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Über Nacht schien die Insel Fougeaux geschrumpft zu sein, denn als das erste schwache Licht den Horizont erhellte, sah sie nicht viel größer aus als eine Sandbank, Steuerbord voraus von der Destiny.
Bolitho setzte sein Fernglas ab und ließ damit die Insel in den Schatten zurücksinken. Binnen einer Stunde würde er strahlendem Sonnenschein weichen. Er wandte dem Land den Rücken und marschierte langsam auf und ab. Das Schiff hatten sie schon während der Nachtwachen fast gefechtsklar gemacht. Die Seeleute kannten sich an Deck und rund um die Masten so gut aus, daß wenig übrigblieb, was sie erst bei Tageslicht erledigen konnten. Dumaresq hatte das mit der gleichen peinlichen Genauigkeit geplant wie alles, was er anpackte. Seine Männer sollten einsehen, daß der Kampf ebenso unvermeidbar war wie die Tatsache, daß einige von ihnen, wenn nicht gar alle, niemals wieder eine Fahrt mit der Destiny antreten würden. Es gab nur einen anderen Weg, und der war auf der Seekarte des Masters mit zweitausend Faden[15] eingezeichnet und führte senkrecht nach unten.
Dumaresq sorgte aber auch dafür, daß seine Leute so ausgeruht wie möglich waren, wenn sich der Feind zeigte, und nicht erschöpft von aufreibenden Gefechtsvorbereitungen.
Palliser erschien auf dem Achterdeck und sagte nach einem flüchtigen Blick auf Kompaß und Segel:»Ich hoffe, die Freiwache ist gleich fertig mit dem Frühstück?»
Bolitho antwortete:»Aye, Sir. Ich habe befohlen, daß die Köche das Kombüsenfeuer löschen, sobald sie fertig sind.»
Palliser ließ sich von Fähnrich Henderson ein Fernglas geben und unterzog die Insel einer sorgfältigen Prüfung.»Schreckliche Gegend!«Dann gab er Henderson das Glas zurück und sagte:»Hinauf mit Ihnen! Ich möchte unverzüglich Meldung, wenn Garrick sich anschickt, die Lagune zu verlassen.»
Bolitho sah zu, wie der Fähnrich die Webeleinen hochkletterte. Es wurde sehr schnell heller. Er konnte sogar schon die Ketten erkennen, mit denen der Bootsmann die Rahen gesichert hatte, und auch die Taljen und zusätzlichen Tampen, die an den Masten angeschlagen oder durch Blöcke geschoren waren, um später notwendige Reparaturen zu erleichtern.
Er fragte:»Glauben Sie, daß es heute zur Schlacht kommt, Sir?»
Palliser lächelte grimmig.»Der Kommandant ist sich dessen sicher, das genügt mir. Und Garrick wird wissen, daß er kämpfen und siegen muß, um dann zu verschwinden, bevor das Geschwader Verstärkung schickt.»
Undeutlich bewegten sich Gestalten auf dem Oberdeck und zwischen den Kanonen. Die schwarzen Rohre, die jetzt feucht von
Spritzwasser und nächtlichem Dunst waren, würden bald zu heiß zum Anfassen sein.
Unteroffiziere besprachen letzte Änderungen mit ihren Geschützbedienungen, die durch Abkommandierungen auf den eroberten Schoner oder durch Tod dezimiert waren.
Leutnant Colpoys stand mit seinem Sergeanten achtern an der Heckreling, während Matrosen über die Laufbrücken eilten und ihre Hängematten in den Finknetzen verstauten, als Kugelfang für diejenigen, die sich während des Gefechts auf dem Achterdeck aufhalten mußten. Das war ein besonders exponierter und gefährlicher Platz, aber lebenswichtig für jedes Schiff.
Midshipman Jury kam aufs Achterdeck und meldete:»Kombüsenfeuer ist gelöscht, Sir.»
Er sieht sehr jung und adrett aus, dachte Bolitho, als ob er sich extra fein gemacht hätte. Er lächelte.»Ein schöner Tag.»
Jury schaute den Mast hinauf und suchte Henderson.»Wir haben wenigstens den Vorteil der größeren Beweglichkeit, Sir.»
Bolitho warf ihm einen Blick zu und sah sich selber, wie er noch vor einem Jahr gewesen war.»Das ist richtig. «Es lohnte nicht hinzusetzen, daß der Wind nur noch eine schwache Brise war. Um wenden und halsen zu können, mußten die Segel gut ziehen. Wind und Leinwand waren das Lebenselement einer Fregatte.
Rhodes kam zum Achterdeck hoch und studierte neugierig den schmutzigen kleinen Fleck Land vor ihrem Steuerbordbug. Er trug seinen besten Säbel, den er von seinem Vater geerbt hatte. Bolitho dachte an den alten Säbel, den sein Vater immer trug. Er war auf allen Familienporträts in Falmouth zu sehen und würde eines Tages seinem Bruder Hugh gehören, sogar sehr bald schon, wenn sein Vater endgültig heimkehren würde.
Er wandte Jury und Rhodes den Rücken zu. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß er Falmouth nie wiedersehen würde. Und zu seiner Verwunderung stellte er fest, daß er es widerspruchslos hinnahm.
Palliser kam zurück und befahl:»Sagen Sie Mr. Timbrell, daß er ein Jolltau an der Nock der Großrah anschlagen soll, Mr. Bolitho. «Er fing ihre erstaunten Blicke auf.»Nun?»
Rhodes zuckte verlegen mit den Schultern.»Tut mir leid, Sir, aber ich dachte, in einem Augenblick wie diesem…»
Palliser konterte:»In einem Augenblick wie diesem, meinen Sie wohl, kommt es auf eine Leiche mehr oder weniger auch nicht an?»
Bolitho schickte Jury zum Bootsmann und dachte an Spillanes Verrat. Er hatte reichlich Gelegenheit gehabt, Informationen zu sammeln und sie in Rio oder Basseterre an Land zu bringen. Der Schreiber des Kommandanten genoß — wie auch dessen Bootssteurer — mehr Bewegungsfreiheit als alle anderen Leute an Bord. Garrick mußte überall Agenten und Spione gehabt haben, sogar in der Admiralität, wo jemand jeden Schritt, um die Destiny auf den Weg zu bringen, verfolgt hatte. Als das Schiff klar zum Auslaufen in Plymouth lag, war Spilla-ne erschienen. Er hatte es leicht gehabt, die Wege von Dumaresqs Rekrutierungskommandos zu verfolgen. Er brauchte nur ihre Plakate zu lesen.
Jetzt liefen alle Fäden wie die Linien auf der Seekarte hier zusammen, als ob Gulliver diesen Platz eigens dafür markiert hätte. Es schien mehr vorherbestimmt als geplant zu sein.
Die meisten Männer an Deck schauten zur Bootsmannsgruppe auf, die eine Henkersschlinge von der Rahnock zur Laufbrücke fierten. Wie Rhodes hatten sie wenig Verständnis für eine Hinrichtung im Schnellverfahren. Das lag außerhalb ihres Begriffs von Gerechtigkeit.
Bolitho hörte einen der Rudergänger leise sagen:»Der Kommandant kommt, Sir.»
Bolitho wandte sich dem Niedergang zu, als Dumaresq, der ein frisches Hemd trug und seinen goldverbrämten Hut fest auf den Kopf gedrückt hatte, zum Achterdeck hochstieg.
Er nickte jedem seiner Offiziere und den Männern der Wache zu und sagte zu Colpoys, der sich bemühte, trotz seiner Wunde Haltung anzunehmen:»Schonen Sie Ihre Kräfte.»
Gulliver berührte seinen Hut:»Kurs Nord zu Ost, Sir. Wind ist noch immer ziemlich schwach.»
Dumaresq schaute ihn geistesabwesend an.»Das sehe ich. «Er wandte sich an Bolitho:»Lassen Sie die Leute bei sechs Glasen[16] zur Teilnahme an einem Strafakt achteraus kommen. «Er beobachtete, wie Bolitho sich bemühte, seine Gefühle zu verbergen.»Sie haben offenbar immer noch nicht gelernt, mich zu täuschen. Was bedrückt Sie — die Hinrichtung?»
«Ja, Sir. Es ist wie eine Vorahnung, ein Aberglaube. Ich — ich kann es nicht genauer ausdrücken.»
«Offensichtlich. «Dumaresq ging an die Querreling und schaute über das Oberdeck.»Dieser Mann versuchte, uns zu verraten, genau wie er sich bemühte, Murray zu vernichten. Murray war ein guter Mann, während. «Er brach ab, um einige Seesoldaten zu beobachten, die sich anschickten, im Vor- und Großmast aufzuentern.
«Ich hätte Murray gern noch einmal gesehen, bevor er uns verließ,
Sir.»
Dumaresq fragte scharf:»Warum?»
Bolitho war über Dumaresqs Reaktion erstaunt.»Ich hätte ihm gern gedankt.«»Oh, deswegen.»
Ein Ruf von Henderson ließ alle nach oben schauen.»An Deck! Ein Schiff läuft von der Insel aus, Sir!»
Dumaresq senkte das Kinn auf sein Halstuch.»Endlich. «Er sah Midshipman Merrett am Besanmast.»Laufen Sie hinunter und holen Sie die Kriegsartikel von meinem Steward. Wir wollen diese Angelegenheit hinter uns bringen und uns dann zum Gefecht bereitmachen.»
Er klopfte auf seine scharlachrote Weste und gab einen leisen Rülpser von sich.»Das war ein hübsches Stück Schweinefleisch. Und auch das Glas Wein wird helfen, den Tag richtig zu beginnen. «Er bemerkte Bolithos Unentschlossenheit.»Lassen Sie den Gefangenen holen. Ich möchte, daß er das Schiff seines Brotgebers sieht, bevor er an der Rah baumelt. Gott lasse ihn da verfaulen.»
Sergeant Barmouth stellte eine Reihe Seesoldaten quer auf der Hütte auf, und als die Bootsmannsmaaten» Alle Mann achteraus zum Strafakt «durch die Decks pfiffen, erschien Spillane, begleitet vom Wachtmeister und von Korporal Dyer.
Die Seeleute, die ihre Oberkörper schon zum Gefecht entblößt hatten, machten Platz, um die kleine Gruppe durchzulassen.
Unter der Querreling hielten sie an, und Poynter meldete:»Der Gefangene, Sir!»
Bolitho zwang sich, in Spillanes nach oben gerichtetes Gesicht zu schauen. Es war so völlig leer, als sei der gewöhnlich aufmerksame und gefaßte Mann nicht imstande, das Geschehen zu begreifen.
Bolitho erinnerte sich, wie Spillane mit Auroras Botschaft in seine
Kammer gekommen war, und fragte sich, wieviel davon er wohl Garrick berichtet hatte.
Dumaresq wartete, bis seine Offiziere die Hüte abnahmen, und sagte dann mit seiner volltönenden Stimme:»Sie wissen, warum Sie hier stehen, Spillane. Wenn Sie ein gepreßter Mann wären, den man gegen seinen Willen zum Dienst für den Krieg gezwungen hätte, wäre es anders. Aber Sie haben sich freiwillig gemeldet in der klaren Absicht, Ihren Diensteid zu brechen und alles zu tun, Ihr Schiff und Ihre Kameraden ins Verderben zu führen. Es war Verschwörung zum Mord. Schauen Sie da hinüber, Mann.»
Als Spillane sich nicht rührte und ihn nur anstarrte, sagte Dumaresq:»Wachtmeister!»
Poynter faßte das Kinn des Delinquenten und drückte es zum Bug.
«Das Schiff da drüben wird von Ihrem Herrn, Piers Garrick, befehligt. Schauen Sie es sich genau an, und fragen Sie sich selber, ob es den Verrat wert war.»
Doch Spillanes Blick blieb auf die im Wind schwingende Schlinge gerichtet. Es war zweifelhaft, daß er irgend etwas anderes sah.
«An Deck!«Hendersons normalerweise kräftige Stimme klang unsicher, als fürchte er sich, in das Drama unter ihm einzugreifen.
Dumaresq schaute auf.»Sprechen Sie, Mann!»
«Auf der San Augustin hängen Leichen an den Rahen, Sir!»
Dumaresq schnappte sich Jurys Fernglas und machte einen Sprung in die Wanten.
Langsam kam er wieder herunter an Deck und sagte:»Es sind die spanischen Offiziere des Schiffes. «Er warf einen kurzen Blick auf Bolitho.»Zur Warnung erhängt, zweifellos.»
Doch Bolitho hatte etwas anderes in Dumaresqs Augen gelesen, nur ganz kurz. Etwas wie Erleichterung, aber worüber? Was hatte er zu sehen erwartet?
Dumaresq kehrte an die Querreling zurück und setzte seinen Hut wieder auf. Dann sagte er:»Entfernen Sie das Jolltau von der Großrah, Mr. Timbrell. Wachtmeister, bringen Sie den Delinquenten nach unten. Er soll auf die gemeinsame Hinrichtung mit den anderen warten.»
Spillanes Beine schienen unter ihm nachzugeben. Er legte die Handflächen zusammen und sagte zerknirscht:»Ich danke Ihnen, Sir! Gott segne Sie für Ihre Güte!»
«Steh auf, verdammter Kerl!«Dumaresq sah mit Verachtung auf ihn hinab.»Erstaunlich, daß Männer wie Garrick andere Menschen so leicht korrumpieren können. Wenn ich Sie hänge, bin ich nicht viel besser als er. Aber hören Sie zu: Sie werden heute erleben, wie wir siegen, und das wird eine sehr viel härtere Strafe für Sie sein.»
Als Spillane weggeschleppt wurde, sagte Palliser sarkastisch:»Und wenn wir sinken, geht der Lump als erster auf den Meeresgrund.»
Dumaresq tippte ihm auf die Schulter:»Sehr wahr. Aber nun treffen Sie die letzten Vorbereitungen zum Gefecht, und zwar zwei Minuten schneller als üblich!»
«Schiff ist klar zum Gefecht, Sir!«Palliser faßte grüßend an seinen Hut, und seine Augen glänzten.»In genau acht Minuten.»
Dumaresq senkte sein Teleskop und warf ihm einen Blick zu.»Wir mögen knapp an Leuten sein, aber dafür setzt sich jeder doppelt ein.»
Bolitho stand unterhalb des Achterdecks und beobachtete scheinbar gelassen seine Geschützbedienungen an ihren Vorholtaljen. Das Warten war noch lange nicht vorüber.
Das noch fernab stehende Schiff hatte weitere Segel gesetzt und hob sich klar von der Insel ab; aber während die Destiny von der leichten Dünung sanft gewiegt wurde, schien die San Augustin bewegungslos dazuliegen wie ein Klotz. Würde sie abdrehen und flüchten? Dann bestand immerhin eine Chance für ihre Heckgeschütze, die sie verfolgende Destiny mit einem Glückstreffer außer Gefecht zu setzen.
Fähnrich Henderson, von den Vorbereitungen tief unter seinem Ausgucksitz unberührt, hatte gemeldet, daß zwei weitere Segel aus der Lagune gekommen waren. Das eine war der Toppsegelschoner, und Bolitho fragte sich, warum Dumaresq so sicher war, daß Garrick sich auf dem großen Kriegsschiff befand und nicht auf dem Schoner. Vielleicht waren er und Dumaresq am Ende einander doch sehr ähnlich. Keiner wollte nur Zuschauer sein, jeder war darauf aus, einen schnellen und eindeutigen Sieg zu erringen.
Little ging langsam hinter der Steuerbordbatterie von Zwölfpfün-dern entlang, hielt gelegentlich an, um eine Talje zu kontrollieren oder um sicherzustellen, daß die Schiffsjungen die Decks ausreichend mit
Sand bestreut hatten, damit die Bedienungen später, wenn es heiß herging, nicht ausrutschten.
Stockdale stand an seiner Kanone und streichelte eine Zwölfpfundkugel, bevor er sie in das Kugelrack zurücklegte und eine andere herausnahm. Gegen seine mächtige Gestalt wirkten seine Männer wie Zwerge. Er macht das, als ob es ihm angeboren ist, dachte Bolitho, der diese Geste oft bei alten Geschützführern gesehen hatte. Sie wollten damit sicherstellen, daß die ersten Schüsse genau saßen. Nach den einleitenden Breitseiten kämpfte gewöhnlich jede Kanone für sich, und der Teufel sollte die letzten holen.
Er hörte Gulliver sagen:»Wir haben die Luvposition, Sir. Wir können immer noch Segel wegnehmen, wenn der Feind herankommt.»
Er redete wahrscheinlich nur, um seine innere Unruhe zu verbergen oder um einen Tip von seinem Komandanten zu bekommen. Aber Dumaresq blieb stumm, beobachtete seinen Gegner, blickte gelegentlich zum Wimpel im Masttopp auf oder musterte die träge Welle, die vom Bug der Destiny aufgeworfen wurde.
Bolitho schaute nach vorn, wo Rhodes mit Cowdroy und einigen seiner Geschützführer sprach. Das Warten nahm kein Ende. Es war so wie immer, aber er würde sich nie daran gewöhnen.
«Die Schoner haben angeluvt, Sir!»
Dumaresq grunzte:»Hängen sich an wie Schakale.»
Bolitho kletterte hoch, um über die Laufbrücke, die Vor- und Achterschiff über die Steuerbordbatterie hinweg miteinander verband, spähen zu können. Selbst hinter den vollgepackten Hängemattskästen und unter den waagrecht über das Batteriedeck gespannten Fangnetzen gab es nur wenig Schutz für die Seeleute, dachte er.
Beinahe am gefährlichsten war es auf den jetzt leeren Bootsständen. Bis auf Gig und Barkasse, die sie hinter sich herschleppten, hatten sie alle Boote treiben lassen. Im Gefecht waren herumfliegende Holzsplitter eine der größten Gefahren, und die Boote gaben ein verlockendes Ziel ab. Doch sie treiben zu lassen, drückte dem, was ihnen bevorstand, das Siegel der Endgültigkeit auf.
Henderson rief:»Die Leichen sind herunterholt worden, Sir. «Seine Stimme klang vor Anstrengung rauh.
Dumaresq sagte zu Palliser:»Gott strafe ihn.»
Palliser antwortete ruhig:»Vielleicht will er Sie nur wütend machen, Sir?»
«Mich provozieren?«Dumaresqs Ärger verflog.»Sie könnten recht haben. Himmel und Hölle, Mr. Palliser, Sie gehören ins Parlament und nicht in die Marine.»
Seekadett Jury stand, die Hände auf dem Rücken, und beobachtete das ferne Schiff. Den Hut hatte er so schief über die Augen gezogen, wie er es bei Bolitho gesehen hatte.
Er fragte plötzlich:»Werden sie versuchen, uns anzugreifen, Sir?»
«Wahrscheinlich. Sie sind uns zahlenmäßig überlegen. Nach dem, was wir auf der Insel gesehen haben, schätze ich, daß es zehn zu eins für sie steht. «Er sah Jurys Bestürzung und setzte leichthin hinzu:»Aber der Kommandant wird sie sich vom Leibe halten und sie langsam zermürben.»
Jury wandte ein:»Die beiden anderen Schiffe könnten gefährlich werden.»
«Der Toppsegelschoner vielleicht. Der andere ist zu leicht gebaut, um ein Nahgefecht mit uns zu riskieren.»
Bolitho überlegte, wie es jetzt ohne ihre verzweifelte Aktion auf der Insel um sie stünde. War das erst gestern gewesen? Es wären sechs Schoner gewesen statt zwei, und die vierundvierzig Kanonen tragende San Augustin hätte Zeit gehabt, noch zusätzliche Kanonen an Bord zu montieren, zum Beispiel die von der Hügelbatterie. Aber wie es auch ausging, der gekaperte Schoner würde Dumaresqs Bericht zum Admi-ral nach Antigua bringen. Für sie vielleicht zu spät, aber Garrick würde für den Rest seines Lebens ein gejagter Mann bleiben. Wie klar der Himmel war. Und es war noch nicht zu heiß. Die See sah sanft und einladend aus. Bolitho versuchte, nicht an damals zu denken, als er sich ausgemalt hatte, wie er mit Aurora im Wasser herumtollen und sie beide für immer glücklich miteinander leben würden.
Dumaresq sagte sehr laut:»Sie werden versuchen, uns zu entmasten und uns dann zu entern. Außerdem ist anzunehmen, daß der größte Schoner mit einigen schweren Kanonen bestückt ist. Darum muß jede unserer Kugeln sitzen. Denkt daran, daß drüben viele Kanoniere und Matrosen gefangene Spanier sind. Sie sind zwar von Garrick eingeschüchtert, werden aber kaum Lust haben, von uns zu Brei zerstampft zu werden.»
Seine Worte riefen zustimmendes Gemurmel bei den halbnackten Geschützbedienungen hervor.
Plötzlich hörten sie abgehacktes Geschützfeuer. Als Bolitho sich umwandte, sah er, wie die Steuerbordkanonen der San Augustin lange, orangefarbene Zungen ausspien, während Pulverqualm über das Schiff hinwegzog und die Insel dahinter teilweise verdeckte.
Die See schäumte und schoß himmelwärts, als ob sie vulkanisch aus der Tiefe hochgetrieben würde und nicht durch die Kanonenkugeln des stolzen Schiffes mit den roten Kreuzen auf seinen Großsegeln.
Stockdale sagte:»Ungenau.»
Einige Seeleute drohten dem Feind mit den Fäusten, obwohl das niemand auf die weite Entfernung sehen konnte.
Rhodes schlenderte nach achtern. Sein schöner Säbel paßte schlecht zu seiner abgetragenen Borduniform. Er meinte:»Er will sie wohl nur beschäftigen, was, Dick?»
Bolitho nickte. Rhodes hatte sicher recht, aber trotzdem ging von dem spanischen Schiff etwas sehr Bedrohliches aus, vielleicht wegen seiner ausgefallenen Schönheit, der Pracht seines vergoldeten Schnitzwerks, das selbst auf diese Entfernung zu erkennen war.
Er sagte:»Wenn bloß Wind aufkommen wollte!»
Rhodes zuckte die Achseln.»Wenn wir bloß in Plymouth wären!»
Der spanische Koloß spie eine weitere Breitseite aus, und einige Kugeln sprangen — scheinbar endlos lange — über die Wasseroberfläche.
Das Hohngeschrei war diesmal noch lauter, aber Bolitho bemerkte, daß einige der älteren Geschützführer besorgt dreinschauten. Das Eisen des Feindes fiel kurz und war auch seitlich nicht gut gerichtet, aber da beide Schiffe sich auf konvergierenden Kursen langsam aufeinander zubewegten, würde jede Salve gefährlicher werden.
Er dachte an Bulkley und seine Gehilfen, wie sie im halbdunklen Orlopdeck standen, die blanken Instrumente vor sich, dazu die Branntweinflasche, die den Schmerz betäuben, und den Lederknebel, der verhindern sollte, daß der Patient sich die Zunge durchbiß, wenn die Säge des Chirurgen ihre Arbeit tat.
Und er dachte an Spillane in der Arrestzelle unterhalb der Wasserlinie. Was mochte er empfinden, wenn der Geschützdonner gegen die Bordwände anrollte?
«Batteriedeck, Achtung!«Palliser blickte auf die doppelte Reihe Kanonen herab.»Zurückholen und laden!»
Das war der große Augenblick. Mit äußerster Konzentration wachte jeder Geschützführer darüber, daß seine Männer ihr volles Gewicht an die Taljen hängten und ihre Kanone von der Bordwand zurückzogen.
Massige Kartuschen wurden schnell an die Mündung gereicht, von der Ladenummer eingeführt und anschließend vom Ansetzer weiter hineingeschoben.
Bolitho beobachtete den ihm am nächsten stehenden Mann, wie er der Kartusche noch zwei Extrastöße nachschickte, um sie ganz fest gegen das Bodenstück zu pressen. Sein Gesicht war dabei so gespannt, so völlig seiner Aufgabe hingegeben, als wolle er den Feind ganz allein besiegen. Dann kam der Ladepfropfen, gefolgt von einer glänzend schwarzen Kugel, die mit einem weiteren Ladepfropfen festgerammt wurde, damit sie nicht bei einer unerwarteten Schlingerbewegung des Schiffes harmlos wieder vorn heraus und ins Wasser rollte. Schließlich waren sie fertig.
Als Bolitho wieder hochschaute, schien das andere Schiff sehr viel näher gekommen zu sein.
«Fertig an Deck?»
Jeder Geschützführer zeigte mit einer Hand: klar.
Palliser rief:»Stückpforten öffnen!«Er wartete und zählte die Sekunden, als die Pfortendeckel sich an beiden Schiffsseiten wie Augenlider hoben.»Ausrennen!»
Die San Augustin feuerte schon wieder, aber da ihr Steuermann wohl gerade etwas abgefallen war, schlug die ganze Breitseite eine gute halbe Meile vor dem Bug der Destiny ins Wasser.
Rhodes marschierte hinter seinen Kanonen entlang, gab Anweisungen oder scherzte auch nur mit seinen Leuten; Bolitho konnte es nicht erkennen.
Die San Augustin stand nun an Backbord voraus, und ihr Kurs lief mit dem der Destiny in einem spitzen Winkel zusammen. Es war schwer, die Geschützbedienungen an ihrem Platz zu halten und zu verhindern, daß sie auf die andere Seite liefen, um nachzuschauen, was drüben los war.
Palliser rief:»Mr. Bolitho! Halten Sie sich bereit, Leute von Ihrer Batterie auf die andere Seite zu Hilfe zu schicken. Nach zwei Breitseiten werden wir nach Backbord halten und auch Ihren Kanonen eine Chance geben. «Bolitho hob die Hand.»Aye, Sir!»
Dumaresq befahl:»Kursänderung drei Strich nach Steuerbord.»
«An die Schoten und Brassen! Ruder nach Luv!»
Die Rahen schwangen herum, die Destiny folgte gehorsam dem Ruder; die San Augustin schien achteraus auszuwandern, als sie den geduckt hinter ihren Stückpforten wartenden Geschützführern ins Visier kam.
«Volle Erhöhung! Feuer!»
Die Zwölfpfünder rumpelten binnenbords und wurden von Brocktauen abgestoppt. Der Pulverqualm trieb leewärts in einer dichten Wolke auf den Feind zu.
«Stopft die Zündlöcher!«Rhodes bewegte sich jetzt viel schneller.»Wischt aus und ladet neu!»
Die Geschützführer mußten doppelt hart arbeiten, und mancher benutzte beide Fäuste, um die Nervosität seiner Leute zu bändigen. Wenn eine Kartusche in ein unausgewischtes Rohr gesteckt wurde, in dem noch glühende Reste der vorigen Kartusche steckten, bedeutete das einen schnellen und gräßlichen Tod.
Stockdale schlug auf den Verstärkungsring seiner Kanone.»Los, Jungs! Beeilung!»
«Rennt die Kanonen aus!«Palliser hielt sein Teleskop auf die Hängemattsnetze gestützt und beobachtete das andere Schiff.»Ziel auffassen! Geschützweise nach Sicht feuern!»
Diesmal kam die Breitseite unregelmäßig heraus, da jeder Geschützführer den für ihn günstigen Augenblick zum Abschuß abwartete. Aber bevor er den Einschlag seiner Kugel beobachten konnte, rannten schon wieder Matrosen an die Schoten und Brassen, da Gulliver seine Rudergänger zu neuer Kursänderung antrieb. Die Destiny lag jetzt so hoch am Wind, wie es ihr möglich war, ohne die Manövrierfähigkeit zu verlieren.
Bolitho hatte einen ganz trockenen Mund. Ohne es zu bemerken, hatte er seinen Säbel gezogen und gegen die Hüfte gedrückt. Das Deck der Destiny hatte sich schräg gelegt, und die Geschützführer sahen den goldverzierten Bugspriet der San Augustin jetzt langsam, aber stetig ins Blickfeld ihrer Stückpforten einwandern.
«In der Aufwärtsbewegung schießen!»
Aber vor ihnen spie die Bordwand der San Augustin erneut Feuer und Eisen mit orangefarbenen Zungen. Bolitho hörte das wilde Kreischen der Ketten- und Stangengeschosse, die über sie hinwegflogen. Er fand noch Zeit, Fähnrich Henderson zu bemitleiden, der oben auf der Bramsaling hockte und sein Fernrohr auf den Feind gerichtet hielt, während die mörderische Verbindung von Ketten und Eisenstangen an ihm vorbeirauschte. »Feuer!»
Bolitho beobachtete, wie die See um das andere Schiff aufbrauste und sein Großsegel flatterte, als ob es von mehr als einer Kugel durchschlagen worden sei.
Während seine Männer sich auf Handspaken und Ansetzer stürzten und nach Pulver und Kugeln schrien, und während das Getöse noch von Pallisers Stimme auf dem Achterdeck übertönt wurde, warf Bo-litho einen Blick auf den Kommandanten.
Er stand mit Gulliver und Slade neben dem Kompaß und zeigte auf den Feind, auf seine Segel und den davontreibenden Qualm, als ob das alles von ihm dirigiert würde. »Feuer!»
Kanone für Kanone rollten die Zwölfpfünder an der Steuerbordseite der Destiny binnenbords, und die Räder ihrer Lafetten quietschten dabei wie gequälte Schweine.
«Klar zur Kursänderung! Achtung, Mr. Rhodes! Backbordbatterie mit Doppelkugeln laden!»
Bolitho sprang beiseite, um vorbeirennenden Matrosen und Kommandos schreienden Maaten Platz zu machen. Der ständige kräftezehrende Drill auf der langen Überfahrt von Plymouth zahlte sich jetzt aus. Unabhängig davon, was die Kanonen machten, das Schiff mußte gehandhabt und manövrierfähig gehalten werden.
Wieder brüllten die Kanonen auf, diesmal mit einem anderen Ton, der durch Mark und Bein ging, denn die Rohre spien mit doppelter Treibladung je zwei Kanonenkugeln aus.
Bolitho wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken. Ihm war, als hätte er stundenlang in der Sonne gestanden. Tatsächlich war es aber kaum acht Uhr früh; erst eine Stunde, nachdem Spillane unter Deck geschickt worden war.
Dumaresq war mit der doppelten Ladung ein Risiko eingegangen, aber Bolitho hatte gesehen, daß sich die beiden Schoner nach Luv vorarbeiteten, um von achtern an die Destiny heranzukommen. Sie mußten schnellstens Treffer auf der San Augustin erzielen, und zwar entscheidende Treffer, um zumindest deren Bewegungsfähigkeit herabzusetzen.
Dumaresq rief:»Holt den Feuerwerker! Aber schnell!»
Bolitho zuckte zusammen, als Wassersäulen über der BackbordLaufbrücke zusammenschlugen und er einen heftigen Stoß gegen den Schiffsrumpf spürte. Mindestens zwei Treffer, vielleicht sogar an der Wasserlinie.
Aber der Bootsmann rief schon Befehle, und seine Leute rannten am Posten der Seesoldaten, der den Weg nach unten versperrte, vorbei, um den Schiffsrumpf zu untersuchen und jede Schadenstelle abzudichten.
Er sah den Feuerwerker wie eine Eule ins Tageslicht blinzeln und ärgerlich dreinschauen, daß man ihn aus seiner Pulverkammer geholt hatte, wenn auch auf Befehl des Kommandanten.
«Mr. Vallance!«Dumaresq grinste verschwörerisch.»Sie waren einmal der beste Geschützführer der Kanalflotte. Habe ich recht?»
Vallance rutschte in seinen Filzpantoffeln, die er in der feuerempfindlichen Pulverkammer tragen mußte, um beim Gehen keinen Funken zu erzeugen, hin und her.
«Das ist richtig, Sir. «Trotz des Lärms war er offenbar erfreut, daran erinnert zu werden.
«Gut. Ich möchte, daß Sie persönlich das Kommando über die beiden Buggeschütze übernehmen und es dem Toppsegelschoner richtig geben. Ich werde das Schiff auf den entsprechenden Kurs legen. «Leiser fügte er hinzu:»Sie müssen sich beeilen.»
Vallance schlurfte davon und zeigte im Vorbeigehen mit dem Daumen auf zwei Geschützführer in Bolithos Batterie. Vallance war tatsächlich der Beste in seiner Zunft der Feuerwerker und Stückmeister, auch wenn er gewöhnlich ein schweigsamer Mann war. Er brauchte keine weiteren Erklärungen von Dumaresq. Denn wenn die Destiny wendete, um die Schoner anzugreifen, bot sie ihre ganze Länge der feindlichen Breitseite.
Die Buggeschütze der Destiny waren Neunpfünder. Obwohl sie nicht so mächtig waren wie andere Marinegeschütze, hatten die Neun-pfünder den Ruf, am genauesten zu treffen.
«Feuer!»
Die Männer von Rhodes' Batterie wischten schon wieder die Rohre aus und glänzten vor Schweiß, der in schmalen Streifen über ihre von Pulverqualm geschwärzten Rücken rann.
Die Entfernung betrug weniger als zwei Meilen, und als Bolitho hochschaute, sah er mehrere Löcher im Großmarssegel und einige Matrosen, die schon dabei waren, durchschossenes Tauwerk zu ersetzen, während die Schlacht auf immer kleinerem Abstand weitertobte.
Vallance stand nun auf der Back, und Bolitho konnte sich vorstellen, wie sein ergrautes Haupt sich über den Neunpfünder an Backbord neigte.
Dumaresqs Stimme schnitt durch eine kurze Pause im Kanonendonner.»Wenn Sie soweit sind, Mr. Vallance, gehen wir fünf Strich nach Backbord. «Er ballte die Fäuste.»Wenn bloß mehr Wind aufkäme!«Um seine Unruhe zu bezwingen, verschränkte er die Hände wieder hinter dem Rücken.»Bramsegelschoten los!»
Augenblicke später drehte die Destiny, so gut es ihr bei den müde killenden Segeln möglich war, nach Backbord durch den Wind, und Sekunden darauf — so schien es wenigstens —, lagen die Schoner quer vor ihrem Bug.
Bolitho hörte den Abschuß des Backbord-Neunpfünders und dann den der anderen Seite, als Vallance feuerte.
Der Toppsegelschoner schien zu taumeln, als ob er vierkant auf ein Riff aufgelaufen wäre. Der vordere Mast brach mit Rahen, Segeln und Tauwerk zusammen und stürzte auf das Vorschiff und zum Teil über Bord. Unkontrolliert drehte der Schoner ab und schlug quer.
Dumaresq schrie:»Aktion abbrechen! Drehen Sie zurück auf den alten Kurs, Mr. Palliser!»
Bolitho wußte, daß der zweite Schoner es kaum riskieren würde, das gleiche Schicksal wie sein Gefährte zu erleiden. Es war ein artilleristisches Meisterstück gewesen. Er sah seine Männer an den Stagen heruntergleiten, nachdem sie zusätzliche Segel gesetzt hatten, und fragte sich, welchen Eindruck die Destiny wohl auf die gegnerischen Geschützbedienungen machen mußte, die nun durch den Pulverqualm erkannten, daß einer der Ihren so leicht erledigt worden war.
Das machte aber kaum den Unterschied in der Bestückung der beiden Schiffe wett. Dagegen konnte es die britischen Seeleute in einem Augenblick ermutigen, in dem sie diese moralische Stütze am dringendsten brauchten.
«Recht so! Kurs Nord zu Ost, Sir.»
Bolitho rief:»Jetzt kommen wir dran!«Er sah, daß einige Matrosen ihm zulächelten, mit Gesichtern wie Masken und glasigen Augen von dem dauernden Geschützfeuer.
Plötzlich schien sich das Deck unter Bolithos Füßen aufzubäumen. Erschreckt sah er einen Zwölfpfünder der Backbord-Batterie umstürzen und zwei schreiende Männer unter sich begraben, während die übrigen sich duckten oder von herumfliegenden Holzsplittern getroffen zu Boden stürzten.
Er hörte Rhodes Befehle geben, die die Ordnung wiederherstellten, und die Antwort mehrerer Kanonen, die erneut feuerten. Doch der Schaden war groß, und als Timbrells Männer herbeieilten, um die umgestürzte Kanone und das zersplitterte Holz wegzuräumen, feuerte der Feind abermals.
Bolitho wußte nicht, wie viele Kugeln der San Augustin diesmal ihr Ziel getroffen hatten, aber das Deck bebte so heftig, daß es eine ganze Masse Eisen gewesen sein mußte. Holzteile flogen ihm um die Ohren, und er schützte sein Gesicht mit den Armen, als ein großer Schatten auf das Batteriedeck fiel.
Stockdale riß ihn zu Boden und krächzte:»Der Besan! Sie haben ihn umgeschossen.»
Dann gab es ein Donnergetöse, als der Besanmast mit Stengen und Rahen auf das Achterdeck und die Steuerbord-Laufbrücke herabstürzte, Tauwerk, Segel und Menschen mit sich reißend und unter sich begrabend.
Bolitho rappelte sich wieder auf und spähte nach dem Feind aus. Der schien seine Position verändert zu haben. Nur seine oberen Rahen ragten aus dem Qualm, doch er fuhr fort zu schießen. Die Destiny hatte Schlagseite, und die über die Bordwand hängenden Teile der Takelage zogen sie herum, während überall Männer sich aus dem Gewirr von Tauwerk und Leinwand zu befreien suchten. Bei dem ohrenbetäubenden Lärm waren alle ihnen zugerufenen Befehle vergeblich.
Dumaresq kam an die Querreling und ließ sich seinen Hut von seinem Bootssteurer reichen. Er warf einen schnellen Blick über das Oberdeck und befahl dann:»Mehr Leute nach achtern! Kappt den ganzen Plunder!»
Palliser tauchte aus dem Chaos auf wie ein Gespenst. Er hielt seinen Arm, der gebrochen schien, und es sah aus, als ob er jeden Augenblick zusammensinken würde.
Dumaresq brüllte:»Bewegt euch! Und eine neue Flagge an den Großmast, Mr. Lovelace!»
Aber es war ein Bootsmannsmaat, der aufenterte, um die Flagge zu ersetzen, die mit dem Besanmast weggeschossen worden war. Mids-hipman Lovelace, der in zwei Wochen vierzehn Jahre alt geworden wäre, lag — von einem durch die Luft gesausten Backstag fast mittendurch geschnitten — an den Hängemattsnetzen.
Bolitho stand bewegungslos an seinem Platz, während das Schiff um ihn herum unter den Stößen des Geschützfeuers schwankte und bebte. Dann packte er Jury an der Schulter und sagte:»Nehmen Sie zehn Männer, und helfen Sie dem Bootsmann. «Er schüttelte ihn leicht.»Alles in Ordnung?»
Jury lächelte.»Jawohl, Sir. «Er lief in den Qualm und rief dabei mehrere Namen.
Stockdale murmelte:»Wir haben nur noch sechs Kanonen auf dieser Seite, die zählen.»
Bolitho wußte, daß die Destiny so lange außer Kontrolle war, bis der Besan gekappt war. Als er über die Bordwand blickte, sah er unten einen Seesoldaten, der sich noch an der Besanstenge festhielt, und einen anderen, der von dem Gewirr der Takelage unter Wasser gezogen wurde und ertrank. Er wandte sich ab zu Dumaresq, der wie ein Fels dastand und den Feind beobachtete, wobei er offensichtlich darauf bedacht blieb, daß seine Besatzung ihn sah.
Bolitho zwang sich, woanders hinzublicken. Er fühlte sich plötzlich bedrückt und schuldig, da er zufällig Dumaresqs Geheimnis entdeckt hatte. Das also war der Grund, warum er die scharlachrote Weste trug! Damit keiner seiner Leute etwas merken konnte, wenn er verwundet wurde.
Aber Bolitho hatte die frischen nassen Flecken erkannt, von denen Blut auf seine kräftigen Hände getropft war, als sein Bootssteurer John ihn stützend an die Reling geführt hatte.
Midshipman Cowdroy kletterte über die Trümmer und rief:»Ich brauche Hilfe auf dem Vorschiff, Sir!«Er sah aus, als wäre er kurz vorm Durchdrehen.
Bolitho sagte:»Sehen Sie zu, wie Sie allein damit fertig werden. «Das gleiche hatte Dumaresq anläßlich des Uhrendiebstahls zu ihm gesagt.
Er hörte Axtschläge aus dem Rauch und spürte, wie das Schiff sich aufrichtete, als der gebrochene Mast mit seiner Takelage von ihrer Bordwand freikam.
Wie nackt sie aussahen ohne den Besanmast und seine vollstehenden Segel!
Auf einmal bemerkte Bolitho, daß die San Augustin quer vor ihrem Bug lag. Sie feuerte immer noch, aber die Kurswechsel der Destiny, die von der überhängenden Takelage verursacht worden waren, machten ihr das Zielen im Qualm schwierig. Mehrere Kugeln schlugen dicht vor der Bordwand ein oder klatschten querab zu beiden Seiten ins Wasser. Aber die Kanonen der Destiny waren ebenfalls blind, mit Ausnahme der Buggeschütze. Bolitho hörte ihre scharfen Abschüsse, als sie das Feuer mit tödlicher Entschlossenheit erwiderten.
Doch eine weitere schwere Kugel schlug unter ihrer BackbordLaufbrücke ein, warf zwei Kanonen um und färbte das Deck blutrot, als sie eine Gruppe von Männern niedermähte, von denen viele bereits verwundet gewesen waren.
Bolitho sah, daß Rhodes hinfiel und versuchte, sich wieder aufzuraffen, aber dann endgültig niedersank.
Er lief hinüber, um ihm zu helfen, ihn vor dem beißenden Pulverqualm zu schützen, während die Welt um ihn herum verrückt zu spielen schien.
Rhodes sah ihm direkt ins Gesicht, und seine Augen waren klar, als er flüsterte:»Der >Herr und Meister< hat seinen Willen, sehen Sie, Dick?«Er schaute am Großmast vorbei in den Himmel.»Der Wind — endlich ist er da. Aber zu spät. «Er hob den Arm, um Bolithos Schulter zu berühren.»Passen Sie auf sich auf, Dick. Ich habe es immer gewußt…«Sein Blick wurde plötzlich starr und leblos.
Bolitho erhob sich mühsam und starrte in das Chaos und Elend ringsum. Stephen Rhodes war tot. Rhodes, der ihn als erster an Bord willkommen geheißen und das Leben immer auf die leichte Schulter genommen hatte.
Dann sah er durch die zerrissenen Netze und zerfetzten Hängematten die See. Die vorher so träge Dünung war lebhaft geworden. Er schaute hinauf zu den Segeln. Durchlöchert, wie sie waren, standen sie jetzt doch prall wie Brustharnische und trieben die Fregatte vorwärts in den Kampf. Sie waren noch nicht geschlagen! Rhodes hatte es gesehen.»Der Wind«, hatte er gesagt. Es war das letzte, was er auf Erden erkannt hatte.
Bolitho rannte an die Bordwand und sah die San Augustin an Steuerbord voraus erschreckend nahe. Männer schossen von drüben auf ihn, und überall war Qualm und Lärm, aber er spürte nichts. Aus der Nähe sah das feindliche Schiff nicht mehr so stolz und unverletzbar aus. Er konnte erkennen, wo die Kugeln der Destiny Spuren hinterlassen hatten.
Er hörte Dumaresqs Stimme, die ihm das Deck entlang folgte und trotz seiner unvermeidlichen Schmerzen immer noch kräftig und beherrschend klang.»An die Steuerbordbatterie, Mr. Bolitho!«Bolitho hob Rhodes schönen Säbel auf und schwenkte ihn wild.»An die Kanonen, Jungs! Doppelte Ladung!«Musketenkugeln prasselten wie Kieselsteine an Deck, und hier und da fiel ein Mann um. Aber die übrigen, die sich aus den Trümmern befreit hatten, überließen die Kanonen an der Backbordseite sich selber und gehorchten taumelnd Bolithos Ruf. Sie luden die verbliebenen Zwölfpfünder, kauerten dahinter wie verschreckte Raubtiere und warteten, bis das hohe Achterschiff der San Augustin sich Meter für Meter wie ein vergoldeter Fels vor ihnen auftürmte.»Ziel auffassen!»
Wer gab die Befehle? Dumaresq, Palliser, oder war er so mitgerissen von der Wildheit der Schlacht, daß er sie selber ausgestoßen hatte?
«Feuer!»
Er sah die Kanonen im Rückstoß binnenbords rollen und ihre Bedienungen durch die Stückpforten schauen, um den Erfolg ihrer Schüsse zu überprüfen. Denn jede der mörderischen Kugeln pflügte jetzt vom Heck bis zum Bug durch das spanische Schiff und verbreitete überall Tod und Verderben.
Kein Geschützführer, auch Stockdale nicht, machte Anstalten, neu zu laden. Es war, als wisse jeder Bescheid.
Die San Augustin trieb nach Lee ab. Vielleicht war ihr Ruder zerschossen oder sämtliche Offiziere waren in der letzten feurigen Umarmung getötet worden.
Bolitho ging langsam nach achtern und stieg den Niedergang hoch aufs Achterdeck. Holzsplitter lagen überall herum, und an den Sechs-pfündern waren nur noch wenige Männer übrig, die Hurra rufen konnten, als ein Teil der Takelage des Feindes in die Qualmwolken stürzte.
Dumaresq wandte sich mühsam um:»Ich glaube, sie brennt.»
Bolitho sah Gulliver tot neben seinen Rudergängern liegen; Slade stand an seinem Platz, als ob er von Anfang an zum Master bestimmt gewesen sei. Colpoys, der seinen roten Rock wie ein Cape um die bandagierte Brust gehängt hatte, musterte seine Männer, die von ihren Waffen zurückgetreten waren. Palliser saß auf einem Faß, während einer von Bulkleys Leuten seinen Arm untersuchte.
Bolitho hörte sich sagen:»Wir werden den Schatz verlieren, Sir.»
Eine Explosion schüttelte die schwer mitgenommene San Augustin. Man sah Gestalten über Bord springen und jeden niedertrampeln, der sie aufzuhalten versuchte.
Dumaresq blickte auf seine rote Weste herunter.»Sie verlieren ihn aber auch.»
Bolitho beobachtete das andere Schiff und sah, wie der Qualm dik-ker wurde und erste Flammen unterhalb des Großmasts hervorbrachen. Wenn Garrick noch lebte, würde er nicht mehr weit kommen.
Bulkley lief übers Achterdeck.»Sie müssen nach unten gehen, Sir, ich muß Sie untersuchen.»
«Müssen?«Dumaresq lächelte grimmig.»Das ist kein Wort, das ich. «Dann fiel er ohnmächtig in die Arme seines Bootssteurers.
Trotz allem, was schon geschehen war, schien Bolitho dieser Anblick unerträglich. Er sah zu, wie Dumaresq aufgehoben und vorsichtig zum Niedergang getragen wurde.
Palliser trat an die Querreling, aschfahl im Gesicht, aber er sagte:»Wir werden uns in sicherer Entfernung halten, bis das verdammte Schiff entweder gesunken oder in die Luft geflogen ist.»
«Was soll ich jetzt tun, Sir?«Das war Midshipman Henderson, der wunderbarerweise oben im Großmast überlebt hatte.
Palliser sah ihn an.»Sie übernehmen Mr. Bolithos Aufgaben. «Er stockte, den Blick auf Rhodes' Leiche am Fockmast gerichtet.»Mr. Bolitho ist jetzt Zweiter Offizier.»
Eine heftigere Explosion als alle bisherigen erschütterte die San Augustin so stark, daß ihre Fock- und Großmarsstengen in den Qualm hinabstürzten, das ganze Schiff sich schwer auf die Seite legte und schließlich kenterte.
Jury kam den Niedergang hoch und stellte sich an Bolithos Seite, um die letzten Augenblicke des einst so schönen Schiffes mit anzusehen.»War es das alles wert, Sir?»
Bolitho sah ihn an und schaute sich an Deck um. Schon waren Leute dabei, die Schäden auszubessern und das Schiff wieder flott zu machen. Tausenderlei Dinge gab es zu tun: die Verwundeten mußten betreut werden. Der übriggebliebene Schoner war zu jagen und zu erobern. Überlebende mußten aus dem Wasser gefischt und als Gefangene von den spanischen Seeleuten getrennt werden. Eine Menge Arbeit für eine kleine Fregatte mit reduzierter Besatzung.
Er erwog Jurys Frage und überlegte auch, was Dumaresq sagen würde, wenn er zurückkam. Eigenartig, dieser Dumaresq: Tod war für ihn gleich Niederlage, und beides gab es für ihn nicht.
Bolitho sagte leise:»So dürfen Sie nicht fragen. Ich habe einiges gelernt und lerne immer noch dazu. Das Schiff kommt zuerst. Aber lassen Sie uns an die Arbeit gehen, anderenfalls wird unser >Herr und Meisten einige unfreundliche Worte für uns alle finden.»
Überrascht schaute er auf den Säbel, den er immer noch in der Hand hielt.
Vielleicht hatte da Rhodes Jurys Frage für ihn beantwortet?
ca. 3700 m
sieben Uhr