158320.fb2
Gewiß war Bolitho darauf vorbereitet und gewillt, die Stimmung im Schiff trotz Pomfrets Winkelzügen nicht absinken zu lassen, doch die Wirklichkeit wurde viel schlimmer, als selbst er vorausgesehen hatte. Woche um Woche fuhr die Hyperion ihre anscheinend endlose Patrouille, ein riesiges, eintöniges Rechteck auf dem offenen Meer. Nur gelegentlich unterbrach die ferne Küste Frankreichs oder der lauernde Schatten der Insel Cozar die Leere.
Zweimal begegneten sie der Schaluppe Chanticleer; sie hatte wenig zu melden, was Bolithos wachsende Nervosität hätte beschwichtigen können. Die Situation der Schaluppe war genauso scheußlich wie seine eigene, denn die unberechenbaren Wetterverhältnisse des Mittelmeeres spielten einem so kleinen Fahrzeug besonders mit. Bellamy, der Kommandant, konnte sich das Ausbleiben jeglicher Nachrichten aus Pomfrets Hauptquartier ebensowenig erklären wie Bolitho selbst. Es gab nur Gerüchte. Angeblich bombardierten die Franzosen St. Clar mit Belagerungsgeschützen; im Weichbild der Stadt würde bereits gekämpft, so daß man kaum noch ohne Gefahr auf die Straßen könne.
Aber an Bord der Hyperion waren solche Spekulationen ebenso unnütz wie fernliegend, denn in ihren menschenwimmelnden Decks bedeutete Wirklichkeit: heute — und allenfalls morgen. Bolitho wußte, daß seine Leute sich alle Mühe gaben, ihre Enttäuschung, ihren Mißmut nicht zu zeigen. Sie verhielten sich wunschgemäß, einen ganzen Monat lang gab es ständig Wettkämpfe und freundschaftliche Konkurrenzen aller Art. Verschiedene Preise wurden ausgesetzt; für die beste Spleißarbeit, das schönste Schiffsmodell, für Hornpipe- und Jigtänzer, sogar für die zahllosen kleinen Gegenstände, welche die älteren Matrosen mit großer Liebe und Sorgfalt herstellten: winzige, zierliche Schnupftabaksdosen, aus steinhart getrocknetem Salzfleisch geschnitzt und dann poliert, oder Kämme und Broschen aus Knochen und Glasstückchen.
Aber das konnte nicht von Dauer sein. Kleine Streitigkeiten wuchsen sich zu Schlägereien aus, Unzufriedenheit und Beschwerden zogen wie Giftschwaden durch das Gedränge an Bord; und einmal schlug ein wütender Matrose einen Unteroffizier ins Gesicht. Das brachte ihm selbstverständlich Prügelstrafe ein. Und diese blieb nicht die einzige.
Auch die Offiziere waren gegen die wachsende Unruhe und Unzufriedenheit nicht immun. Bei einem Kartenspiel in der Offiziersmesse hatte Rooke den Zahlmeister des Falschspiels bezichtigt. Hätte Herrick nicht mit fester Hand eingegriffen, hätte der Vorfall blutige Konsequenzen gehabt. Doch auch Herricks wachsames Auge konnte nicht alles sehen.
Der einzige Verbündete Bolithos war das Wetter. Im Verlauf der Wochen verschlechterte es sich beträchtlich, und häufig mußten die Matrosen in einer einzigen Stunde alle Segel setzen und wieder reffen; dann waren sie so müde, daß sie nicht einmal die Energie zum Essen aufbrachten. Allerdings gab es auch nichts Vernünftiges mehr zu essen. Was Bolitho in St. Clar an frischen Lebensmitteln hatte auftreiben können, war bald verbraucht, und jetzt lebte das ganze Schiff von den Grundrationen: Salzfleisch und Schiffszwieback — viel mehr gab es nicht.
In der elften Woche, als die Hyperion die südliche Strecke ihrer Patrouille absegelte, flaute die scharfe Brise ab, die sie tagelang begleitet hatte. Der Wind krimpte ein paar Strich, und dieser Wechsel brachte Regen.
Bolitho stand in Luv auf dem Achterdeck und sah den Regen wie einen eisernen Vorhang auf das Schiff zukommen. Er trug weder Rock noch Hut und ließ sich richtig durchweichen. Im Vergleich zu dem fauligen Trinkwasser schmeckte der Regen wie Wein; und als er mit zusammengekniffenen Augen in den Wind spähte, sah er mehrere der auf dem Oberdeck arbeitenden Matrosen gleich ihm in diesem Himmelsguß stehen, als wollten sie ihre Wut und Niedergeschlagenheit abwaschen lassen.
Tomlin, der Bootsmann, ließ im Vorschiff eiligst Segeltucheimer aufstellen; und Crane, der Küfer, trieb seine Maaten an, die leeren Fässer fertigzumachen, damit sie gefüllt werden konnten, ehe der Regen aufhörte. Und jetzt kann ich nicht einmal mehr sagen, daß ich den Hafen anlaufen muß, um Trinkwasser aufzunehmen, dachte Bolitho mißmutig. So schnell kann aus einem Freund ein Feind werden!
Herrick kam übers Deck. Sein triefendes Haar klebte auf der Stirn.»Wenn es jetzt aufklart, müssen wir Cozar Backbord voraus in Sicht bekommen, Sir. «Er verzog das Gesicht.»Ich sage ascheinend immer wieder dasselbe.»
Da hatte er recht. Wenn sie die Insel sichteten, bedeutete das nur, daß sie eine Seitenlänge ihres Patrouillenreviers absolviert hatten. Die Hyperion fuhr eine Wende und begab sich zum soundsovielten Male auf den langen und langweiligen Törn in Richtung Festland.
Bolitho lehnte sich über die Reling und achtete nicht darauf, daß Regen und Sprühwasser ihm Rücken und Hosenbeine durchnäßten. Kein Wunder, daß die Hyperion so langsam war, bei dem jahrealten Bewuchs an ihrem Unterwasserschiff! Jede Strähne Seegras, jeder Streifen Tang bedeutete eine Meile Ozean unter ihrem geteerten Kiel, jede Muschelkolonie hundert Drehungen des Ruderrades. Bolitho schmeckte Salz zwischen den Zähnen und sah beim Aufblicken, daß der Regen abgezogen war und nur noch im Osten die knüppeligen Wellen aufrauhte.
«An Deck!«Die Stimme des Ausgucks im Masttopp übertönte den Wind.»Segel Backbord voraus!»
Bolitho blickte Herrick an. Sie hatten beide gedacht, der Mann würde Cozar in Sicht melden. Ein Schiff — das war etwas Ungewöhnliches, ein Ereignis.»Lassen Sie das zweite Reff herausnehmen, Mr. Herrick«, sagte Bolitho.»Wir sehen uns das mal näher an.»
Aber das wäre gar nicht nötig gewesen; denn sobald die Brams egel des fremden Schiffes in einem breiten Streifen Sonnenlicht über der Kimm standen, halste es und nahm Kurs direkt auf die Hyperion.
Piper war bereits mit seinem Teleskop in den Besanwanten, als sich die ersten Flaggen an der Rah des Fremden entfalteten.
«Es ist die Harvester, Sir!«Er spuckte aus, denn ein plötzlicher Schwall Spritzwasser war in Luv übergekommen und hätte ihn beinahe von seinem unsicheren Platz gefegt. »Harvester an Hyperion«, keuchte er.»>Habe Depeschen für Sie<.»
Bolitho überlief es; er hätte kaum auf dergleichen zu hoffen gewagt.»Klar zum Beidrehen, Mr. Herrick!»
Kaum hatte die Hyperion mit ihren klatschnassen, laut schlagenden Segeln das Manöver beendet, da war die schnelle Fregatte schon so nahe, daß man die breiten Salzstreifen an ihrem Rumpf erkennen konnte und das nackte Holz, wo die ruhelose See die Farbe wie mit Messern weggekratzt hatte.
Unruhig bebten die Rahen der Fregatte, und das schmale Deck neigte sich, denn Leach drehte in den Wind, bis sein Schiff stampfend in Lee der Hyperion lag.
«Das ist seltsam, Sir«, sagte Herrick.»Er hätte die Depeschen doch an der Leine herüberdriften lassen können. Bei diesem Wind hat ein Boot mächtig zu pullen, bis es hier ist.»
Aber die Harvester ließ bereits ein Boot zu Wasser, und als es endlich von der Bordwand klargekommen war, sah Bolitho, daß nicht etwa ein Midshipman im Boot saß, sondern Captain Leach persönlich.
«Es muß wichtig sein. «Bolitho biß sich auf die Lippen, als das Boot auf einer mächtigen, weißbemähnten Welle beinahe querschlug.»Mr. Tomlin soll sich bereit halten, das Boot längsseit zu nehmen!»
Dann kletterte Leach das Fallreep der Hyperion herauf, nahm sich kaum Zeit zum Atemholen und eilte, den triefenden Dreispitz schief auf dem Kopf, die Augen rotgerändert vor Übermüdung, zum Achterdeck.
Bolitho ging ihm mit langen Schritten entgegen.»Willkommen an Bord! Es ist lange her, daß ich solch einen Beweis bester Seemannschaft gesehen habe!»
Leach starrte Bolithos nasses Hemd und sein zerrauftes Haar an, als erkenne er ihn erst jetzt. Doch er lächelte nicht.»Kann ich Sie allein sprechen, Sir?»
Bolitho wandte sich zur Kampanje; er merkte, daß seine Offiziere aufmerksam geworden waren und daß das Erscheinen der Fregatte gespannte Erregung hervorgerufen hatte. In der schwankenden Kajüte ließ er Leach zunächst ein volles Glas Brandy austrinken und fragte dann:»Nun, was machen Sie hier draußen?»
Leach nahm in einem der grünen Ledersessel Platz und schluckte.»Ich bin hier, weil ich Sie bitten möchte, nach St. Clar zurückzukommen, Sir. «Er wischte sich die salzwunden Lippen, die von dem starken Schnaps heftig brannten.
«Und die Depeschen?«fragte Bolitho.»Sind sie vom Admiral?»
Mit sorgengefurchter Miene blickte Leach auf die Tischplatte nieder.»Ich habe keine Depeschen, Sir. Aber ich mußte irgendeinen Grund angeben, wollte Ihre Männer nicht noch zusätzlich beunruhigen. Es gibt auch so Ärger genug.»
Bolitho setzte sich.»Lassen Sie sich Zeit, Leach. Kommen Sie aus St. Clar?»
Leach schüttelte den Kopf.»Von Cozar. Ich habe gerade die letzte Handvoll Soldaten abgeholt. «Verzweifelt hob er die Augen zur Decke.»Anschließend sollte ich Sie suchen, Sir. Zwei Tage bin ich hinter Ihnen her.»
Bolitho schenkte ihm nochmals ein.»Ich weiß nicht«, fuhr Leach fort,»ob ich richtig handele oder ob das Meuterei ist. Wie die Dinge liegen, kann ich meinem eigenen Urteil nicht mehr trauen.»
Ganz langsam atmete Bolitho aus und zwang seine verkrampften Muskeln, sich zu entspannen.»In St. Clar steht es also schlecht, nehme ich an?»
Leach nickte.»Seit Wochen hämmern die französischen Geschütze auf den Hafen ein. Ich habe Patrouille nach Südosten gefahren; aber jedesmal, wenn ich zum Hafen kam, war es schlimmer. Der Feind machte einen Scheinangriff und brachte es irgendwie fertig, die spanischen Truppen aus ihren Stellungen zu locken. «Er seufzte.»Die feindliche Kavallerie hat sie in Stücke gehauen. Es war ein Massaker. Anscheinend hat niemand gewußt, daß die Franzosen überhaupt Kavallerie hier haben. Und es waren Elitetruppen, Dragoner aus Toulouse.»
«Was plant der Admiral, Leach?«Bolithos Stimme klang ganz ruhig, aber er kochte innerlich bei der Vorstellung, wie die auseinandergetriebene Infanterie unter den gnadenlosen Reitersäbeln fiel.
Unvermittelt und mit steinernem Gesicht stand Leach auf.»Das ist es ja gerade, Sir. Sir Edmund sagt keinen Ton. Keine Befehle, keine Vorbereitungen für einen Gegenangriff, auch nicht für eine Evakuierung!«Fast verzweifelt blickte er Bolitho an.»Anscheinend vertritt ihn Captain Dash. Der hat mich beauftragt, Sie zu suchen und zurückzubringen.»
«Haben Sie Sir Edmund nicht gesprochen?»
«Nein, Sir. «Hilflos hob Leach die Hände.»Ich glaube, er ist krank; aber Dash hat nur sehr wenig erzählt. «Er beugte sich vor.»Die Lage ist verzweifelt, Sir! Überall Panik, und wenn nicht bald was geschieht, fällt die ganze Truppe in Feindeshand!»
Bolitho stand auf und kam zum Tisch herüber.»Sie sagen, Sie haben Leute von Cozar an Bord?»
«Nur ein paar Soldaten und einen jungen Fähnrich«, entgegnete Leach müde.
«Und die Sträflinge?»
Mit ausdrucksloser Stimme erwiderte Leach:»Was die betrifft, so hatte ich keine Befehle. Die Sträflinge sind noch dort.»
Bolitho wandte sich ab. Es lag nahe, Leach als einen herzlosen Narren zu verurteilen. Aber es lag noch näher, die Schwierigkeiten und Bedenken zu sehen, mit denen er konfrontiert war. Dash war Flaggkapitän; doch da er keine schriftliche Order besaß, mußte Leach schon jetzt das Kriegsgericht oder Schlimmeres befürchten.
«Danke, daß Sie offen zu mir sind«, sagte Bolitho ruhig.»Ich segle sofort nach St. Clar zurück. «Nun, da er auf Leachs Vorschlag einging, war er kein bloßer Zuschauer mehr, sondern hatte teil an der Verschwörung. Sein Ton wurde schärfer.»Aber ehe Sie wieder zu mir stoßen, werden Sie nach Cozar zurücksegeln und jeden einzelnen Sträfling von der Insel holen, verstehen Sie?»
Leach nickte.»Wenn das Ihr Wunsch ist, Sir.»
«Es ist ein Befehl. Diese Männer haben mit der ganzen Geschichte nichts zu tun, und ich habe ihnen mein Wort gegeben. Ich will nicht noch mehr Leid verursachen.»
Es klopfte an die Tür, und Herrick meldete:»Entschuldigung, Sir, aber der Wind frischt weiter auf. Er wird bald so stark sein, daß das Boot nicht mehr zur Harvester zurück kann.»
Bolitho nickte.»Captain Leach geht gleich von Bord. «Auf Herricks fragenden Blick fuhr er fort:»Sobald er weg ist, gehen Sie über Stag und nehmen Kurs auf St. Clar. Aber mit jedem Fetzen Tuch, den das Schiff verkraften kann — ist das klar?»
Herrick eilte davon, und Leach sagte tonlos:»Danke, Sir. Was jetzt auch kommt, ich werde nicht bereuen, daß ich bei Ihnen war.»
Bolitho ergriff seine Hand.»Hoffentlich hat keiner von uns es zu bereuen.»
Sobald das Boot der Fregatte abgelegt hatte, schwangen die schweren Rahen herum, und während das Schiff im starken Wind krängte, schwärmten die Toppgasten hinauf, um sich mit den killenden Segeln herumzuschlagen — mit vorgeneigtem Leib preßten sie sich an die Rahen und krallten sich an die Fußpferde, um nicht aufs Deck oder in die kochende See zu stürzen.
Herrick wischte sich schwungvoll einen Schuß Sprühwasser aus den Augen und rief zu Bolitho hinüber:»Ist es in St. Clar schlimmer geworden, Sir?»
Bolitho spürte, wie das Deck unter seinen gespreizten Beinen bockte. Das alte Schiff tat sich schwer bei dem Manöver. Er konnte die Spieren und Planken unter dem verstärkten Druck knarren und quietschen hören; doch als sich mehr und mehr Segel hoch oben mit Wind füllten, bemühte er sich, diese unheimlichen Geräusche, mit denen das Schiff gegen die rauhe Behandlung protestierte, einfach nicht zu hören.»Ich fürchte ja«, beantwortete er Herricks Frage.»Anscheinend wird der Belagerungsring um den Hafen immer enger.»
Ehe Herrick weiterfragen konnte, schritt Bolitho zur Luvreling hinüber. Es hatte keinen Sinn, ihm zu erklären, daß ein gut Teil von dem, was St. Clar jetzt zu leiden hatte, offenbar aus der Stadt selbst kam. Vielleicht nahm Herrick es ihm übel, daß er so auf Distanz gehalten wurde; aber wenn es zu einer Kriegsgerichtsverhandlung kam, konnte er dann wenigstens nicht als Mitschuldiger gelten.
Gossett fragte:»Sie wollen doch nicht etwa die Royals setzen, Mr. Herrick?»
Bolitho fuhr herum.»Aber ich, Mr. Gossett! Sie haben immer den Mund vollgenommen, was das Schiff alles leisten könne. Jetzt beweisen Sie es!»
Gossett wollte protestieren, sah aber Bolithos trotzige Schulterhaltung, und da ließ er es lieber.
«Pfeifen Sie >Alle Mann<!«befahl Herrick.»Und der Segelmacher soll kommen, damit jedes Segel, das reißt, gleich ersetzt werden kann. «Er wandte sich wieder um und schaute besorgt zu Bo-litho hinüber, der auf dem schrägen Deck auf und ab ging. Er war bis auf die Haut durchnäßt, und sein verwundeter Arm, der nicht mehr verbunden war und aus dem der Arzt erst kürzlich die Fäden gezogen hatte, streifte beim Gehen gegen die Netze; aber das schien er gar nicht zu bemerken.
Er trägt für uns alle, dachte Herrick. Immer sorgt er sich, aber helfen lassen will er sich nicht. Er packte die Reling, denn ein langer Brecher hob das Heck und rollte tosend unter den Decksgängen dahin. Die Pumpen klapperten lauter denn je, und als Herrick sich die brennenden Augen wischte, sah er, daß sich die Rahen unter dem Druck der geschwellten Segel bogen, die so hart schienen wie Stahl. Aber die Hyperion reagierte. Gott mag wissen wie, dachte er verwundert, aber dieser alte Kasten scheint zu verstehen, wie wichtig es für den Captain ist — sogar besser als wir.
Und doch brauchte die Hyperion zwei volle, nervenzermürbende Tage bis St. Clar, denn sie mußte fast gegen den Wind segeln, und keiner an Bord kam zur Ruhe. Wenn die Matrosen nicht beim Segelsetzen waren oder an den Pumpen werkten, hatten sie es mit einer immer länger werdenden Reparaturliste zu tun: es gab zu flicken und zu spleißen, als hinge das Leben davon ab — und das war auch der Fall. Denn obwohl der Wind ständig in den strapazierten Segeln heulte und die Hyperion so gefährlich krängte, daß die See über die unteren Stückpforten wusch, knüppelte Bolitho das Schiff ohne Rast oder Rücksicht auf Verluste voran. Es war ein Kampf, in dem Schiff und Kapitän miteinander wetteiferten; der wütende Wind und die grollende See waren beider gemeinsame Feinde.
Weder Offiziere noch Matrosen beobachteten mehr die gefährlich gebogenen Rahen oder hörten das schmerzliche Jaulen des Rigges. Darüber waren sie hinaus. Wer noch Zeit und Kraft zum Nachdenken hatte, sparte sie für Bolitho auf, der das Schiff durch eine Krise nach der anderen führte und wunderbarerweise weder Essen noch Schlaf zu brauchen schien.
Während der Vormittagswache des zweiten Tages rundete die Hyperion den nördlichen Arm der Bucht und kreuzte dankbar in die Hafeneinfahrt. Aber jede Hoffnung auf eine Atempause schwand sofort bei dem Anblick, der die müde Mannschaft erwartete; und angstvolle Minuten vergingen, bis der Anker ganz vorn, noch zwischen den Armen der Hafeneinfahrt, fiel. Hier, im tiefen Wasser, wo sie vor der vollen Kraft des Windes geschützt waren, hörten sie deutlich das bedrohliche Donnern der Artillerie und gelegentlich auch das Krachen einstürzenden Mauerwerks, wenn eine wohlgezielte Kanonenkugel ein Haus in der Stadt getroffen hatte.
Bolitho suchte mit dem Glas die Uferfront ab und sah den großen Rauchpilz hinter den geduckten Häusern, die wüsten Narben und Löcher. Er hatte so weit draußen ankern müssen, weil der innere Hafen voller Schiffe lag, die das Geschützfeuer von draußen hereingetrieben hatte. Die Tenacious und die Princesa, das spanische Schiff, lagen am nächsten bei der Stadt; zwei Transporter schwoj-ten an den Ankertrossen und hatten kaum genug Zwischenraum, um nicht zu kollidieren, wenn der Wind plötzlich umsprang. Bo-litho schob das Glas heftig zusammen. Zusammengetrieben. In der letzten Zuflucht, die ihnen noch blieb und im Angesicht des Feindes zusammengedrängt. Keine Rückzugsmöglichkeit mehr. Nur noch die See im Rücken.
«Mein Boot!«befahl er scharf.»Ich fahre ins Hauptquartier zum Admiral. «Er hatte sofort gesehen, daß die Admiralsflagge nicht mehr auf der Tenacious wehte.
Herrick kam raschen Schrittes nach achtern.»Soll ich mitkommen, Sir?»
Bolitho schüttelte den Kopf.»Sie übernehmen das Schiff, bis ich zurückkehre. Passen Sie gut auf die Ankertrosse auf, damit sie sich nicht losreißt und zu ihrer alten Feindin an die Küste treibt. «Trübe starrte er auf die verkohlten Reste der Saphir unterhalb des Leuchtfeuers.»Anscheinend sind wir gerade zum letzten Akt der Tragödie zurechtgekommen.»
Allday kommandierte die Männer an den Davits, die sein Boot über die Leeschanz abfierten.»Ich nehme Mr. Inch und zwölf gute Männer, bewaffnet und in anständigen Uniformen. Ganz gleich, wie es steht, meine Leute sollen nicht wie ein Haufen Zigeuner aussehen.»
Gossett sagte in die Luft hinein:»Wie ich sehe, ist die Vanessa, das Transportschiff, ausgelaufen. Kann froh sein, daß sie weg ist. «Bolitho ließ sich von Gimlett in den Uniformrock helfen. Daß die
Vanessa St. Clar verlassen hat, dachte er grimmig, ist noch der einzige Lichtblick an diesem Wolkenhimmel. Er hatte Ashby ausdrücklich angewiesen, das Mädchen auf das erste Schiff zu setzen, das nach England auslief, hatte Cheney Geld und einen Brief an seine Schwester in Falmouth mitgegeben. Wenn sie es tatsächlich bis nach Falmouth schaffte, würde sie gut versorgt sein.
«Boot ist klar, Sir. «Leutnant Rooke sah ihn gespannt an.»Sieht so aus, als sei alles umsonst gewesen, Sir, nicht wahr?»
Bolitho zog den Dreispitz fest in die Stirn und entgegnete:»Ein kalkuliertes Risiko ist niemals völlig umsonst, Mr. Rooke. Als Kartenspieler müßten Sie das doch wissen. «Dann kletterte er eilends ins Boot, wo Inch und seine Abteilung bereits zusammengepreßt wie Heringe in der Tonne hockten.
Während das Boot stetig an den anderen Schiffen vorbeizog, sah Bolitho deren Matrosen auf den Decksgängen oder in den Masten stehen. Stumm und aufmerksam beobachteten sie die Stadt. Vermutlich wußten sie, daß ihre Schiffe unter diesen Umständen völlig hilflos waren. Sie konnten weiter nichts tun als aufpassen und auf den unvermeidbaren Rückzug warten.
Weiter drin im Hafen war eine zweite Sperre gelegt worden, doch nicht, um Schiffe an der Einfahrt zu hindern. Bolitho sah längs der Balken die Wracks mehrerer Fischerboote und anderer kleiner Fahrzeuge, manche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Sperre hatte wohl verhindern sollen, daß sie auf die ankernden Schiffe zutrieben. Ein Brander mußte dieses vollgestopfte Hafenbecken in eine Flammenhölle verwandeln, aus der kein Mensch mehr herauskam.
Stumm pullten die Rudergasten; ihre Blicke flogen umher und entdeckten ein Unheilszeichen nach dem anderen. Am schlimmsten waren die Häuser der Nordseite getroffen. Mehr als eins brannte lichterloh, anscheinend ohne daß jemand löschte. Aufgerissene Dachstühle gähnten den Himmel an. Auch am Landungssteg lagen einige kleinere Wracks, und beim Anlegen bemerkte Bolitho ein bleiches, nach oben gewandtes Gesicht unter der klaren Wasseroberfläche, das mit weit offenen Augen noch in das Land der Lebenden starrte. Kurz befahl er:»Allday, Sie bleiben mit der Mannschaft hier. Ich gehe in die Stadt. «Er hakte den Degen im Gehänge los.»Kann sein, daß es Ärger gibt, also passen Sie gut auf!»
Allday nickte und zog seinen Entersäbel.»Aye, aye, Captain. «Er schnupperte in der Luft wie ein Hund.»Sie brauchen bloß Bescheid zu sagen, dann kommen wir.»
Eilends schritt Bolitho die ansteigende Straße hinauf, die Matrosen der Landeabteilung hielten sich dicht hinter ihm. Es war noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Geduckte Gestalten hockten wie Tiere in den Ruinen. Aus Angst oder Trotz wollten sie ihre zerstörten Heimstätten wohl nicht verlassen. Im Trümmergeröll, in dem allgemeinen Durcheinander offenbar übersehen, lagen Leichen. Über den prasselnden Flammen hörte er ab und zu das Jaulen eines Artilleriegeschosses, dem jedesmal ein krachender Einschlag folgte.
Keuchend und schweißüberströmt rannte Inch neben ihm.»Hört sich nach schwerem Kaliber an, Sir. Die Franzosen müssen schon in den südlichen Bergen sitzen, daß sie bis hier hereinschießen können. «Er zuckte zusammen, als es krachend in ein nahes Haus einschlug und eine Lawine von Staub und zerbrochenen Ziegeln herunterprasselte.
An der Ecke des Marktplatzes sah Bolitho ein kleines Detache-ment pulvergeschwärzter Marine — Infanteristen. Sie lagerten um ein Feuer und starrten wortlos auf einen mächtigen schwarzen Topf darüber. Überrascht sah er, daß es Männer von der Hyperion waren. Auch sie wandten sich nach ihm um; ein riesiger Sergeant sprang auf und nahm Haltung an, den dampfenden Napf noch in der Hand.
Bolitho nickte grüßend.»Sergeant Best, freut mich, daß ihr es euch gemütlich macht.»
Der Seesoldat grinste über das ganze schmutzige Gesicht.»Aye, Sir. Hauptmann Ashby hat unsere Leute rings um das Hauptquartier verteilt. «Er deutete zum Haus hinüber.»Die Artillerie versucht immer wieder, 'ne Breitseite draufzusetzen, aber die Kirche ist im Wege. «Er verstummte, denn eine Kugel schlug in die Kirchturmspitze und riß den blinkenden Wetterhahn ab, der wie ein Vogelbalg auf den Platz fiel.»Besser gezielt diesmal«, bemerkte er mit der Sachlichkeit des Berufssoldaten.
Wütend schritt Bolitho zum Tor. Hinter der Mauer waren noch mehr Seesoldaten. Einige schliefen neben den zusammengesetzten Musketen, andere standen herum oder hockten auf den Treppenstufen. Ihre Gesichter waren von Müdigkeit und Anstrengung gezeichnet. Doch als Bolitho näher kam, kommandierte ein Korporal heiser: «Hyperion, Ach… tung!«Wie aus einer Art Betäubung erwacht, taumelten sie hoch, rissen sich zusammen und nahmen Haltung an. Und auf den trübseligen Gesichtern erschien tatsächlich eine Art Freudenschimmer, als sie ihren Kommandanten erkannten. Einer rief:»Fein, daß Sie wieder da sind, Sir! Wann kommen wir hier weg?»
Eilig schritt Bolitho zur Tür.»Ich dachte, euch geht's hier zu gut, da bin ich lieber gekommen, damit ihr wieder vernünftig zu tun kriegt!»
Es war erschütternd, daß sie über diese dumme Bemerkung lachten.
Sie vertrauten ihm; sein bloßer Anblick gab ihnen Sicherheit, als könne seine Leutseligkeit und das Gefühl, zum selben Schiff zu gehören, ihre Lage völlig ändern.
Drinnen sah er Kapitän Dash an Pomfrets großem Schreibtisch sitzen, den Kopf auf die Arme gesunken.
Er sagte zu Inch:»Warten Sie draußen und halten Sie die Leute beisammen!«Damit schloß er die Tür hinter sich und trat zum Schreibtisch.
Dash rieb sich die Augen und starrte ihn an.»Mein Gott, ich träume wohl noch!«Unsicher stand er auf.»Freue mich, daß Sie da sind.»
Bolitho setzte sich auf die Tischecke.»Ich wäre schon früher gekommen, aber. «Er zuckte die Achseln. Das lag jetzt alles in der Vergangenheit.»Wie schlecht steht es?»
Müde und lustlos schlug Dash auf die große Karte.»Hoffnungslos, Bolitho. Der Feind bekommt jeden Tag mehr Verstärkung. «Sein Finger zog den Lageplan der Stadt nach.»Unsere Leute sind hier eingeschlossen. Wir mußten die Bergstellung aufgeben, und die Straße auch. Die ganze Front weicht zurück. Morgen kämpfen wir vielleicht schon in den Straßen. «Er tippte auf den südlichen Arm der Bucht.»Wenn sie uns da rausschmeißen, sind wir erledigt. Sobald die Franzosen Artillerie auf dem Landvorsprung haben, können sie in ein paar Stunden unsere Schiffe zu Brennholz schießen. Wir kämen nicht mal aus dem Hafen!»
Bolitho musterte Dash scharf. Irgendwie hatte er sich verändert.»Und was tut der Admiral?«fragte er leise.
Dash fuhr zusammen und erbleichte.»Sir Edmund ist krank«, antwortete er.»Ich dachte, Sie wissen das.»
«Ja, Leach hat mir so was angedeutet. «Er sah, daß Dashs Hände nervös zuckten.»Aber was ist nun wirklich mit ihm?»
Dash ging ans Fenster.»Eine Brigg brachte Depeschen aus Tou-lon. Die ganze Geschichte ist aus und vorbei. Lord Hood hatte Order gegeben, den Hafen zu räumen und vorher alle Hafenanlagen zu zerstören. «Er duckte sich unwillkürlich, denn ein naher Einschlag ließ weißen Staub von der Decke rieseln. Dann fuhr er wütend fort:»Als ob es hier noch viel zu zerstören gäbe!»
Bolithos Bauchmuskeln krampften sich zusammen.»Und Tou-lon?«fragte er. Aber er konnte sich die Antwort schon denken.
Dash zuckte heftig die Achseln.»Da steht es genauso schlecht. Innerhalb der nächsten Wochen räumen wir Toulon.»
Bolitho stand auf und verschränkte die Hände auf dem Rücken.»Aber was hat nun der Admiral gesagt?»
«Ich dachte, er wird verrückt. «Dash wandte sich ab, so daß sein Gesicht im Schatten lag.»Er tobte und raste, beschimpfte alle, mich eingeschlossen, und dann zog er sich in sein Zimmer zurück.»
«Wann war das?«Bolitho wußte, daß er das Schlimmste noch nicht gehört hatte.
«Vor zwei Wochen.»
«Zwei Wochen!«Bolitho starrte Dash entsetzt an.»Und was, um Gottes willen, haben Sie in der Zeit unternommen?»
Dash wurde rot.»Sie müssen das von meinem Standpunkt aus betrachten, Bolitho. Ich bin kein Aristokrat, das wissen Sie. Ich habe mich mit Zähnen und Klauen vom Unterdeck nach oben gekämpft. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaubte nie, daß ich so weit kommen würde. «Seine Stimme wurde hart.»Aber nun, da ich es geschafft habe, werde ich auch alles tun, um meinen Rang zu behalten.»
Kalt entgegnete Bolitho:»Ob es Ihnen nun paßt oder nicht — Sie haben hier den Oberbefehl, solange Pomfret krank ist. «Er schlug mit der Faust auf den Tisch.»Sie müssen handeln! Sie haben gar keine andere Möglichkeit!»
Dash hob die Arme.»Diese Verantwortung kann ich nicht übernehmen. Was würde Sir Edmund mit mir anstellen? Und was würde man in England dazu sagen?»
Bolitho musterte ihn sekundenlang. In der Schlacht hatte Dash bestimmt vor nichts und niemandem Angst. Mit halbzerschossenem Schiff und gegen jede Übermacht hätte er bis zum bitteren Ende gekämpft. Aber einer Situation wie dieser war er nicht gewachsen.
Dann dachte er an die zerschossene Stadt, an Männer wie Fowler, die damals den ersten Sieg ermöglicht hatten. Schonungslos erwiderte er:»Glauben Sie tatsächlich, Ihre Karriere oder sogar Ihr Leben seien so wichtig?«Er sah, daß Dash sich wie unter einem Schlag krümmte, fuhr aber fort:»Denken Sie an die Menschen, die von Ihnen abhängig sind — und dann sagen Sie mir, daß Sie immer noch zögern!»
Gepreßt entgegnete Dash:»Ich habe nach Ihnen geschickt, weil Sie Bescheid wissen sollten…»
«Ich weiß schon, wozu Sie mich brauchen, Captain Dash!«Bo-litho blickte ihm über die staubbedeckte Karte hinweg in die Augen.»Ich soll Ihnen den Rücken stärken, Ihnen bestätigen, daß Ihre Maßnahme richtig ist. «Er wandte sich ab, denn von Dashs Unsicherheit und der Grausamkeit seiner eigenen Worte wurde ihm fast übel.
«Das will ich nicht bestreiten«, erwiderte Dash schweratmend.»Ich war immer ein Mann, der Befehle ausführt. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, dafür reicht's bei mir. Aber in einer solchen Situation bin ich verloren, so wahr mir Gott helfe!«Er senkte den Blick auf die Karte.
«Na schön. «Bolitho hätte gern den Schmerz gelindert, den er diesem Mann zugefügt hatte; doch die Zeit drängte. Es war überhaupt keine Zeit mehr.»Ich rede mit Pomfret. Inzwischen berufen Sie eine Lagebesprechung ein. «Er bemühte sich, seine Bitterkeit zu überwinden.»Bitten Sie alle Offiziere hier in dieses Zimmer. In einer Stunde — können Sie das schaffen? Und holen Sie auch La-bouret dazu, den Bürgermeister.»
«Sind Sie sich auch klar, daß. Und wenn jetzt etwas schiefgeht, Bolitho?«murmelte Dash.
«Dann müssen Sie den Kopf hinhalten, Dash. Und ich genauso — aber das wird Ihnen kein Trost sein.»
Er schritt zur Tür und sagte abschließend:»Eins jedoch ist ganz sicher, Captain Dash. Wenn Sie hier sitzenbleiben und nichts tun, werden Sie Ihr Gesicht nie wieder im Spiegel sehen können. Denn das würde bedeuten, daß Sie der Verantwortung, nach der Sie Ihr Leben lang gestrebt haben, nicht gewachsen waren. Daß Sie das eine Mal, als es wirklich darauf ankam, versagten.»
Damit wandte er sich ab und trat hinaus.»Mr. Inch«, befahl er kurz,»melden Sie sich bei Captain Dash. Er wird Ordonnanzen brauchen. Kümmern Sie sich sofort darum!»
Sodann eilte er die geschwungene Treppe hinauf. Oben stand ein Marine-Infanterist vor einer Tür Posten. Drinnen im Zimmer war es stockdunkel; und während Bolitho sich zum Fenster tastete, rollte etwas unter seinem Fuß weg und klirrte gegen die Wand. Aber seine Nase hatte ihm schon verraten, was es mit Pomfrets Krankheit auf sich hatte. Als er die Vorhänge aufzog und sich im Zimmer umsah, stieg Übelkeit in ihm hoch.
Pomfret lag, Arme und Beine von sich gestreckt, auf dem breiten Bett. Sein Mund stand weit offen, sein Atem ging schwer und mühsam. Um das Bett herum und überall auf dem prächtigen Teppich lagen leere Flaschen, zerbrochene Gläser, allerlei Kleidungsstücke, Möbel, die so aussahen, als hätte sie der Admiral mit bloßen Händen zertrümmert.
Bolitho biß die Zähne zusammen und beugte sich über das Bett. Pomfrets unrasiertes Gesicht war wächsern und verschwitzt. Auf der Bettdecke lag Erbrochenes, und der ganze Raum stank wie eine üble Spelunke. Er faßte Pomfret bei der Schulter und schüttelte ihn; es war ihm völlig egal, wie der Admiral darauf reagierte. Doch er schien einen Leichnam zu schütteln.»Wachen Sie auf, verdammt!«Er schüttelte stärker. Pomfret stöhnte dumpf, aber das war auch alles. Dann fiel Bolithos Blick auf ein zerknülltes Stück Papier auf dem Nachttisch. Er sah das wohlbekannte Dienstsiegel, das Wappen über dem sauber geschriebenen Text. Er ging um das Bett herum und machte sich daran, Pomfrets Order aus Toulon zu lesen. Einmal hielt er inne und wandte den Kopf, um in Pomfrets schlaffes Gesicht zu blicken. Jetzt wurde ihm alles klar: Herricks Bemerkung, daß Pomfret hier seine letzte Bewährungschance bekommen hatte. Die Verbissenheit, mit der er von St. Clar aus den Sieg über Frankreich erzwingen wollte. Und hätte er Hilfe und die versprochenen Verstärkungen bekommen, wäre ihm das vielleicht sogar geglückt — ein trauriger Gedanke.
Bolitho las weiter; und mit jeder Zeile begriff er mehr, wuchs seine Verzweiflung. Niemals war wirklich beabsichtigt gewesen, St. Clar länger zu halten als nötig, um den Feind von Toulon abzulenken. Pomfret hatte die Kastanien aus dem Feuer holen sollen, weiter nichts. Wäre die Invasion von Toulon aus erfolgreich gewesen — nun ja. Aber wie die Dinge lagen, blieb Lord Hood jetzt keine Zeit mehr für Pomfrets Sorgen — er hatte seine eigenen. Die Order enthielt genaue Anweisungen für die Zerstörung der Hafeneinrichtungen vor der Räumung; doch Bolitho blieb an dem letzten Teil des Textes hängen — sein Herz erstarrte bei dem eiskalten Satz:»In Anbetracht des beschränkten Schiffsraums und der Nähe der feindlichen Streitkräfte ist keinerlei Evakuierung von Zivilisten möglich.»
Bolitho starrte auf die säuberliche Schrift, bis sie vor seinen Augen zu tanzen begann. So mußte Pomfret hier gesessen und den Befehl gelesen haben. In Zukunft würde er der Mann sein, der die königstreuen Bürger von St. Clar ihrem Schicksal überlassen hatte, einer mörderischen Vergeltung, zu schrecklich, um sie sich auszudenken. Wieder wandte sich Bolitho um und blickte in des Admi-rals Gesicht.»Und er hatte keine Schuld«, sagte er laut.»Herrgott im Himmel, es war von Anfang an nur eine Finte und hatte überhaupt nichts zu bedeuten!«Mit einem Fluch knüllte er das Papier zusammen und schleuderte es durch den Raum.
Er erinnerte sich an Herricks Erstaunen, als Pomfret damals das Glas Wein abgelehnt hatte. Auch damit war es jetzt vorbei. In immer schrecklicherer Deutlichkeit sah er, wie unheilbar Pomfret ruiniert war.
Während dieser ganzen Zeit, als Menschen starben und Familien von den Trümmern ihrer Häuser zerschmettert wurden, hatten zwei Männer tatenlos zugesehen und sich geweigert zu handeln: Unten im Erdgeschoß hatte Dash auf einen Befehl gewartet, der ihm die Verantwortung abnahm; und was Cobban getan hatte, wußte Gott allein — vielleicht lebte er auch gar nicht mehr.
Beim Aufstehen erblickte sich Bolitho in einem goldgerahmten Spiegel. Seine Augen glühten, und tiefe Linien der Erschütterung zogen sich um seinen Mund. Er war sich selbst ganz fremd. »Ich habe das Ganze angefangen — nicht er«, murmelte er. Pomfret auf seinem Bett stöhnte, Speichel rann ihm über die Wange. Draußen stand Fanshawe müßig an einem Flurfenster.»Kommen Sie herein!«Der Flaggleutnant fuhr herum, als hätte jemand auf ihn geschossen. Bolitho blickte ihn unbewegt an, und als er sprach, war seine Stimme eiskalt.»Kümmern Sie sich um den Admiral und lassen Sie das Zimmer saubermachen!«Nervös blickte Fanshawe zur Tür.»Die Dienerschaft ist geflohen,
Sir.»
Bolitho packte ihn beim Ärmel.»Dann machen Sie eben selbst sauber. Wenn ich zurückkomme, ist es in Ordnung! Ich schicke Ihnen meinen Bootsmann, der kann Ihnen helfen, aber sonst kriegt kein Mensch den Admiral so zu sehen, verstanden ?«Heftig schüttelte er den Leutnant am Arm, um seine Worte zu unterstreichen.»Unsere Leute wissen davon nichts. «Er senkte die Stimme.»Und sie sind von uns abhängig, Gott helfe ihnen!»
Ohne ein weiteres Wort ging er die Treppe hinunter. Der Kopf wirbelte ihm; kaum vernahm er das Dröhnen der Geschütze rings um die Stadt.
Er trat ins Freie und machte eine Runde um das Haus, damit sich seine Gedanken sammeln konnten. Als er wieder in das getäfelte Arbeitszimmer trat, warteten die anderen bereits.
Labouret saß in einem Sessel, das Kinn war ihm auf die Brust gesunken; aber als Bolitho durch die Tür trat, sprang er auf und ergriff stumm seine beiden Hände.
Bolitho blickte ihn an; nur zu deutlich sah er den Schmerz und die Verzweiflung in den dunklen Augen des Bürgermeisters.»Ich weiß, Labouret«, sagte er leise.»Glauben Sie mir, ich verstehe alles.»
Trübe nickte Labouret.»Es hätte ein großer Sieg werden können, m'sieur.«Er senkte die Augen, aber Bolitho hatte schon gesehen, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen.
Hauptmann Ashby grinste:»Es freut mich, daß Sie wieder hier sind, Sir, mehr, als ich sagen kann!»
Bolitho blickte sich im Zimmer um.»Wo ist Colonel Cobban?»
Ein junger Infanterie-Hauptmann sagte rasch:»Er hat mich geschickt, Sir. Er, äh, konnte nicht kommen.»
«Spielt auch keine Rolle«, sagte Bolitho kalt. Der spanische Oberst saß in demselben Sessel wie damals; seine Uniform war so sauber und gepflegt, als käme er geradewegs von der Parade. Er nickte Bolitho kurz zu und starrte dann wieder auf seine Stiefel.
Mühsam sagte Kapitän Dash:»Äh — wenn Sie anfangen wollen,
Bolitho?»
Bolitho wandte sich den anderen zu. Dash hatte noch nicht offiziell bekanntgegeben, daß er Bolitho die Befehlsgewalt übertragen hatte.»Viel Zeit bleibt nicht mehr«, sagte er gelassen.»Wir beginnen unverzüglich mit der totalen Räumung. «Sie sahen einander an. Überrascht? Erleichtert? Schwer zu sagen. Er fuhr fort:»Wir geben ein generelles Signal an das gesamte Geschwader, damit es Boote schickt. Zuerst die Verwundeten — sind es viele?»
«Über vierhundert, Sir«, meldete ein Infanterist.
«Schön. Sie werden unverzüglich an Bord der Erebus und der Weiland geschafft. Captain Dash regelt den Einsatz unserer Matrosen, die bei der Einschiffung helfen. «Er blickte kurz zu Dash hinüber; halb und halb erwartete er einen Einwand, aber Dash nickte bloß und murmelte:»Wird sofort erledigt.»
Bolitho sah ihm nach, als er hinausging. Mein Gott, dachte er müde, der ist froh, daß er hier weg kann.
Dann vergaß er Dash, als Labouret leise fragte:»Was soll ich meinen Leuten sagen, capitaine? Wie kann ich ihnen noch ins Gesicht sehen?«Offenbar wußte er, was in Pomfrets Order stand, oder er konnte es sich denken.
Bolitho sah ihn an.»Bis Sie festgestellt haben, wie viele Ihrer Mitbürger die Stadt mit uns verlassen wollen, werden wir mit der Einschiffung der Verwundeten fertig sein, monsieur.«Er sah, wie die Lippen des Franzosen zitterten, und fuhr rasch fort:»Alle, die wegwollen, fahren mit. Ich kann Ihnen nicht viel versprechen, mein Freund, aber wenigstens werden sie ihres Lebens sicher sein.»
Sekundenlang starrte Labouret ihn an, als wolle er ein Geheimnis enträtseln. Dann erwiderte er erstickt:»Das werden wir Ihnen nie vergessen, capitaine! Niemals!«Damit ging er.
Dann fuhr Bolitho fort:»Die Harvester wird bald einlaufen, sie hat die Sträflinge an Bord. Auch die müssen auf die beiden Transporter verteilt werden.»
Jetzt fuhr der spanische Oberst aus seinem Sessel auf.»Was reden Sie da? Verwundete und elende Bauern und obendrein noch Sträflinge? Was aber wird aus meinen Pferden, capitano? Wie kann ich die auf zwei Schiffen unterbringen?»
Zögernd schloß sich der Infanteriehauptmann seiner Frage an:
«Und die Geschütze, Sir?»
Bolitho blickte durch die offene Tür. Eben führte ein Seesoldat Allday die Treppe hinauf zu Pomfrets Zimmer.»Die müssen eben hierbleiben, meine Herren«, erwiderte er kühl.»Zuerst kommen die Menschen. «Sie starrten ihn an, doch er blickte ihnen in die Augen, bis sie wegsahen.»Dieses eine Mal kommen die Menschen zuerst.»
Der Oberst stand auf und ging zur Tür. Heiser sagte er über die Schulter zurück:»Ich halte Sie für einen Narren, capitano. Aber einen tapferen Narren.»
Als draußen sein Pferd hinweggetrabt war, sagte Bolitho:»Jetzt zeigen Sie mir unsere Infanteriestellungen. Diese Operation muß absolut glatt und ohne Panik ablaufen, wenn sie klappen soll.»
Eine halbe Stunde später gingen sie, alle außer Ashby. Bolitho fühlte sich völlig ausgelaugt.»Nun, Ashby, haben Sie noch Fragen?»
Ashby zog sich den Uniformrock glatt und rückte an seinem Koppel. Dann sagte er:»Ich hatte noch keine Zeit, es Ihnen zu sagen, Sir. Aber Miss Seton ist noch hier in St. Clar.»
«Was?«Bolitho starrte ihn entsetzt an.
«Ich habe versucht, sie an Bord der Vanessa zu bringen, Sir«, erklärte Ashby mit unglücklicher Miene.»Aber sie wollte unbedingt bleiben. Sie hilft im Lazarett. «Seine Augen glänzten in dem staubigen Sonnenlicht.»Sie ist ein Beispiel und Vorbild für alle, Sir.»
«Danke, Ashby«, entgegnete Bolitho ruhig.»Ich werde selbst mit ihr sprechen. «Er nahm seinen Hut und trat hinaus auf die Straße, in das Krachen des Artilleriebeschusses.