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Als er am Stadtrand in das Gewirr aus Planwagen und Zelten eintauchte, wurde er von feindseligen Blicken geradezu durchbohrt. Als Freund des Mannes, den alle für den Mörder von Adam Zachary hielten, hatte er kaum Sympathien zu erwarten. Schließlich war Abner Zachary der Wohltäter vieler Menschen hier, wie Jacob gestern von Ben Miller erfahren hatte. Außerdem hatte sich herumgesprochen, daß Jacob vor dem Gefängnis seinen Revolver auf die lynchwütigen Emigranten gerichtet hatte.
Ohne sich weiter um die Blicke und das Getuschel der Menschen zu kümmern, steuerte Jacob zielstrebig den Platz an, wo sein Wagen stand. Als er sah, daß Irene und Jamie nichts geschehen war, atmete er auf. Sie waren nicht seine Familie, aber er fühlte für sie fast so, wie er für seine eigene Frau und sein Kind gefühlt hätte.
Ein paar der besonneneren Auswanderer, darunter die Kelleys und die Millers, kümmerten sich um Irene und Jamie und sorgten dafür, daß sie von den anderen in Ruhe gelassen wurden. Irene und die befreundeten Familien bestürmten Jacob mit tausend Fragen über Martin und den Mord.
Jacob antwortete sehr knapp und kehrte dann in die Stadt zurück. Ein Blick in Abner Zacharys Granitgesicht hatte ihm gezeigt, daß der Prediger noch immer von Rachsucht regiert wurde. Falls Zachary seine Drohung wahrmachen wollte, blieb Jacob nur ein Tag, um Martin zu helfen. Ein einziger Tag, um den wahren Mörder zu finden.
*
Jacobs Ziel war der Lightheart Palace. Hier hatte sich der Mord ereignet. Hier hatten das Opfer und der angebliche Mörder den letzten Abend verbracht. Hier lebte und arbeitete Urilla Anderson, die Frau, die der Anlaß für den Mord sein sollte. Hier hoffte Jacob Antworten auf die Fragen zu finden, die in ihm bohrten.
Er fand den Saloon für die frühe Tageszeit - es war noch lange hin bis Mittag - gut besucht vor. Das mochte zum einen mit dem bevorstehenden Pferderennen zusammenhängen. Sicher war aber der Mord der Hauptgrund für den großen Andrang. Neugier und Sensationslust trieben die Menschen herbei und bescherten Frenchie ein gutes Geschäft.
Dem Salooner, der hinter der langen, sich fast den ganzen in die Tiefe führenden Raum entlangziehenden Mahagonitheke stand, kam mit dem Einschenken der Getränke kaum nach. Die Fliege unter seinem spitzen Kinn war verrutscht, der weiße Hemdkragen von Schweißflecken beschmiert und die weiße Schürze ebenfalls befleckt.
Als Jacob ins Halbdunkel des großen Raums trat, lenkte er sofort die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Die Männer links an der Bar drehten sich um und sahen ihn neugierig an. Ihre erregten Gespräche verstummten. Es war plötzlich so still, daß man hörte, wie Jacobs Stiefel auf dem feinen Sand knirschten, der den Boden bedeckte, damit er leichter gereinigt werden konnte.
Jacob steuerte auf eine Lücke in der langen Menschenreihe vor der Theke zu, schob sich, die vielen Blicke mißachtend, hindurch und winkte Frenchie zu sich heran, um ihn nach Urilla zu fragen.
»Sie ist oben auf Ihrem Zimmer«, antwortete Frenchie mit seinem starken französischen Akzent. »Aber Sie sollten besser nicht hinaufgehen.«
»Auch wenn Adam Zacharys Tod Miß Anderson schwer getroffen hat, ich muß ihr unbedingt ein paar Fragen stellen. Schließlich geht es um den Kopf meines Freundes.« »Was wollen Sie Urilla fragen?« erkundigte sich ein großer, vollbärtiger Mann in abgetragener Kleidung und mit schwielenbedeckten Händen. »Etwa, wieso sie sich an jeden Auswanderer heranmacht, der durch diese Stadt kommt?«
»Was soll das heißen?« fragte Jacob nach.
»Gar nichts«, sagte Frenchie schnell. »Chuck Dullenty redet zuviel, wenn er vormittags schon Whiskey trinkt.«
»Was für Whisky?« fragte der Bärtige in einer Mischung aus Empörung und Betrübnis, während er sein leeres Glas von der Theke nahm und in der Luft umdrehte. »Da ist kein Tropfen mehr drin.«
»Darf ich Sie auf ein Glas einladen, Mr. Dullenty?« fragte Jacob, und der Bärtige nickte begeistert.
Der Auswanderer kratzte seine letzten Cents zusammen, um die Getränke bezahlen zu können. Jeder ein Glas Maiswhiskey in der Hand, zogen sie sich an einen ruhigen Ecktisch zurück, über dem die Reklametafel einer Brauerei an der Wand prangte. Sie weckte in Jacob unliebsame Erinnerungen an seine Heimatstadt Elbstedt und die Brauereifamilie Arning.
Die Männer an der Bar setzten ihre Gespräche fort, sahen dabei aber immer wieder neugierig zu dem Ecktisch herüber.
»Was meinten Sie eben mit Ihrer Bemerkung, Urilla würde sich an jeden Auswanderer in dieser Stadt heranmachen?« fragte Jacob den Bärtigen, nachdem sie sich zugeprostet und den ersten Schluck getrunken hatten.
»Ach, nichts«, winkte Dullenty zu Jacobs Enttäuschung ab. »Wie Frenchie schon sagte, ich rede manchmal zuviel.«
Der Bärtige nahm einen weiteren Schluck und genoß es sichtlich, wie das scharfe Gebräu durch seine Kehle rann.
»Wahrscheinlich haben Sie mit Ihrer Bemerkung auch ein bißchen übertrieben«, sagte Jacob wie beiläufig.
Dullenty knallte das Glas auf die Tischplatte und funkelte Jacob aus seinen rotgeäderten Augen an.
»Ich übertrieben? Daß ich nicht lache! Dieses Frühjahr ist noch kein Treck von Kansas City nach Westen abgefahren, dem sich Urilla nicht hätte anschließen wollen. Aber sie hat Pech und Clayton.«
»Was ist Clayton?«
»Nicht was, sondern wer, Freund. Alan Clayton ist der Mann, mit dem Urilla nach Kansas City gekommen ist. Clayton sorgt schon dafür, daß sie sich mit keinem anderen davonmacht. Für ihn ist Urilla eine Art Privateigentum. Außerdem lockt sie viele Opfer an seinen Tisch.«
»Opfer?«
»Yeah. Alan Clayton ist ein Kartenhai.«
»Ein Falschspieler?«
Dullenty lachte glucksend und leerte sein Glas.
»Das behauptet so mancher, dem er das letzte Hemd und die letzte Hose ausgezogen hat. Aber falls er falsch spielt, hat ihn bisher niemand erwischt. Und keiner würde es wagen, ihm ins Gesicht zu sagen, er sei ein Betrüger. Clayton kann nämlich sehr unangenehm werden.«
»Inwiefern?«
»Schießeisen, Messer, suchen Sie es sich auch, Mister. Clayton kann mit allem umgehen. Und obwohl er so schlanke Finger hat wie Murray, der hier jeden Abend auf dem Klavier herumklimpert, auch mit den Fäusten. Urilla kann ein Lied davon singen.«
»Wieso?«
»Weil sie öfter mal mit einem blauen Auge auftaucht.«
Jacob dachte an Martins Veilchen und fragte sich, ob da ein Zusammenhang bestand. Aber wenn Martin an Clayton geraten war, wieso hatte er es dann nicht gesagt?
»Waren Sie gestern abend auch hier, Mr. Dullenty?«
Der Bärtige grinste.
»Klar doch, wie jeden Abend.«
»Gab es am späten Abend eine Rauferei?«
»Das können Sie laut sagen, Freund. So wie gestern sind hier die Fäuste schon lange nicht mehr geflogen.« Er sah zur Theke hinüber. »Der arme Frenchie hatte schon Angst, sein ganzes Museum würde zu Bruch gehen.«
»Was war der Grund dafür?«
»Keine Ahnung.« Dullenty hob seine breiten Schultern und ließ sie wieder sinken. »Braucht man dazu einen Grund?«
»Wissen Sie, ob sich Mr. Clayton oder mein Freund Martin an der Schlägerei beteiligt haben?«
»No, Mister. Aber normalerweise hält sich Clayton solcher Dinge fern.«
»Sprechen die Gentlemen von mir?« bohrte sich eine scharfe Stimme in Jacobs Rücken.
Plötzlich spürte der Deutsche die Gegenwart eines anderen Mannes ganz dicht hinter sich. Aber er hatte ihn nicht kommen hören. Er mußte sich leise wie eine Katze herangeschlichen haben.
Dullenty riß die Augen auf und starrte den Mann hinter Jacob fast furchtsam an.
»Sie dürfen nichts falsches denken, Mr. Clayton. Ich habe dem Fremden hier nur ein paar Fragen beantwortet. Wirklich nur ein paar Fragen. Es wird jetzt Zeit für mich. Ich habe noch viel zu erledigen.«