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Gestern waren sie mit dem Zug aus Blue Springs angekommen und hatten erfahren, daß der letzte Treck, der dieses Jahr noch nach Oregon aufbrach, die Stadt in wenigen Tagen verlassen würde. Jetzt waren sie unterwegs, um sich dem Treck anzuschließen. Irene Sommer und ihren kleinen Sohn Jamie hatten sie in ihrem Quartier gelassen. Sie sollten ausschlafen und sich ein wenig von den anstrengenden Ereignissen der letzten Tage, die in einem blutigen Kampf gegen Quantrills Südstaaten-Guerilla gegipfelt hatten, erholen.
»Was war das?« fragte Jacob und blieb stehen.
»Hörte sich an wie Jamie, wenn er hungrig ist«, meinte sein stämmiger Freund mit dem rotblonden Haar und dem runden, mit Sommersprossen gesprenkelten Gesicht. »Da hat bestimmt irgendein Kind geschrien.«
Der hochgewachsene, breitschultrige Zimmermann schüttelte den Kopf, auf dem sein sandfarbenes Haar unter einer abgegriffenen Mütze hervorschaute. »Das hat sich nicht angehört wie ein Kind, Martin. Und auch nicht wie jemand, der nach Essen schreit. Eher wie jemand, der Angst und Schmerzen empfindet.« Der junge Deutsche wandte sich nach rechts und steuerte einen baufälligen Schuppen an. »Und es kam irgendwo von hier.«
Martin folgte seinem Freund zu dem angelehnten Tor und bezweifelte, daß man es überhaupt ganz schließen konnte, so schief hing es in den Angeln. Aber daran dachte der Sohn eines Heidebauern nur kurz. Ein erneuter spitzer Schrei vertrieb alle anderen Gedanken.
Jacob stieß das Tor auf, als Martin neben ihn trat. Die Augen der Auswanderer benötigten ein paar Sekunden, um sich an das Halbdunkel im Schuppen zu gewöhnen.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Jacob vorsichtig und trat weiter in das Zwielicht hinein.
Da sahen sie die auf dem Boden liegende Frau mit den zerrissenen Kleidern und die beiden Männer, von denen sich einer, ein wahrer Riese, mit fliegenden Fingern anzog. Gerade schnallte er seinen Waffengurt um.
Die Szene schien zwar eindeutig, aber er war in einem fremden Land mit vielen fremden Sitten. Er kannte die Menschen in diesem Schuppen nicht und wußte nicht, in welchem Verhältnis sie zueinander standen. Deshalb verhielt er sich abwartend und vorsichtig. Nach den Aufregungen in Blue Springs wollte er neuen Ärger vermeiden.
Jacob und Martin konnten nicht wissen, daß sie in dem Moment, als sie den Schuppen betreten hatten, an das Ende einer unsichtbaren Kette geschmiedet wurden, von der jedes Glied einen ganzen Haufen Arger bedeutete.
»Mischt euch nicht ein«, sagte der kleine Mann mit dem faltigen Ledergesicht, dessen Stimme scharf und blechern klang. »Das hier geht euch nicht das Geringste an. Verschwindet!«
Noch während er sprach, schob er die Aufschläge seiner abgewetzten Jacke zurück und steckte sie hinten in den Waffengurt. Jetzt behinderte nichts den freien Zugriff auf seine Revolver.
»Falls die Lady nicht freiwillig hier ist«, sagte Jacob mit einem Blick auf das halbnackte, verängstigte Mädchen, »geht es uns sehr wohl etwas an, Mister.«
»Und wenn ich euch sage, daß sie freiwillig hier ist?« fragte der Kleine mit lauerndem Blick.
»Dann reicht uns das nicht«, erwiderte Jacob. »Wir würden es lieber von der Lady selbst hören.«
Die Augen des Mannes mit den zwei Revolvern verengten sich zu Schlitzen, als er zu Jacob sagte: »Nennst du mich etwa einen Lügner, Fremder?«
»Ich weiß nicht, ob Sie lügen, Mister. Was ich hier sehe, gibt mir allerdings Anlaß zu glauben, daß die Lady nicht freiwillig hier ist. Außerdem haben wir eben Schreie gehört.«
»Schluß mit den Faxen!« knurrte der Riese, der endlich seine Waffen umgeschnallt hatte. Seine Rechte lag auf dem Revolverkolben an seiner Hüfte. »Wenn ihr beiden Figuren jetzt nicht freiwillig abhaut, helfen wir nach.«
»Wir gehen freiwillig, wenn wir die Lady mitnehmen dürfen«, antwortete Jacob ruhig, während sein Blick zwischen dem Kleinen und dem Riesen hin und her glitt. Obwohl er äußerlich ruhig wirkte, überlegte er, was er und Martin im Falle einer Auseinandersetzung am besten unternehmen sollten.
Martins Kampfkraft war durch den Schulterschuß beeinträchtigt, den er sich im Kampf gegen Quantrills Schwarze Brigade eingefangen hatte. Jacob selbst trug als Erinnerung an dieses Ereignis eine Narbe auf der linken Wange mit sich herum; die Kugel einer explodierenden Munitionskiste hatte ihm dort einen Hautstreifen weggerissen.
Die beiden Auswanderer waren bewaffnet. Je weiter sie nach Westen kamen, desto mehr hatten sie einsehen müssen, daß ein Mann ohne Waffen in diesem wilden Land verloren war. Nicht nur Martin, auch Jacob hatte sich trotz seiner Abneigung gegen Schußwaffen einen Revolver umgeschnallt. In ihrem Quartier lagen zwei Karabiner. Sie hatten sich bei den erbeuteten Waffen der Bushwackers kostenlos bedienen können.
Jacob war zu seinem eigenen Erstaunen ein geborener Schütze. Bei Martin sah das schon anders aus, besonders solange er auf seine linke Hand angewiesen war. Aber Jacob gehörte nicht zu den Männern, die eine Waffe in Sekundenbruchteilen aus dem Holster zaubern und in weiteren Sekundenbruchteilen einen sicheren Schuß auf den Gegner abgeben konnten.
Das Ledergesicht vor ihm schien ein solcher Mann zu sein. Sein Blick und seine Haltung wirkten voll konzentriert. Er wartete offenbar nur auf eine falsche Bewegung der beiden Störenfriede, um dann seine Waffen zu ziehen.
Einen Kampf mit Schußwaffen zu gewinnen, war also zweifelhaft. Aber ebenso zweifelhaft war, ob sich die beiden unrasierten Kerle auf solch einen Kampf überhaupt einlassen würden, solange die Revolver an ihren Hüften hingen.
Die Andeutung eines Lächelns glitt über das Ledergesicht, und er sagte: »Die Lady soll selbst entscheiden, ob sie mit euch gehen will. Ich hoffe, sie trifft die richtige Entscheidung.«
Während er sprach, sah er die junge Frau nicht an, nur Jacob und Martin.
Das Mädchen dagegen ließ seinen Blick ängstlich über alle vier Männer gleiten. Wahrscheinlich überlegte sie sich, ob ihre mutmaßlichen Retter im Ernstfall eine Chance gegen ihre Peiniger hatten.
Ihre Lippen zitterten, als sie Jacob ansah und sagte: »Ja, ich möchte mit Ihnen gehen, bitte!«
»Pech für euch«, sagte das Ledergesicht. Wie hingezaubert lagen die beiden Revolver mit den Elfenbeingriffen in seinen Händen, der eine auf Jacob der andere auf Martin gerichtet. »Wenn wir die Sache friedlich beigelegt hätten, wäre das gut gewesen - für euch. Jetzt geht es hart auf hart!«
»Dagegen habe ich nichts«, sagte Jacob. »Aber warum Blut vergießen? Genügen unsere Fäuste nicht?«
»Nein, die genügen mir nicht«, beschied ihn der Revolvermann.
»Aber uns«, sagte da eine Stimme in Jacobs Rücken, und er hörte Schritte hinter sich. »Lassen Sie Ihre Revolver fallen und kommen Sie nicht auf dumme Gedanken, Mister. Einer von uns beiden trifft Sie bestimmt!«
Jacob sah aus den Augenwinkeln zwei weitere Männer, die in den Schuppen getreten waren. Jeder von ihnen hielt einen Revolver in der Rechten. Der Ältere von ihnen, der einen Verband um den Kopf trug, hatte gesprochen. Der andere war noch sehr jung, allenfalls sechzehn. Sein glattes Gesicht wirkte außerordentlich angespannt. Die beiden Neuankömmlinge stellten sich weit auseinander, so daß der Revolvermann nicht auf beide zugleich schießen konnte.
Das sah auch das Ledergesicht ein und ließ widerwillig seine Waffen in den Staub fallen.
»Gut so«, sagte der Mann mit dem Kopfverband. »Und jetzt habt ihr die Wahl: Entweder verabschiedet ihr euch friedlich voneinander, oder alle schnallen ihre Waffen ab und zeigen, ob sie wirkliche Männer sind.«
Das Ledergesicht und sein riesenhafter Kumpan wechselten kurze Blicke, dann sagte ersterer: »Auch ohne Waffen werden wir mit den beiden Figuren fertig.«
»Schön«, meinte der Mann mit dem Kopfverband gelassen. »Beweisen Sie es!«
Jacob, Martin und der Riese schnallten ihre Waffen ab. Kaum hatte letzterer seinen Waffengurt fallengelassen, da stürmte er auch schon auf Jacob zu.
Der junge Deutsche wollten ihm mit einem Sprung zur Seite ausweichen und ihn ins Leere laufen lassen. Aber sein Gegner hatte damit gerechnet und war wendiger, als Jacob gedacht hatte. Er änderte seine Angriffsrichtung, geriet dabei zwar ins Taumeln, konnte Jacob aber noch am Arm packen und mit sich zu Boden reißen, wo sich beide Männer im Schmutz hin und her wälzten.
Der Riese schaffte es, seine Körpermasse auf Jacob zu wälzen, und wollte ihn in den Schwitzkasten nehmen. Der Deutsche verhinderte das im letzten Augenblick, indem er sein rechtes Knie hochriß und damit in den Schritt des Gegners traf. Der Getroffene heulte vor Schmerz auf, und Jacob warf ihn von sich. Der Riese rollte über den Boden und blieb ganz in der Nähe seines Waffengurts liegen.
Als er die Hand nach dem Griff seines Revolvers ausstreckte, zog der Mann mit dem Kopfverband den Hahn seiner Waffe zurück und sagte: »Bevor Sie schießen, Mr. Koloß, tu ich es!«
Verwirrt hielt der Riese mitten in der Bewegung inne, seine Hand nur zwei Zoll von seinem Revolver entfernt. Jacob nutzte diese Verwirrung, um sich auf ihn zu werfen und mit einer ganzen Schlagserie auszuschalten.
Währenddessen umkreisten sich Martin und das Ledergesicht vorsichtig. Wäre sein rechter Arm gesund gewesen, hätte Martin längst angegriffen. Aber unter den gegebenen Umständen wollte er abwarten, was der andere unternahm.
Auf dessen Gesicht erschien erneut das boshafte Grinsen. »Was ist los, Mann? Warum bewegst du dich so komisch? Stimmt etwas nicht mit deinem Arm?«
Noch während er sprach, sprang er vor und landete einen linken Schwinger auf Martins verletzter Schulter. Der Schlag war hart, durch seine Verletzung für Martin um so härter. Der Deutsche gab einen Schmerzenslaut von sich und wich zurück. Der Kleine setzte nach und deckte ihn mit einer Serie von Schlägen ins Gesicht ein. Martins Nase platzte auf, und ein dünner Blutfaden rann neben seinem Mundwinkel herunter.
Martin sah ein, daß er seinen Gegner nicht unterschätzen durfte. Der kleine hagere Körper täuschte über die Kraft und Zähigkeit hinweg, die in ihm steckte. Und über die Kampferfahrung, die das Ledergesicht offensichtlich besaß. Der Mann konnte blitzschnell zuschlagen und einen da treffen, wo es wirklich weh tat. Martin hatte das schon zu spüren bekommen.
Als der Hagere erneut angriff, tat Martin so, als wollte er weglaufen. Aber dann drehte er sich herum und stellte seinem Gegner ein Bein, über das dieser stolperte. Martin warf sich auf ihn und hieb solange mit der Linken auf ihn ein, bis er den Deutschen anflehte, aufzuhören. Das Ledergesicht war jetzt zerschunden und blutig.
»Schätze, die richtige Seite hat gewonnen«, sagte der Mann mit dem Kopfverband, als sich Jacob und Martin erhoben und nach ihren Waffen griffen.
Als auch die Peiniger des Mädchens ihre Hände nach den Warfen ausstreckte, meinte er kopfschüttelnd: »Nicht doch. Ihr könnt zurückkommen und eure Schießeisen aufsammeln, wenn wir weg sind. Jetzt verzieht euch!«