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Nur unter Klüver, Breitfock und Marssegeln steuerte die Destiny die Insel mit dem grünen Buckel an. Es wehte eine so leichte Brise, daß sie nur im Schneckentempo vorankamen — ein Eindruck, der sich noch verstärkte, als sie sich dem schmalen Vorland näherten.
Der Ausguck hatte die Insel am Abend vorher bei Anbruch der Dunkelheit entdeckt; bis zur Morgendämmerung überschlugen sich auf den nächtlichen Wachen, in der Messe wie in den Quartieren der Mannschaften die Vermutungen.
Jetzt lag das Inselchen im hellen Licht des Vormittags genau vor ihrem Bug und flimmerte im leichten Dunst, als könne es jeden Augenblick wieder wie ein Trugbild verschwinden. Zur Mitte hin stieg das Terrain an und war mit Palmenwald und sonstigem Grün bedeckt, während die Abhänge und der kleine, halbmondförmige Strand keinerlei Deckung boten.
«Gerade sechs Faden!»
Der Ruf des Lotgasten in den Rüsten machte Bolitho auf die nahen Untiefen aufmerksam. An Steuerbord gab es offenbar ein vorgelagertes Riff. Einige Seevögel schaukelten auf dem Wasser oder umkreisten neugierig die Mastspitzen. Bolitho sah Dumaresq mit Palliser und dem Master beraten. Die Insel war auf der Seekarte eingetragen, aber ohne Hinweis auf den Besitzanspruch einer Nation. Die nautischen Angaben waren nur spärlich, und Dumaresq bedauerte wohl schon seinen impulsiven Entschluß, sie anzusteuern, um nach Wasser suchen zu lassen. Aber sie waren bei den allerletzten Wasserfässern angekommen, und auch deren Inhalt war so ekelhaft, daß Bulkley und der Zahlmeister sich zu einem gemeinsamen Vorstoß beim Kommandanten entschlossen hatten; er möge für baldigen Ersatz sorgen, und sei es auch nur so viel, daß es gerade bis zu ihrem Bestimmungsort reichte.
«Sieben Faden!»
Gulliver erlaubte sich ein leichtes Aufatmen, da der Kiel wieder über tieferes Wasser glitt. Doch das Schiff stand immer noch zwei Kabellängen vom Strand entfernt. Wenn der Wind zunahm und gleichzeitig die Richtung änderte, konnte die Destiny bei dieser geringen Wassertiefe und bei so wenig Platz für ein Freisegeln von dem ausgedehnten Riff noch immer in Schwierigkeiten geraten.
«Fünf Faden!»
Dumaresq gab Palliser ein Zeichen.»Aufschießen und klar zum Ankern!»
Mit Segeln, die in der großen Hitze kaum killten, drehte die Destiny träge im tiefblauen Wasser, bis der Befehl:»Fallen Anker!«über Deck gellte. Das Eisen klatschte hinab, und um seine Einschlagstelle im glatten Wasser bildeten sich Wellenkreise, die immer weiter vom Bug wegliefen, während heller Sand vom Grund aufwirbelte.
Vom Augenblick des Ankerns an schien die Hitze noch zuzunehmen; als Bolitho aufs Achterdeck ging, sah er Egmont und seine Frau nahe der Heckreling unter einem Sonnensegel stehen, das George Durham, der Segelmacher, für sie aufgeriggt hatte.
Dumaresq studierte die Insel sorgfältig durch das große Fernrohr des Signalfähnrichs.»Kein Rauch oder Zeichen von menschlichem Leben«, stellte er fest.»Auch am Strand kann ich keine Spuren entdecken, zumindest auf dieser Seite der Insel gibt es keine Boote. «Er reichte Palliser das Glas.»Der Hügel sieht vielversprechend aus, eh?»
Gulliver meinte vorsichtig:»Da könnte es Wasser geben, Sir.»
Dumaresq beachtete ihn nicht, sondern wandte sich an seine beiden Passagiere.»Das wäre vielleicht eine Gelegenheit, sich die Beine an Land zu vertreten, bis wir wieder ankerauf gehen. «Er hatte beide angesprochen, doch Bolitho spürte, daß seine Worte an die Frau gerichtet waren.
Er dachte an den Augenblick, als sie zu ihm an Deck gekommen war. Er war so kurz, aber kostbar gewesen. Und gefährlich, aber gerade darum besonders erregend.
Sie hatten nur wenige Worte gewechselt. Den ganzen folgenden Tag hatte Bolitho daran gedacht, es noch einmal durchlebt und sich jeden Augenblick in Erinnerung gerufen, um nichts davon zu vergessen.
Er hatte sie an sich gezogen, während das Schiff ins erste matte Licht des frühen Tages hineinpflügte, hatte ihr Herz an dem seinen schlagen gespürt und sie noch enger an sich pressen wollen, aber gleichzeitig befürchtet, daß seine Kühnheit alles zerstören könnte. Sie hatte sich aus seinen Armen befreit und ihn leicht auf den Mund geküßt, bevor sie mit den letzten Schatten auf dem Achterdeck verschmolz und ihn allein ließ.
Als Dumaresq jetzt so vertraulich von» Beine vertreten «mit ihr sprach, durchschoß es Bolitho wie ein Pfeil der Eifersucht, die er bisher nicht gekannt hatte.
Dumaresq weckte ihn aus seinen Gedanken auf.»Sie werden ein Landekommando führen, Mr. Bolitho. Stellen Sie fest, ob es einen Bach oder brauchbaren Tümpel in den Felsen gibt. Ich warte auf Ihr Signal.»
Er ging nach achtern, und Bolitho hörte ihn wieder mit Egmont und Aurora sprechen.
Bolitho zitterte. Er merkte, daß Jury ihn beobachtete, und glaubte einen Augenblick, er habe Auroras Namen wieder laut vor sich hin gesprochen.
Palliser fuhr ihn an:»Setzen Sie sich endlich in Bewegung! Wenn es kein Wasser gibt, wüßten wir es gern möglichst bald.»
Colpoys lehnte lässig am Besanmast.»Ich kann ein paar meiner Leute zum Schutz mitschicken, wenn Sie wollen.»
Aber Palliser bellte:»Zum Teufel, wir bereiten uns auf keine Feldschlacht vor!»
Der Kutter wurde ausgeschwungen und längsseits zu Wasser gebracht. Stockdale, der zum Geschützführer befördert worden war, hatte bereits einige Leute abgeteilt, während der Bootssteurer ein paar Taljen zur Übernahme der Wasserfässer verstauen ließ.
Bolitho wartete, bis alle Leute im Boot waren, und meldete es Palli-ser. Er sah, daß Aurora ihn beobachtete. Die Art, wie ihre Hand auf dem Halsschmuck ruhte, sollte ihn vielleicht daran erinnern, daß seine Hand vor gar nicht langer Zeit dort geruht hatte.
Palliser sagte:»Nehmen Sie eine Pistole mit und feuern Sie einen Schuß ab, wenn Sie Wasser finden. «Er kniff die Augen gegen das starke Sonnenlicht zusammen.»Und wenn die Fässer endlich gefüllt sind, können sich die Leute etwas anderes zum Nörgeln suchen!»
Der Kutter stieß von der Bordwand ab. Als sie den Schatten der De-stiny verließen, spürte Bolitho die stechende Sonne im Nacken.»Rudert an!»
Bolitho ließ einen Arm außenbords hängen, fühlte die angenehme Kühle des Wassers und bildete sich ein, Aurora wäre bei ihm, schwämme neben ihm und laufe dann Hand in Hand mit ihm den weißen Strand hinauf, um einander das erstemal zu entdecken. Als er über das Dollbord schaute, sah er unter sich ganz klar den
Meeresgrund: weiße Steine oder Muscheln, dazwischen einzelne Korallenstöcke, die in dem schimmernden Licht trügerisch harmlos aussahen.
Stockdale sagte zum Bootssteurer:»Sieht aus, als wäre hier noch nie jemand gewesen, Jim.»
Der Mann ließ die Pinne los und nickte ihm zu, und diese Bewegung genügte, um ein Rinnsal von Schweiß unter seinem geteerten Hut herabfließen zu lassen.
«Auf Riemen! Bugmann, Riemen ein!»
Bolitho beobachtete, wie der Schatten des Kutters unter ihnen anstieg und mit dem Rumpf zusammenfloß, als der Bugmann über Bord sprang und das Boot auf den Sand zog. Die Kuttergäste holten ihre Riemen ein und hockten einige Zeit keuchend wie alte Männer auf ihren Duchten.
Dann herrschte völlige Stille. Weit weg schlug leichte Brandung gegen ein Riff, und um den Kutter gurgelte das Wasser in stetem Auf und Ab. Kein Vogel stieg von den Palmenhainen auf, nicht einmal ein Insekt.
Bolitho kletterte über das Dollbord und watete zum Strand. Er trug offenes Hemd und Kniehose, aber ihm war, als sei er in einen dicken Pelz gehüllt. Der Wunsch, seine ramponierte Kleidung abzuwerfen und sich nackt in die See zu stürzen, mischte sich mit seinen Phantasien über Aurora. Er fragte sich, ob sie ihn wohl vom Schiff aus durch ein Fernrohr beobachtete.
Doch dann fiel Bolitho plötzlich ein, daß die Männer auf einen Befehl von ihm warteten.
Er sagte zum Bootssteurer:»Sie bleiben mit den Kuttergästen beim Boot. Vielleicht müssen Sie noch mehrmals hin und zurück pullen. «Und zu Stockdale sagte er:»Wir klettern mit den übrigen Männern den Hang hinauf. Das ist der kürzeste Weg und wohl auch der kühlste.»
Er ließ den Blick über das kleine Landekommando wandern. Zwei Leute stammten von der Besatzung der Heloise und hatten inzwischen ihren Eid für den Dienst in der Marine Seiner Majestät geleistet. Noch etwas benommen von dem plötzlichen Wechsel in ihrem Leben, waren sie doch so gute Seeleute, daß sie bisher nicht mit den härteren Seiten des Bootsmanns Bekanntschaft geschlossen hatten.
Außer Stockdale war kein Mann von Bolithos eigener Division in der Gruppe, und er schloß daraus, daß an Bord wenig Begeisterung für den Ausflug auf eine unbewohnte Insel vorhanden gewesen war. Falls sie Wasser fanden, würde sich das schnell ändern.
Stockdale befahl:»Mir nach!»
Bolitho arbeitete sich den Hang hinauf. Seine Füße versanken in losem Sand, die Pistole im Gürtel brannte ihm auf der Haut wie glühendes Eisen. Seltsam, dachte er, wie sie hier auf diesem unbekannten Stückchen Erde herummarschierten. Sie konnten auf alles mögliche stoßen, auch auf die Knochen von schiffbrüchigen Seeleuten oder von Piraten Ausgesetzten, die ohne Hoffnung auf Rettung umgekommen waren.
Wie einladend ihnen die Palmwedel zuwinkten! Sie bewegten sich ganz leicht, und beim Näherkommen konnte man sie rauschen hören. Einmal hielt Bolitho an und schaute zum Schiff zurück. Es schien sich sehr weit weg über seinem Spiegelbild zu wiegen. Auf diese Entfernung hatte es seine kühnen Linien verloren. Seine Rahen und lose aufgebundenen Segel schwangen leicht hin und her und schienen im Dunst zu verschmelzen.
Die kleine Gruppe Seeleute war dankbar, als sie endlich in den Schatten einiger Palmen gelangte. Allerlei Laubwerk hakte sich mit scharfen Rändern in ihre zerlumpten Hosen, und sie atmeten den intensiven Duft von faulendem Unterholz und grell gefärbten Blüten.
Bolitho sah hoch über sich einen Fregattvogel kreisen. Seine wie Türkensäbel geschwungenen Flügel machten keine Bewegung, da er vom heißen Aufwind über der Insel getragen wurde. Also waren sie doch nicht völlig allein hier.
Ein Mann rief plötzlich aufgeregt:»Sehen Sie da drüben, Sir! Wasser!»
Jetzt drängten sie vorwärts, alle Müdigkeit war vergessen.
Bolitho starrte ungläubig in den Tümpel. Er schien leicht bewegt, also mußte es irgendwo einen unterirdischen Zufluß geben. Palmen spiegelten sich in seiner Oberfläche, und Bolitho sah auch seine Männer, die auf das Wasser hinunterblickten, nur als Spiegelbilder.
Er sagte:»Ich werd's mal probieren.»
Er kletterte das sandige Ufer hinunter und tauchte eine Hand ins Wasser. Sicher täuschte ihn der Eindruck, aber es fühlte sich an wie ein kühler Gebirgsbach. Er führte etwas in der hohlen Hand an die Lippen und probierte nach kurzem Zögern einen Schluck. Dann sagte er erleichtert:»Es ist trinkbar!»
Bolitho sah, wie seine Seeleute sich niederwarfen, das Wasser über Gesichter und Schultern schöpften und immer wieder gierig davon tranken. Auch Stockdale wischte sich befriedigt den Mund.
«Wir wollen uns einen Augenblick ausruhen und dann dem Schiff Signal geben«, entschied Bolitho.
Die Seeleute zogen ihre breiten Entermesser aus dem Gürtel und steckten sie in den Sand, bevor sie sich unter den Palmen ausstreckten oder sich erneut über das schimmernde Wasser beugten.
Bolitho hielt sich etwas abseits; als er seine Pistole untersuchte, ob auch kein Sand oder Wasser hineingeraten war, dachte er an den Augenblick, als Aurora zu ihm aufs Achterdeck gekommen war. Es durfte damit nicht zu Ende sein!
«Stimmt etwas nicht, Sir?«Stockdale kam schwerfällig den Abhang hoch.
Bolitho nahm an, daß er recht finster vor sich hingeblickt hatte.»Alles in Ordnung.»
Es war unheimlich, wie Stockdale immer zu wissen schien, wann er gebraucht wurde. Bolitho sprach gern mit dem riesigen rauhen Preisboxer, und dem ging es ebenso, aber es geschah ohne jeden Anflug von Unterwürfigkeit oder um sich Vorteile zu verschaffen.
Bolitho sagte:»Gehen Sie zum Boot und geben Sie Signal. «Er sah die Pistole fast in Stockdales großer Faust verschwinden.»Ich muß noch über etwas nachdenken.»
Stockdale sah ihn ruhig an.»Sie sind noch jung, Sir. Ich bitte um Vergebung, aber Sie sollten so lange jung bleiben, wie Sie können.»
Bolitho wußte nie so ganz, was Stockdale mit seinen kurzen, zögernden Sätzen meinte. Wollte er andeuten, daß er sich von einer Frau fernhalten solle, die zehn Jahre älter war? Darüber wollte Bolitho nicht nachdenken. Sie lebten heute und verlangten nach einander. Über die Konsequenzen konnten sie sich später Sorgen machen.
Er sagte:»Nun machen Sie, daß Sie wegkommen. Ich wünschte, es wäre alles so einfach, wie Sie glauben.»
Stockdale zuckte die Schultern und machte sich auf den Weg zum Strand hinunter, doch an seiner Haltung konnte Bolitho ablesen, daß der Fall für ihn noch nicht erledigt war.
Seufzend ging Bolitho zurück zum Tümpel, um seine Leute auf Stockdales Signalschuß vorzubereiten. Seeleute, die gewohnt waren, an Bord an allem teilzuhaben, wurden an Land bei solchen Gelegenheiten leicht nervös.
Ein Matrose, der vornübergebeugt mit dem Gesicht halb unter Wasser am Ufer lag, stand auf, als Bolitho sich näherte. Er lachte fröhlich, als ihm kleine Rinnsale über den Hals rannen.
Bolitho sagte:»Macht euch fertig, Leute…«Aber mitten im Satz brach er ab, als jemand einen schrecklichen Schrei ausstieß und der Matrose, der ihn eben noch angelacht hatte, vornüber in den Tümpel stürzte.
Urplötzlich war die Hölle los. Die meisten Seeleute krochen im Sand und suchten ihre Waffen, während andere entsetzt auf den im Tümpel Treibenden starrten, um den sich das Wasser rot färbte. Zwischen seinen Schulterblättern stak ein Speer.
Bolitho fuhr herum und sah, geblendet vom Sonnenlicht, schattenhafte Gestalten mit blitzenden Waffen auf sich zustürmen, hörte furchteinflößendes Geschrei aus vielen Kehlen, bis sich ihm vor Entsetzen die Nackenhaare sträubten.
«Männer — Achtung!»
Er griff nach seinem Säbel, zuckte aber zusammen, als ein weiterer Matrose Blut spuckend den Abhang hinunterrutschte und dabei versuchte, sich einen primitiv gefertigten Pfeil aus dem Leib zu ziehen.
«O Gott!«Bolitho mußte die Augen vor der Sonne beschatten. Ihre Angreifer hatten sie im Rücken. Sie kamen den in wilder Flucht da-vonrennenden Matrosen immer näher, wobei ihr schrecklicher Kriegsruf es ihm unmöglich machte, klar zu denken oder zu handeln.
Bolitho erkannte, daß es Neger waren. Ihre Augen und Münder waren im Triumph weit aufgerissen, als sie einen weiteren Matrosen niederschlugen und sein Gesicht mit einem Korallenbrocken zu blutigem Brei zerstampften.
Bolitho warf sich den Angreifern entgegen, wobei ihm mehr im Unterbewußtsein klar wurde, daß sich weitere Eingeborene hinter ihn drängten, um ihn von seinen Leuten zu trennen. Er hörte jemand aufschreien und um Gnade flehen, dann das widerliche Geräusch, mit dem ein Schädel gespalten wurde wie eine Kokosnuß.
Mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, schlug er verzweifelt um sich, vergeudete dabei seine Kräfte und vernachlässigte die Deckung gegen diese im Feuer gehärteten Wurfspeere.
Drei seiner Leute, von denen einer am Bein verwundet war, hielten noch stand, waren von heulenden, erbarmungslos auf sie einschlagenden Gestalten umzingelt.
Er stieß sich vom Baum ab, hackte in eine schwarze Schulter und rannte über den zerstampften Sand, um zu den Eingekreisten zu stoßen.
Einer schrie ihm zu:»Hat keinen Zweck! Wir können die Schurken nicht aufhalten!»
Bolitho fühlte, daß ihm der Säbel aus der Hand geschlagen wurde, und merkte mit Schrecken, daß er die Halteschnur nicht um sein Handgelenk geschlungen hatte.
Verzweifelt suchte er nach einer anderen Waffe, wobei er aus dem Augenwinkel sah, daß seine Leute das ungleiche Gefecht abbrachen und zum Strand rannten. Der Verwundete humpelte einige Schritte hinter ihnen her, bevor er eingeholt und niedergemacht wurde.
Bolitho hatte den schrecklichen Eindruck zweier starrer Augen und gefletschter Zähne, die einem der Wilden gehörten, die auf ihn eindrangen; er schwang ein Entermesser, das er aufgehoben hatte.
Bolitho duckte sich und versuchte, seitwärts auszuweichen. Dann kam der Schlag — zu stark, um zu schmerzen, zu mächtig, um seine Wirkung abzuschätzen.
Er wußte nur noch, daß er fiel, seine Stirn schien in Flammen zu stehen, und wie aus einer anderen Welt hörte er sich verzweifelt aufschreien. Und dann, gnädigerweise, fühlte er gar nichts mehr.
Als sein Bewußtsein schließlich zurückkehrte, war der Schmerz, der sich gleichzeitig einstellte, kaum zu ertragen.
Bolitho bemühte sich, die Augen zu öffnen, als könne er damit die Qual vertreiben, aber sie war so stark, daß sich sein ganzer Körper krümmte. Stimmen murmelten über seinem Kopf, doch durch seine halb zugequollenen Augen konnte er nur sehr wenig sehen: ein paar nebelhafte Gestalten und dunkle Decksbalken über ihm.
Ihm war, als würde sein Kopf langsam und methodisch zwischen zwei heiße Eisen gepreßt und sein mürbes Hirn mit spitzen Nadeln und Lichtblitzen gemartert.
Jemand wischte ihm Gesicht, Nacken und Körper mit kühlen Tüchern ab. Er war nackt, nicht gefesselt, wurde aber von Händen, die seine Hand- und Fußgelenke umspannten, festgehalten, damit er sich nicht bewegte.
Ein schrecklicher Gedanke ließ ihn plötzlich entsetzt aufschreien: außer am Kopf war er vielleicht noch an anderer Stelle verwundet, und sie trafen jetzt Vorbereitungen zur Amputation. Er hatte so etwas schon einmal mit angesehen: das Messer, das im schwachen Licht der Hängelampe aufblitzte und zu einem schnellen Rundumschnitt niederfuhr. Und dann die Säge.
«Ruhig, Junge!»
Das war Bulkley, und die Tatsache, daß er da war, beruhigte Bolitho irgendwie. Bolitho bildete sich ein, den Arzt zu riechen: seinen typischen Duft nach Branntwein und Tabak.
Er versuchte zu sprechen, doch seine Stimme war nur ein heiseres Wispern.»Was ist passiert?»
Bulkley schaute über die Schulter, wobei sein eulenhaftes Gesicht mit den kleinen Brillengläsern wie eine Blase in der Luft zu hängen schien.
«Sparen Sie Ihre Kräfte. Atmen Sie ruhig. «Bulkley nickte.»Schon besser.»
Bolitho knirschte mit den Zähnen, als sich der Schmerz erneut verstärkte. Am schlimmsten war es über dem rechten Auge, wo ein Verband saß. Seine Haare lagen fest an, waren wohl blutverklebt. Ein Bild formte sich undeutlich in seiner Erinnerung: zwei starre Augen, ein Entermesser, das auf ihn niedersauste. Versinken.
«Meine Männer — sind sie gerettet?«stammelte er.
Er spürte Uniformstoff an seinem nackten Arm und sah Dumaresq auf sich herabschauen, der aus diesem Blickwinkel noch grotesker wirkte. Seine Augen waren nicht mehr zwingend, sondern ernst.
«Die Bootscrew ist in Sicherheit. Zwei Leute aus Ihrer Gruppe haben sie gerade noch erreicht.»
Bolitho versuchte, den Kopf zu bewegen, doch irgend jemand hielt ihn fest.
«Und Stockdale, ist er.?»
Dumaresq lächelte.»Er hat Sie zum Strand getragen. Ohne ihn wären alle verloren gewesen. Das alles erzähle ich Ihnen aber später. Jetzt müssen Sie ruhen. Sie haben eine Menge Blut verloren.»
Bolitho fühlte, wie sich die Dunkelheit wieder über ihm schloß. Er hatte den kurzen Blickaustausch zwischen Dumaresq und dem Arzt bemerkt. Also war es noch nicht geschafft. Er konnte noch sterben. Diese Erkenntnis war fast zuviel für ihn, und er spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Er stöhnte:»Ich möchte… Destiny… nicht… verlassen. So… nicht.»
Dumaresq sagte:»Sie werden wieder gesund. «Er legte die Hand auf Bolithos Schulter, als wolle er etwas von seiner Kraft auf ihn hinüberfließen lassen.
Dann ging er, und Bolitho bemerkte zum erstenmal, daß er sich in der Heckkajüte befand und daß es hinter den hohen Fenstern stockdunkel war.
Bulkley beobachtete ihn.»Sie waren den ganzen Tag ohne Bewußtsein, Richard. «Dann drohte er ihm mit dem Finger.»Sie haben mir Sorgen gemacht, das muß ich schon sagen.»
«Dann sind Sie jetzt nicht länger in Sorge um mich?«Wieder versuchte er, sich zu bewegen, und wurde abermals von den Händen daran gehindert.
Bulkley machte sich noch einmal an dem Verband zu schaffen.»Ein Hieb mit dem Entermesser auf den Kopf ist kein Spaß. Ich habe getan, was ich konnte, alles übrige müssen wir der Zeit und guter Pflege überlassen. Es war ein Kampf auf Biegen und Brechen. Ohne Stock-dales Mut und seine Entschlossenheit, Sie zu retten, wären Sie tot. «Er schaute sich um, ob der Kommandant gegangen war.»Stockdale sammelte die restlichen Seeleute um sich, die mit dem Boot flüchten wollten. Er war wie ein wilder Stier, aber als er Sie an Bord trug, machte er das so zart wie eine Frau. «Er seufzte.»Dies war wohl die kostspieligste Trinkwasserergänzung in der Geschichte der Seefahrt.»
Bolitho fühlte, wie ihn Schläfrigkeit überkam, die selbst den Schmerz in seinem Schädel verdrängte. Bulkley hatte ihm wohl etwas eingegeben.
Er flüsterte:»Sie würden es mir sagen, wenn.»
Bulkley wischte sich die Hände ab.»Sicherlich. «Er blickte auf und fügte hinzu:»Sie sind in guten Händen. Wir werden gleich ankerauf gehen, also bemühen Sie sich zu schlafen.»
Bolitho versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Gleich ankerauf gehen? Dann waren sie den ganzen Tag hier gewesen. Und sie mußten Wasser bekommen haben. Dafür waren Männer gefallen. Auch hinterher, als Colpoys Seesoldaten die erschlagenen Matrosen gerächt hatten, dachte er.
Er sprach sehr langsam, da er wußte, daß die Worte nur undeutlich aus seinem Mund kamen.»Sagen Sie Auro. Sagen Sie Mrs. Egmont, daß.»
Bulkley beugte sich über ihn und zog seine Augenlider hoch.»Sagen Sie es ihr doch selber. Sie ist bei Ihnen, seit Sie an Bord gebracht wurden. Ich sage doch: Sie sind in guten Händen.»
Bolitho begriff endlich, daß sie neben ihm stand. Ihr schwarzes Haar hing ihr über die Schultern und glänzte im Lampenlicht.
Sie berührte sein Gesicht und streichelte seine Lippen, als sie mit weicher Stimme sagte:»Sie können jetzt schlafen, Leutnant. Ich bin hier.»
Bolitho fühlte, daß die Hände nachgaben, die seine Hand- und Fußgelenke gehalten hatten, und schloß daraus, daß der Arzt und seine Helfer sich zurückziehen wollten.
Er flüsterte matt:»Ich. wollte nicht, daß Sie mich so sehen, Aurora.»
Sie lächelte und sah dabei doch unendlich traurig aus.»Sie sind schön«, sagte sie.
Bolitho schloß die Augen; seine Kräfte schienen ihn endgültig zu verlassen.
Bulkley drehte sich an der Tür noch einmal um. Er hatte eigentlich geglaubt, an Schmerz oder Freude am Krankenbett gewöhnt zu sein, doch er war es offenbar noch nicht. Denn was er hier sah, bewegte ihn. Es glich einer Allegorie zum Thema >Die liebliche Frau beweint ihren gefallenen Helden<, dachte er. Er hatte Bolitho nicht belogen. Es war sehr knapp gewesen, denn das Entermesser hatte nicht nur eine tiefe Wunde über dem Auge in die Kopfhaut geschlagen, sondern auch die Schädeldecke darunter eingekerbt. Wäre Bolitho ein alter Mann gewesen oder das Enterme sser von einer geübten Hand geführt worden, hätte es das Ende bedeutet.
Aurora sagte:»Er ist eingeschlafen. «Aber sie sprach nicht zu Bulkley, sondern zu sich selbst. Sie nahm ihren weißen Schal ab und deckte ihn über Bolitho, als ob seine Nacktheit ebenso wie ihre Worte ihr ganz persönlicher Besitz wären.
In der anderen und wie gewohnt disziplinierten Welt der Destiny brüllte eine Stimme:»Anker ist los, Sir!»
Bulkley streckte eine Hand aus, um sich festzuhalten, als sich das Deck unter dem plötzlichen Druck von Wind und Ruder schräg legte. Er wollte in sein Krankenrevier gehen und einige Drinks zu sich nehmen. Er hatte keine Lust, die Insel in der Dunkelheit zurückbleiben zu sehen. Sie hatte ihnen frisches Wasser gewährt, aber als Gegenleistung einige Menschenleben genommen. Bolithos Gruppe am Tümpel war bis auf Stockdale und zwei andere Leute niedergemetzelt worden. Colpoys hatte gemeldet, daß die Wilden, die sie überfallen hatten, ehemalige Sklaven waren, die wahrscheinlich beim Transport geflüchtet waren.
Als sie Bolitho und seine Männer kommen sahen, hatten sie sicher geglaubt, er wolle Jagd auf sie machen. Sobald die Boote der Destiny auf den Pistolenschuß und die plötzliche Panik der Kutterbesatzung hin ans Ufer kamen, waren die Sklaven auch auf sie losgegangen. Colpoys hatte die Schwenkgeschütze und die Musketen auf sie gerichtet. Als der Pulverqualm sich verzogen hatte, war niemand mehr am Leben.
Bulkley machte auf der obersten Stufe des Niedergangs halt und lauschte dem Quietschen der Blöcke und dem Getrappel der nackten Füße, als die Matrosen an Schoten und Brassen holten, um ihr Schiff auf den richtigen Kurs zu bringen.
Für ein Kriegsschiff war dies nur ein kleines Zwischenspiel. Etwas, das man im Logbuch eintrug — bis zur nächsten Herausforderung, dem nächsten Kampf. Er warf einen Blick auf die hin und her pendelnde Hängelaterne und den rotröckigen Posten darunter.
Und doch, entschied er, gab es einige Dinge, für die es sich zu leben lohnte.