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Jacob drehte sich auf seinem Stuhl um und sah den Mann an, dessen bloße Anwesenheit dem kräftigen Dullenty solche Angst eingejagt hatte. Auf den ersten Blick hätte man das nicht für möglich gehalten. Der Mann wirkte nicht besonders groß und nicht sehr kräftig. Sein schlanker, fast zierlicher Körper steckte in einem taubengrauen Dreiteiler. Auf seinem schmalen Kopf saß ein dunkler Hut. Aber der Mann besaß eine unheimliche Ausstrahlung. Sein Gesicht war so scharf gemeißelt, daß man glaubte, sich an seinen Zügen schneiden zu können wie an einem Rasiermesser. Scharf und stechend war auch der Blick, den er Jacob aus bernsteinfarbenen Augen zuwarf. Die Bedrohlichkeit, die von dem Mann ausstrahlte, war fast körperlich spürbar.
»Mr. Alan Clayton?« erkundigte sich Jacob.
»Yeah«, lautete die ganze Antwort. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Jacob nannte seinen Namen.
»Was hatten Sie mit dem Schwätzer Dullenty über mich zu reden, Mr. Adler?«
Jacob erklärte es ihm, bemühte sich aber, den Spieler nicht als Verdächtigen hinzustellen.
»Ich war an keiner Schlägerei beteiligt«, erklärte Clayton. »Und Ihren Freund kenne ich nicht. Im übrigen ist es nicht mein Problem, wenn er gehängt wird. Aber es ist mein Problem, wenn Sie Gerüchte über mich verbreiten. Ich muß Sie daher bitten, das in Zukunft zu unterlassen!«
Er schob seine Jacke über der rechten Hüfte zurück und entblößte ein schwarzledernes Holster, in dem ein vernickelter Revolver mit Perlmuttgriffschalen steckte. Dann wandte er sich um und ging zur Tür.
»Wenn mich jemand sucht, Frenchie, ich bin geschäftlich unterwegs, beim Pferderennen.«
Erst als Alan Clayton den Saloon verlassen hatte und die Männer ihre Gespräche wiederaufnahmen, wurde Jacob bewußt, daß vorher eine angespannte Stille geherrscht hatte. Aller Augen waren auf Jacobs Tisch gerichtet gewesen. Anscheinend hatte man nur darauf gewartet, daß sein Blut vergossen wurde.
Angewidert stand er auf. Trotz Claytons Warnung fragte er Frenchie nach Urillas Zimmernummer. Dann stieg er die Treppe zum Obergeschoß hinauf.
Als Jacob in nördlicher Richtung dem Startplatz für das große Pferderennen zustrebte, war auf den vollgestopften Straßen kaum noch ein Durchkommen. Ganz Kansas City war auf den Beinen und über den Missouri in den Westteil der Stadt gekommen, um das Schauspiel mitzuerleben und vielleicht bei einer Wette ein paar Dollars zu gewinnen - oder zu verlieren.
Aber nicht nur die Einwohner der Stadt erschwerten dem Deutschen das Vorankommen. Je mehr es auf den Mittag zuging, desto mehr Wagen rollten von den umliegenden Ortschaften, Plantagen und Farmen in die Stadt am Big Muddy. Selbst aus den angrenzenden Countys kamen die Menschen, um das Wettrennen zu sehen und den morgigen Unabhängigkeitstag mit Paraden, Konzerten, einem großen Markt und allerlei Wettbewerben in Kansas City zu verbringen. Hotels, Pensionen und private Quartiere waren innerhalb kürzester Zeit ausgebucht. Wo immer ein Dach vor dem Regen schützte, wollte sich ein Mensch für die Nacht zum Schlafen niederlassen.
Unter anderen Umständen hätte Jacob den Trubel genossen, hätte freudig mitgefeiert im Gedanken an den ersten Unabhängigkeitstag, den er in seiner neuen Heimat erlebte. Aber nichts lag ihm jetzt so fern wie Feiern. Noch nie seit seiner Ankunft im Hafen von New York war seine Stimmung so gedrückt gewesen. Tausend Fragen drehten sich in seinem Kopf. Wann immer er eine Antwort fand, warf sie neue Fragen auf und vergrößerte seine Verwirrung nur noch.
Urilla Andersen war zu seiner großen Enttäuschung keine Hilfe gewesen. Sie hatte sich geweigert, mit ihm zu reden, hatte ihn nicht einmal ins Zimmer gelassen. Sie hatte nur kurz durch die verschlossene Tür mit ihm gesprochen, mit tränenerstickter Stimme. Er verstand ihren Schmerz um Adam Zachary, was immer sie für ihn empfunden haben mochte; nachdem er von ihrem Verhältnis mit Alan Clayton erfahren hatte, war er sich da nicht mehr so sicher. Aber um Martin beizustehen, benötigte er jede Hilfe, die er bekommen konnte. Leider bekam er keine.
Er wußte selbst nicht so recht, was ihn jetzt zu dem Pferderennen trieb. Ihn beschäftigten drängendere, schwerwiegendere Probleme als das Rennen. Aber da sich sowieso fast alle Menschen in der Stadt das Rennen ansehen wollten, konnte er es ihnen gleichtun. Wen immer er sprechen wollte, er würde ihn vermutlich hier finden - falls er ihn in dem bunten Gewimmel der menschlichen Ameisen entdecken konnte.
Es war purer Zufall, daß er auf Marshal Webb stieß, dem er von seiner Begegnung mit Alan Clayton erzählte.
»Sie halten Clayton für den Mörder, Mr. Adler?« vergewisserte sich der Polizeichef.
»Ich weiß nicht, ob er der Mörder ist. Aber zumindest ist er ein Verdächtiger. Er hatte denselben Grund für die Tat, den man meinem Freund unterstellt: Urilla Anderson. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, und nach meiner persönlichen Begegnung mit ihm halte ich ihn einer solchen Tat durchaus für fähig. Sie etwa nicht?«
»Die Fähigkeit, einen Mord zu begehen, ist genauso wenig ein Beweis für die Täterschaft wie ein Mordmotiv.«
»Aber weshalb sperren Sie dann Martin ein?«
»Vergessen Sie nicht die Mütze, die wir bei der Leiche gefunden haben! Außerdem ist Ihr Freund hinter den Mauern des Gefängnisses derzeit am sichersten aufgehoben. An jedem anderen Ort der Stadt könnte ich nicht für seine Sicherheit garantieren.«
Jacob dachte an den aufgebrachten Lynchmob und gab dem Marshal recht. Das Bild von Abner Zachary, der mit dem Strick in der Hand vor dem Gefängnis stand und Martins Auslieferung verlangte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Plötzlich durchfuhr ihn ein ganz neuer Gedanke, vielleicht etwas kühn, aber nicht von der Hand zu weisen.
»Ja, das wäre möglich«, murmelte der in Gedanken versunkene Auswanderer in sich hinein, ohne zu bemerken, daß er laut sprach.
»Wovon reden Sie, Adler?«
Verwirrt sah Jacob den Marshal an.
»Ach, nichts, nur so ein Gedanke.«
»Hat dieser Gedanke mit dem Mord zu tun?«
Jacob nickte.
»Dann sollten Sie ihn mir mitteilen. Je mehr ich über die Sache weiß, desto eher kann ich die Wahrheit ans Licht bringen.«
»Es ist kein Wissen, nur eine Vermutung, die Abner Zachary betrifft. Der Prediger war nicht besonders erbaut davon, wie sehr sein Sohn Adam Miß Anderson zugeneigt war, um es einmal milde auszudrücken. Wäre das nicht ein Motiv für die Tat?«
Webb starrte den Deutschen ungläubig an.
»Sind Sie übergeschnappt, Adler? Ein Vater bringt seinen Sohn doch nicht gleich um, bloß weil er sich in das falsche Girl verliebt hat!«
»So meine ich das nicht. Urilla hat erzählt, daß Adam sie kurz nach Mitternacht verließ, weil er es eilig hatte, zum Treck zurückzukehren. Vermutlich fürchtete er eine Strafpredigt seines strengen Vaters, wenn er zu lange wegblieb. Nehmen wir einmal an, der alte Zachary war schon über Adams Wegbleiben erbost und ist in die Stadt gegangen, um ihn zu holen. Sie trafen sich vor dem Saloon und gerieten in eine Auseinandersetzung. Der angetrunkene Adam zog sein Messer, aber im Handgemenge traf es seine eigene Brust.«
Für eine halbe Minute befingerte Webb überlegend seinen Schnurrbart.
Dann nickte er bedächtig und sagte: »Das ist eine hübsche Theorie, Adler. Aber Sie haben wieder die Mütze Ihres Freundes vergessen.«
»Ich glaube Martin, daß er sie verloren hat. Vielleicht sah Abner Zachary sie irgendwo und legte sie neben die Leiche, um den Verdacht auf Martin zu lenken. Oder Adam hat sie gefunden und mitgenommen, um sie Martin wiederzugeben.«
»So könnte es sich abgespielt haben«, gab Webb zu. »Aber solange es keine Zeugen oder Beweise dafür gibt, ist es nichts als eine hübsche Theorie.« Das stimmte leider.
Abner Zachary konnte der Mörder sein. Oder Alan Clayton.
Oder jeder andere unter den vielen tausend Menschen, die jetzt die Straßen von Kansas City bevölkerten.
*
Jackson Harris störten die Menschenmassen, die zum Pferderennen in die Stadt geflutet waren, nicht. Er hatte sich solange in dem engen Kasten des Prärieschoners verstecken müssen, daß das Eingekeiltsein zwischen den ausgelassenen Menschen für ihn eine angenehme Abwechslung war. Vielleicht genoß er es auch deshalb so, weil er sich zum erstenmal in seinem Leben als freier Mensch unter freien Menschen bewegen konnte.
Manchmal zuckte er noch zusammen, wenn er den Stern eines Ordnungshüters oder die Uniform eines der vielen in Kansas City stationierten Soldaten erblickte. Dann mußte er sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, daß er sich nicht mehr verstecken mußte. Daß das Brandmal auf seinem Rücken nur noch die Erinnerung an eine dunkle Vergangenheit war. Daß er nicht mehr ein Sklave, sondern ein freier Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika war.
Dann zwang er sich geradezu, dem Deputy Marshal oder dem Soldaten in die Augen zu sehen, ganz offen, wie es ein freier Mann tun konnte. Das tat ihm gut.
Jackson hatte die Familie seines Schwagers und Black Thunder zum Startplatz des Pferderennens begleitet. Aber dann war er von der Menschenmenge abgedrängt worden und hatte sich einfach treiben lassen.
Es gab viel anzusehen und zu bestaunen an den vielen Ständen, wo man beim Loskauf sein Glück versuchen, beim Three Card Monte die Schnelligkeit seiner Augen beweisen, beim Hau-den-Lukas seine Kraft erproben oder viele leckere Speisen und Getränke erstehen konnte. Die Buden machten gute Geschäfte und würden am morgigen Tag der Unabhängigkeit noch bessere machen.
Der ehemalige Sklave enthielt sich all dieser Verlockungen. Er hatte kein Geld. Aber das störte ihn nicht. Allein der Umstand, sich frei bewegen zu können, war für ihn ein größeres Vergnügen als all die lauthals angepriesenen Attraktionen zusammengenommen.
Dann kam der große Augenblick des Pferderennens. Jackson hatte sich inzwischen so weit vom Startplatz im Norden der Stadt entfernt, daß er am Straßenrand auf eine alte Kiste steigen mußte, um zu erkennen, was am Start vor sich ging.
Ein korpulenter Mittvierziger mit cholerisch rotem Gesicht und weißem Backenbart hatte ein Podest erstiegen, genoß den aufbrandenden Applaus, nahm den grauen Zylinder vom Kopf und verneigte sich nach allen Seiten. Wie Jackson hörte, war das der Veranstalter des Rennens, Homer C. Asquith.