Mord traute er ihnen denn doch nicht zu. Vor allem dann nicht, wenn er so sinnlos und offensichtlich war.
Aber dann fiel ihm etwas ein. Etwas, was er gesehen und gleich wieder vergessen hatte, woran er sich aber mit einem Mal wieder erinnerte.
«Was starren Sie mich so an?«fragte von Ludolf. Seine Stimme war so kühl und gelassen wie immer, aber in seinem Blick war etwas Aggressives.
«Oh, es ist… nichts«, sagte Browning.»Es ist nur…«
Er suchte einen Moment nach Worten, lächelte flüchtig und unecht und räusperte sich hörbar. Als er weitersprach, hatte seine Stimme einen offiziellen Tonfall angenommen.»Es ist nur… jemand hat versucht, Kapitän Morton umzubringen.«
Von Ludolf nickte ärgerlich.»Und selbstverständlich verdächtigen Sie sofort uns«, sagte er.»Warum? Gibt es irgendwelche Beweise gegen uns, oder ist es schlichtweg die Tatsache, daß wir die einzigen Deutschen an Bord sind?«
«Sie waren dort oben«, erwiderte Indiana an Brownings Stelle.
«Und? Fast alle waren dort oben«, antwortete von Ludolf. Er musterte Indiana mit dem kalten, glitzernden Blick einer Schlange, die nach einer passenden Stelle zum Zubeißen sucht.»Wir haben die Schreie gehört und sind hinaufgerannt, um nachzusehen, was los ist. Und um zu helfen.«
«Hat Sie irgend jemand dabei gesehen?«fragte Browning.
Von Ludolf lachte humorlos.»Zum Beispiel Doktor Jones«, antwortete er.»Nebst ungefähr drei Dutzend Männern Ihrer Besatzung, Mister Browning.«
Browning überging den beißenden Spott in von Ludolfs Stimme und schüttelte den Kopf.»Das meine ich nicht, Herr Major«, sagte er.»Ich meine, hat irgend jemand gesehen, wie Sie nach oben gelaufen sind — nachdem wir Doktor Jones’ Schreie gehört haben?«
Der Deutsche zuckte mit den Schultern.»Das weiß ich nicht«, meinte er.»Aber ich denke schon. Warum fragen Sie nicht einfach die Männer, die mit oben waren?«
«Das werden wir«, versicherte Browning.»Das werden wir sogar ganz bestimmt.«
«Allmählich reicht es mir«, schnappte von Ludolf.»Welchen Grund sollten Major Loben und ich wohl haben, Kapitän Morton umbringen zu wollen? Noch dazu auf eine so dumme Art und Weise?«
«Das weiß ich nicht«, antwortete Browning.»Für mich ergibt das Ganze hier so wenig Sinn wie für alle hier. Selbst einmal vorausgesetzt, es gäbe einen Grund, Kapitän Morton zu töten, so fallen mir auf Anhieb ungefähr fünfundzwanzig Methoden ein, dies unauffälliger und sicherer zu bewerkstelligen, als ihn niederzuschlagen, ihn quer durch das Schiff zu tragen und ein Loch in die Außenhülle zu schneiden, um ihn dann ins Meer zu werfen.«
In von Ludolfs Augen blitzte es auf. Browning hatte es endgültig geschafft, seine Selbstsicherheit zu erschüttern. Und wahrscheinlich wäre es jetzt wirklich zum Streit zwischen den beiden Männern gekommen, wäre in diesem Moment nicht die Tür aufgeflogen und einer der Marinesoldaten hereingestürmt. Mit raschen Schritten durchmaß er den Raum, beugte sich zu Browning nieder und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Browning sah auf, blickte den Mann einen Moment fragend an und erhob sich dann mit einem Ruck.
«Was gibt es denn?«fragte Indiana.
«Ich weiß es noch nicht«, antwortete Browning.»Aber wir haben ein paar Männer hinaufgeschickt, um dort oben nach Spuren zu suchen. Und es sieht so aus, als hätten sie etwas gefunden.«
Die riesige Halle hatte sich völlig verändert, seit Indiana das letzte Mal hier gewesen war. Die Lichtstrahlen zahlloser starker Handscheinwerfer durchschnitten die Finsternis, und überall waren hastende, suchende Gestalten. Das Schiff hallte wider von den Stimmen der Männer, die offensichtlich keinen Winkel bei ihrer Suche nach den Attentätern oder irgendwelchen Spuren, die sie vielleicht hinterlassen hatten, ausließen. Selbst die Tür zu dem Laderaum, in dem die Hunde untergebracht waren, stand offen und wurde von einem bewaffneten Matrosen bewacht. Dahinter konnte Indiana das aufgeregte Knurren und Winseln der Hunde vernehmen sowie Quinns Stimme, die beruhigende Worte murmelte, wahrscheinlich, damit die Tiere sich nicht kurzerhand auf die Männer stürzten, die ihre Unterkunft durchsuchten.
Lestrade deutete nach oben, empor zu dem Laufsteg, auf dem Indiana gegen die beiden Schatten gekämpft hatte. Sehr rasch und ohne ein weiteres Wort folgten sie dem Mann, der Browning etwas zugeflüstert hatte.
Vor der schmalen Leiter, die in die Höhe führte, kam es für einen Moment zu einem kleinen Gedränge. Indiana trat einen Schritt zurück, um Browning, Bates und den anderen den Vortritt zu lassen. Er selbst war gar nicht so wild darauf, wieder dort hinaufzusteigen.
Sein Blick streifte den riesigen, jetzt schlaff durchhängenden Gastank, in dem er um ein Haar ein so unrühmliches Ende gefunden hätte.
«Ist der Schaden sehr groß?«wandte er sich an Lestrade, der den zerfetzten Tank mit Blicken musterte, als nähme er Abschied von einem toten Sohn.
Lestrade machte eine Bewegung, die eine Mischung aus Achselzucken und einem Kopfschütteln darzustellen schien.»Wenn Sie damit meinen, ob es uns daran hindert, unser Ziel zu erreichen: nein«, antwortete er.»Aber wir werden nicht mehr ganz so schnell sein. Und wir müssen aufpassen, sollten wir in einen Sturm geraten.«
«Aber das Schiff stürzt doch nicht ab?«vergewisserte sich Indiana.
Lestrade zog eine Grimasse.»Die Dragon besitzt insgesamt acht Heliumtanks«, sagte er.»Und sie würde selbst dann noch fliegen, wenn nur noch in zweien davon Gas wäre. Selbst mit einem könnten wir eine Notlandung zustande bringen. Aber es könnte unsere Manövrierfähigkeit beeinträchtigen.«
Er schien noch mehr sagen zu wollen, stoppte aber plötzlich und ging mit gerunzelter Stirn den Weg zurück, bis er direkt unter dem schlaffen Riesensack stand. Der Riß, durch den Indiana Jones sich ins Freie gearbeitet hatte, klaffte wie eine gewaltige Wunde mit ausgefransten Rändern direkt über seinem Kopf. Aber das war es nicht, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Plötzlich faßte er nach unten, tastete über den silberfarbenen Stoff und schien irgend etwas zu finden. Indiana konnte nicht genau erkennen, was es war, aber Lestrade steckte den Arm durch den Riß, suchte einen Moment im Inneren des zerstörten Tanks herum und nahm dann etwas heraus, das er eine Sekunde stirnrunzelnd betrachtete und dann mit einer raschen Bewegung in der Tasche verschwinden ließ.
«Was haben Sie gefunden?«fragte Indiana neugierig, als Lestrade zurückkam.
Der Colonel antwortete nicht, sondern trat wortlos an ihm vorbei und begann die Eisenleiter hinaufzusteigen. Indiana blickte ihm ärgerlich nach und machte sich schließlich als letzter auf den Weg nach oben.
Die schmale Treppe begann bedrohlich unter ihrem Gewicht zu ächzen und hin und her zu wanken, als Indiana Jones, Colonel Lestrade, die beiden Dänen, Bates, Morton, Browning sowie der Soldat, der sie abgeholt hatte, sich dem klaffenden Loch am Rumpf des Schiffes näherten. Der enge Gang war nicht für solche Belastungen ausgelegt. Und Indianas eigene Erfahrungen mit diesem Schiff waren nicht von der Art, die ihn allzuviel Vertrauen in dessen Haltbarkeit setzen ließen.
«Hier, Sir. «Der Soldat hob seinen Handscheinwerfer und ließ den Strahl wie einen Zeigestab über die Ränder des Loches gleiten. Dicht neben der klaffenden Wunde im Rumpf der Dragon hatte jemand etwas in zehn Zentimeter großen, zittrigen Buchstaben auf die Wand gemalt.
«Odin!« murmelte Lestrade.
Indiana Jones sah verwirrt auf.»Was haben Sie gesagt?«
«Odin!«wiederholte Lestrade und deutete mit der Hand auf die krakeligen Buchstaben.»Das steht dort.«
Er trat einen Schritt näher, und auch Indiana beugte sich neugierig und beunruhigt zugleich vor. Lestrade streckte zögernd die Hand aus, berührte einen der Buchstaben mit dem Finger und führte diesen dann vorsichtig an die Lippen. Er wurde blaß, als er behutsam daran kostete.»Das ist… Blut!«murmelte er erschüttert.
«Aber was, um alles in der Welt, soll das bedeuten?«stammelte Morton verwirrt.»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«
Plötzlich fuhr Indiana zusammen, seine Augen weiteten sich.»Doch«, sagte er.»Das ergibt sehr wohl einen Sinn!«
Und damit fuhr er auf der Stelle herum und stürmte über den wankenden Steg zurück, so schnell er konnte. Lestrade und Browning sahen ihm verstört nach, aber zumindest Bates — und nach einer weiteren Sekunde auch Morton — schien zu begreifen, was er meinte, denn sie folgten ihm schnell.
Indiana raste die Planke hinunter, erreichte die Leiter und kletterte hinab. Grob stieß er einen Soldaten beiseite, der ihm nicht schnell genug den Weg freimachte, rannte auf die Klappe zu und sprang, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, in die Passagiergondel der Dragon zurück.
Hinter sich hörte er Morton und dann auch Lestrade rufen, aber er achtete nicht darauf, lief im Gegenteil nur noch schneller, bis er die Kabine van Heslings erreichte.
Sie war abgeschlossen. Indiana verschwendete keine Zeit damit, nach dem Schlüssel zu suchen, sondern sprengte die dünne Sperrholztür kurzerhand mit der Schulter auf, taumelte in das winzige Zimmer und tastete blind nach dem Lichtschalter.
Die Kabine war vollkommen verwüstet. Was Indiana sah, als die Glühbirne unter der Decke aufflammte, das war ein Bild so völliger Zerstörung, daß er eine Sekunde einfach verblüfft stehenblieb und sich umsah: Alles, aber auch alles in diesem Raum war umgeworfen, zerbrochen, zerrissen, zerfetzt oder sonstwie zerstört worden. Selbst das Kopfkissen und die Bettwäsche waren in Stücke gerissen, so daß weiße Daunenfedern auf das Chaos herabgeschneit waren. An die Wand neben der Tür war mit roter Farbe ein Kreuz geschmiert, dessen oberer, kurzer Teil unvollständig war.
Hinter ihm drängten Morton und Bates in die Kabine und blieben ebenso verblüfft stehen wie er. Dann näherten sich hastige Schritte, und auch Lestrade und ein heftig keuchender Doktor Browning versuchten, sich an Indiana und den beiden anderen vorbei in die winzige Kammer zu drängen.
«Großer Gott!«rief Browning entsetzt.»Was ist denn hier passiert?«
Indiana kam nicht dazu, sofort zu antworten, denn in diesem Moment drängte sich eine schmale schwarzhaarige Gestalt zwischen den Männern hindurch und blieb mit einem unterdrückten Schrei unter der Tür stehen.
Doktor Rosenfelds Gesicht verlor alle Farbe, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie sah, in welchem Zustand sich van Hes-lings Kabine befand. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, starrte Indiana einen Moment lang fassungslos an und drehte sich dann hilflos um ihre Achse.»Wo… ist er?«
Indiana antwortete nicht. Aber vor seinem geistigen Auge entstand noch einmal das Bild des zerfransten Loches, das jemand in die Außenhülle der Dragon geschnitten hatte, und eines zittrigen, mit Blut an die Wand geschriebenen Wortes.
«Van Hesling?«murmelte Morton. Beinahe hilflos blickte er Indiana an.»Sie… Sie glauben, daß es van Hesling war, der mich…«
Indiana schüttelte grimmig den Kopf.»Nein«, sagte er überzeugt.»Das war nicht van Hesling.«
«Ich denke, Sie haben niemanden erkannt?«fragte Lestrade mißtrauisch.
«Aber ich bin ganz sicher, daß er es nicht war. Außerdem war er nicht allein. Dort oben waren zwei Männer«, erinnerte er.
«Was… hat das alles zu bedeuten?«stotterte Doktor Rosenfeld verstört.»Wo ist Professor van Hesling? Und was…«
Indiana wich ihrem Blick aus, schwieg eine Sekunde und wandte sich dann wieder an Morton und Lestrade.»Ich weiß zwar nicht, was wirklich passiert ist«, sagte er.»Aber ich kann Ihnen sagen, was wir glauben sollen. «Er hob die Hand und machte eine Geste in das verwüstete Zimmer hinein.»Irgend jemand wollte den Eindruck erwecken, daß Professor van Hesling durchgedreht ist und Kapitän Mor-ton überwältigt hat, um ihn dann nach oben zu bringen und über Bord zu werfen.«
«Das ergibt Sinn«, meinte Lestrade nachdenklich.»Wir haben Mor-tons Kapitänsmütze oben gefunden. Und es waren Blutflecke daran.«
«Und?«fragte Bates.»Morton hatte eine hübsche Platzwunde an der Stirn.«
«Aber sie wurde ihm hier beigebracht«, sagte Lestrade grimmig.»In van Heslings Kabine, Mister Bates. «Er schüttelte den Kopf.»Nein, ich fürchte, Doktor Jones hat völlig recht. Professor van Hes-ling hat Morton nicht niedergeschlagen und dort hinaufgebracht. Aber irgend jemand wollte, daß wir das glauben. Und ich glaube sogar zu wissen, wer.«
«Wer?«fragten Indiana, Browning und Doktor Rosenfeld wie aus einem Mund.
Aber Lestrade antwortete nicht, sondern fuhr statt dessen auf der Stelle herum und lief mit langen Schritten in den Aufenthaltsraum zurück.
Die beiden deutschen Offiziere saßen unverändert dort. Von Ludolf redete heftig auf Loben ein, der mit steinernem Gesicht aus dem Fenster blickte, brach aber mitten im Wort ab, als Lestrade, dicht gefolgt von Indiana und den anderen, in den Raum stürmte.
Lestrade baute sich herausfordernd vor den beiden deutschen Majoren auf und blickte von Ludolf und Loben eine Sekunde lang durchdringend an, ehe er mit ausdrucksloser Stimme fragte:»Major von Ludolf, dürfte ich Sie bitten, mir Ihr Messer zu zeigen?«
Von Ludolf sah den Colonel einen Moment lang mit ehrlicher Überraschung an, zuckte dann aber mit den Schultern und griff sich an den Koppel. Er runzelte die Stirn. Verwirrt senkte er den Blick, sah an sich herab und meinte:»Es ist nicht da.«
«Das hätte mich auch gewundert«, sagte Lestrade grimmig. Und damit griff er in seine Tasche und zog ein gut dreißig Zentimeter langes, wuchtiges Messer mit dunkelgrünem Griff heraus, das er so wuchtig vor den beiden Deutschen auf den Tisch knallte, daß Loben erschrocken zusammenfuhr.
«Ich nehme an, das hier ist Ihr Messer«, rief er.
Von Ludolf griff nach dem Messer, drehte es zwei-, dreimal in der Hand und zuckte schließlich mit den Schultern.»Das ist ein normales Wehrmachtsmesser«, sagte er.»Es gehört zu meiner Uniform. Spricht irgend etwas dagegen, daß ich es an Bord trage?«
«Nein«, antwortete Lestrade.»Solange Sie es in Ihrem Gürtel stecken lassen, nicht.«
«Wo haben Sie es gefunden?«fragte von Ludolf.
«Bitte, Herr Major, ersparen Sie sich und uns dieses unrühmliche Theater. Sie wissen besser als ich, wo ich dieses Messer gefunden habe.«
«Nein, das weiß ich nicht«, antwortete von Ludolf.
Lestrade seufzte.»Dann werde ich es Ihnen erklären, wenn Sie es vorziehen, weiter zu leugnen, statt wie ein Mann zu dem zu stehen, was Sie getan haben. «Er deutete anklagend auf das Messer.»Das ist die Waffe, die jemand nach Doktor Jones geworfen hat. Ich habe sie in dem zerstörten Gastank gefunden, in den er gestürzt ist.«
Von Ludolf sah plötzlich sehr hilflos drein. Aber er wirkte kein bißchen schuldbewußt, fand Indiana. Erschrocken, ja, und auch völlig überrascht — aber nicht so wie ein Mann, der sich irgendwie ertappt fühlt.
«Ich schwöre Ihnen, ich habe keine Ahnung, wie dieses Messer dort hinaufkommt«, sagte er.»Es muß mir gestohlen worden sein.«
Lestrade machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Er trat zwei Schritte zurück, gab den beiden Soldaten hinter sich einen entsprechenden Wink und sagte:»Major von Ludolf, Major Loben, ich erkläre Sie für verhaftet. Bitte übergeben Sie meinen Männer Ihre Waffen.«
«Verhaftet?«krächzte von Ludolf erschüttert.»Aber warum denn, um Gottes willen?«
Lestrade schürzte abfällig die Lippen.»Warum? Nun, wegen versuchten Mordes an Doktor Indiana Jones und Mister Bates, versuchten Mordes an Kapitän Morton und höchstwahrscheinlich vollendeten Mordes an Professor van Hesling.«