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Lieutenant Ernest Quarme trat in die Kapitänskajüte, den Hut vorschriftsmäßig unter dem linken Arm, und kniff die Augen zusammen, weil ihn das helle Sonnenlicht blendete, das durch die hohen Heckfenster fiel und Wände und Mobiliar in einem seltsam grünlichen Schein erglänzen ließ.»Sie haben befohlen, Sir?»
Bolitho lehnte am Fenster und starrte ins Kielwasser der Hyperion, das träge und blasenwerfend von dem algenbewachsenen Ruder ablief. Er brauchte ein paar Sekunden, um seine Augen an das Halbdunkel der Kajüte zu gewöhnen; dann setzte er sich auf die Fensterbank und winkte Quarme auf den Stuhl daneben. Er merkte, daß der Erste ihn gespannt ansah, obwohl seine Gesichtszüge nichts von dem verrieten, was er denken mochte — Bolitho konnte nur hoffen, daß seine eigene Miene ebenso undurchdringlich war.
Knarrend und flüsternd dümpelte das Schiff langsam auf Südostkurs. Die Segel waren kaum gefüllt, boten aber den Männern, die an Deck arbeiteten, immerhin Schutz vor der Sonne. Gedämpft waren die Hammerschläge und das Knirschen der Sägen zu hören, denn Cuppage, der Schiffszimmermann, reparierte mit seinen Maaten die Schäden und Narben, die der kurze heftige Kampf hinterlassen hatte.
Bolitho rieb sich die Augen und versuchte, die Müdigkeit zu vertreiben. Wenn nur auch die anderen Narben so leicht zu beseitigen gewesen wären. Aber Wut, Erleichterung über das glückliche Entkommen, dazu die Erregung des Kampfes waren bald in dumpfen Trübsinn umgeschlagen, der wie eine Gewitterwolke über dem ganzen Schiff hing. Das kurze, einseitige Gefecht lag jetzt zwei Tage zurück: zwei Tage eintönigen Aufkreuzens und Patrouillierens, wobei sie ständig die Insel und ihre Flagge als höhnische Erinnerung an ihren Mißerfolg vor Augen hatten.
Wieder und wieder hatte sich Bolitho den Kopf nach einem Plan zermartert; aber jeder Plan erschien ihm immer fragwürdiger und gefährlicher, je mehr Zeit verstrich.
Doch an diesem Morgen war die Entscheidung gefallen. Als es dämmerte, lag die Hyperion etwa sieben Meilen westlich der Insel. Dieses Gebiet hatte sich Bolitho ausgesucht, weil er es für die geeignete Basis zu einem raschen Vorstoß auf den geschützten Hafen hielt und er den vorherrschend ablandigen Wind ausnutzen konnte. Er hatte die Princesa, das spanische Vierundsechzig-Kanonen-Schiff, an die andere Seite der Insel beordert, wo sie die beste Möglichkeit hatte, die von den Franzosen gekaperte Schaluppe Fairfax abzufangen, wenn sie versuchen sollte, auf diesem Kurs zu entwischen.
Die Schaluppe war ein wichtiges Glied in seiner Gesamtplanung. Die französische Garnison hatte kein anderes Schiff zur Verfügung, um die Nachricht von Moresbys Angriff und dem patrouillierenden britischen Geschwader zum Festland zu melden, und wenn von dort nicht ein Versorgungsschiff kam, würde Cozar im Belagerungszustand bleiben. Bolitho hatte mit der Idee gespielt, die Fairfax mit einem Handstreich herauszuholen; aber davon war er sofort abgekommen. Insgeheim wußte er, daß diese Idee mehr Balsam für seinen verletzten Stolz als wirklich von Wert war. Moresbys Angriff war der Hyperion schon teuer genug zu stehen gekommen: acht Tote und sechzehn Verwundete. Und der Schaden für die Kampfmoral war überhaupt nicht zu messen.
Doch als das Morgenlicht stärker wurde, hatte der Ausguck gemeldet, daß von der Fairfax nichts mehr zu sehen sei. Das war der entscheidende Schlag. Irgendwie mußte sie in der Nacht entwischt sein; jetzt, als die Mittagssonne gnadenlos auf das ausgebleichte Deck niederbrannte, ankerte sie bestimmt schon in St. Clar und überbrachte die Sensationsmeldung von dem abgeschlagenen Angriff der Engländer. Die Küstenverteidigung würde alarmiert werden und, was noch schlimmer war, die Franzosen würden erfahren, wie stark das abgeschlagene britische Geschwader war. Höchstwahrscheinlich warteten in den Buchten und Häfen dieses französischen Küstenstrichs mehrere Linienschiffe schon auf die Chance, die Schmach der Hoodschen Blockade zu rächen. Es war bekannt, daß mehrere solcher Schiffe durch die britischen Sperren geschlüpft waren, und vermutlich befand sich bereits Verstärkung für sie in unmittelbarer Nähe.
Bolitho zürnte sich selbst, weil ihm die Fairfax durch die Lappen gegangen war. Allerdings hätte er damit rechnen können, denn kein Linienschiff war schnell genug, eine Sloop im Dunkeln zu erwischen, und die Batterie dort oben sorgte schon dafür, daß die Hyperion bei Tageslicht nicht zu dicht herankam.
Nachdenklich blickte Bolitho zu Quarme hinüber.»Wie ist die Sicht jetzt?»
Quarme zuckte die Achseln.»Ändert sich stündlich, Sir. Augenblicklich knapp zwei Meilen.»
Bolitho nickte. Seit dem ersten Tageslicht hatte der Wind immer mehr abgeflaut, so daß die milchige See sich nur wenig kräuselte — ein paar elende kleine Böen hatten sie gerade so viel angetrieben, daß das Schiff sich steuern ließ. Im Lauf des Morgens war Nebel aufgekommen, der hin und her wogte und manchmal sogar die Insel längere Zeit verhüllte. Spielt auch keine Rolle mehr, dachte er resigniert; die Garnison weiß sowieso, daß wir da sind. Und die Schaluppe war entwischt.
«Darf ich fragen, was Sie vorhaben, Sir?«unterbrach Quarme sein Nachdenken.
Bolitho sah ihn an.»Haben Sie einen Vorschlag zu machen?»
Quarme senkte den Blick.»Es steht mir zwar nicht zu, Sir, aber ich glaube doch, es wäre klug, Lord Hood zu informieren. «Er schien eine Unterbrechung zu erwarten; als sie ausblieb, fuhr er fort:»Bis jetzt kann Ihnen niemand einen Vorwurf machen. Aber wenn der Admiral nicht rechtzeitig Meldung bekommt, wird er Ihnen das sehr übelnehmen.»
«Danke sehr, Mr. Quarme, daran habe auch ich gedacht. «Bolitho stand auf und machte ein paar Schritte auf dem Teppich. Eine Sekunde lang starrte er seinen Degen an, der neben der Tür hing.»Aber wir haben nur zwei Schiffe. Wenn ich die Princesa mit Depeschen losschicke, weiß kein Mensch, was für eine Geschichte der Admiral zu hören kriegt, ganz egal, was ich geschrieben habe. Und wenn wir selbst segeln — glauben Sie wirklich, daß der Spanier mit einem plötzlichen Angriff vom Festland her allein fertig wird?»
Sichtlich betroffen trat Quarme von einem Fuß auf den anderen, und Bolitho fuhr lächelnd fort:»Vielleicht denken Sie, daß ich zum Kommandanten der Princesa zu grob war?»
Deutlich stand ihm das Bild vor Augen: der unglückselige Spanier hatte eben dort gesessen, wo Quarme jetzt saß, ein verdüsterter, übelnehmerischer Mann, der zuerst so getan hatte, als verstünde er kaum englisch. Aber unter Bolithos schneidenden Worten fingen seine Augen bald an, erst vor Wut und dann vor Scham zu funkeln. Bolitho hatte ihm sehr deutlich seine Meinung darüber gesagt, daß die Princesa sich nicht am Gefecht beteiligt hatte. Da war der Spanier aufgesprungen und hatte mit wutverzerrtem Gesicht geschrien:»Ich protestiere! Ich konnte die Hafeneinfahrt nicht rechtzeitig erreichen. Ich werde mich bei Admiral Hood wegen Ihrer Anwürfe beschweren!«Stolz warf er den Kopf hoch.»Ich bin in hohen Regierungskreisen nicht unbekannt!»
Bolitho hatte ihm kalt ins Gesicht geblickt, in Gedanken beim Todeskampf des spanischen Flaggschiffs, dessen verbrannte Wrackteile um den Bug der Hyperion trieben.
«Sie werden sogar noch bekannter werden, Capitano, wenn ich Sie wegen Feigheit vor dem Feind unter Arrest stelle! Admiral Moresby hat mir vor seinem Tode die volle Befehlsgewalt übertragen.«Überraschend leicht war diese Lüge über seine Lippen gekommen.»Und nichts von dem, was Sie bis jetzt gesagt haben, überzeugt mich davon, daß Sie überhaupt wert sind, am Leben zu bleiben!»
Bolitho hatte den Anblick eines gedemütigten Mannes immer als etwas Scheußliches empfunden; jetzt mußte er sich zwingen, die Angst und den moralischen Zusammenbruch dieses Mannes mitanzusehen. Aber das war vor zwei Tagen gewesen, als noch eine geringe Chance bestanden hatte, ihre gemeinsame Niederlage irgendwie wettzumachen. Inzwischen jedoch mochte der Spanier gewisse eigene Ideen entwickelt haben, wie er persönlich auf seine Kosten kommen konnte.
«Ich bin trotz allem der Meinung«, sagte Quarme,»daß Sie Lord Hood informieren sollten, Sir. Was der spanische Kapitän getan oder nicht getan hat, dürfte für die Zukunft wenig bedeuten.»
Bolitho wandte sich ärgerlich ab, ärgerlich über sich selbst und über Quarme, weil er ganz genau wußte, daß dieser recht hatte. Doch im Unterbewußtsein hörte er Hoods Worte:»Die Insel ist unverzüglich einzunehmen!«Unverzüglich. Zur Zeit hatte der Admiral an Bord der Victory sicherlich mit seinen eigenen Problemen genug zu tun: der Geheimpolitik in Toulon, der Demonstration der Stärke, die er so ausführlich erläutert hatte. Und inzwischen marschierte die französische Armee immer weiter südwärts, auf die Küste zu.
Gelassen erwiderte Bolitho:»Anscheinend sind Sie und ich öfter verschiedener Meinung. Sie waren ja auch dagegen, daß ich Sir William Moresby zusammen mit den gefallenen Matrosen auf See bestatten ließ.»
Der Themawechsel verwirrte Quarme.»Nun ja, ich meinte, unter diesen Umständen…»
«Admiral Moresby fiel im Gefecht, Mr. Quarme. In meinen Augen besteht kein Unterschied zwischen seinem Tod und dem Tod derjenigen, die ihr Leben für ihn gelassen haben. «Bolithos Stimme war noch ruhig, aber eiskalt.»Sir William ruht auf dem Meeresgrund ebenso sicher wie auf jedem Kirchhof. «Er trat wieder ans Heckfenster.»Unsere Männer sind entmutigt. Wenn gleich die erste Schlacht verlorengeht, ist das schlecht für die Moral. Es hängt so viel davon ab, daß sie Vertrauen zu uns haben, wenn sie der nächsten Breitseite ins Gesicht sehen müssen. Die toten Matrosen sind zusammen mit ihrem Admiral gefallen. Daher sollten sie sein Grab und auch die Zeremonien mit ihm teilen!»
Quarme öffnete schon den Mund zu einer Entgegnung, aber er fuhr erschrocken herum, denn von draußen her drang ein Ruf bis in die Kajüte:»An Deck! Segel in Südwest!»
Bolitho starrte Quarme an.»Kommen Sie mit!«befahl er kurz.»Vielleicht sind die Franzosen schon da.»
Auf dem Achterdeck fiel die Sonne seine Schultern an wie Glut aus einem Feuerofen, aber Bolitho spürte es kaum. Er blickte erst zur Insel hinüber und dann zum Masttopp hinauf. Von Cozar war noch immer nichts zu sehen. Aber draußen über der gleißenden See war der Nebel aufgerissen und hatte sich gelichtet. Midshipman Caswell reichte ihm ein Fernglas.»Kann der Ausguck sie schon ansprechen?«fragte Bolitho. Im Teleskop konnte er wenig mehr erkennen als einen splittergroßen weißen Streifen, der sich kaum von der Kimm abhob.
«Ein kleines Schiff, Sir!«meldete der Ausguck.»Ist allein und steuert Ostkurs.»
«Entern Sie auf, Mr. Quarme«, sagte Bolitho,»und melden Sie mir, was Sie sehen!«Er wußte, daß die anderen ihn aufmerksam beobachteten, und unterdrückte seinen Wunsch, selbst aufzuentern.
Leutnant Rooke war Wachoffizier. Er stand an der Achterdeckreling, das Teleskop unterm Arm, den Hut in die Stirn gezogen, um seine Augen vor dem blendenden Glast zu schützen. Wie immer war seine Uniform tadellos; neben den anderen in ihren fleckigen Hemden oder — wie die meisten — mit nacktem Oberkörper sah er aus wie ein Londoner Dandy.
Bolitho achtete nicht auf sie und versuchte auch, nicht Quarmes hoher, schlanker Gestalt nachzustarren, der rasch zur Saling aufenterte. Rooke hatte bestimmt seinen Spaß an der Geschichte, dachte er grimmig. Sobald sie wieder beim Geschwader waren, würde er nichts Eiligeres zu tun haben, als sich über den Mißerfolg seines Kommandanten auszulassen. Aber dieser Gedanken, redete Bolitho sich ein, war unfair. Wahrscheinlich beruhte seine Abneigung gegen Rooke nur auf seiner grundsätzlichen Aversion gegen die Bevorzugung von Adligen in der Marine. Bekam jemand den Adelstitel für Tapferkeit und wirkliche Verdienste — gut und schön. Aber später wurde dieser Titel oft genug zu einer Belastung für ehrgeizige Nachkommen. In London hatte Bolitho jedesmal eine ganze Anzahl von dieser Sorte getroffen: verwöhnte, egoistische junge Stutzer, die das Offizierspatent ihrer Geburt und ihrem Reichtum verdankten und trotz der Uniform, die sie mit so viel Prahlerei trugen, keine Ahnung von der Marine hatten.
Da rief Quarme:»Jetzt erkenne ich sie ganz genau, Sir. Sieht wie eine Schaluppe aus. Hält Ostkurs.»
«Sie wird Depeschen und Post für die Gibraltar-Flotte an Bord haben«, sagte Rooke. Die anderen blieben stumm, waren aber wohl der gleichen Meinung. Bolitho blickte zu Gossetts massiger Gestalt herüber.»Sie kennen diese Gewässer, Mr. Gossett. Wird sich das Wetter halten?»
Der Master runzelte die Stirn, bis seine Augen fast in dem gebräunten Gesicht verschwanden.»Nicht lange, Sir. Diese leichten Böen kommen und gehen, aber ich schätze, noch vor acht Glasen frischt der Wind auf. «Er wollte sich damit keineswegs großtun; sein Urteil gründete sich auf lange Erfahrung.
Bolitho nickte.»Sehr schön, Mr. Gossett. Pfeifen Sie >Alle Mann<. Fertigmachen zum Halsen. Wir ändern den Kurs und fangen diese Schaluppe ab.»
Keuchend erschien Quarme an Bolithos Seite.»Wir können ihr doch signalisieren, daß sie uns ansegeln soll, Sir. «Er schien fast empört darüber, daß ein Linienschiff einem so kleinen Fahrzeug entgegenkommen sollte.
Bolitho blickte ihn ernst an.»Sobald wir nahe genug sind, signalisieren Sie bitte. Ich will sie jetzt nicht mehr außer Sicht verlieren.»
Quarme begriff nicht.»Was soll ich signalisieren, Sir?»
Die Bootsmannspfeifen riefen an die Brassen. Unten auf dem Hauptdeck rissen sich die Matrosen aus ihrer Schlaffheit und eilten auf Stationen.»Signalisieren Sie: >Beidrehen und Befehle abwarten««, sagte Bolitho ruhig.
«Verstehe. Sie wollen also doch Depeschen an Lord Hood schik-ken, Sir. «Quarme biß sich auf die Lippen und nickte bedeutsam.»Meiner Ansicht nach die beste Entscheidung. Keiner kann Ihnen einen Vorwurf machen, Sir.»
Bolitho beobachtete die Marine-Infanteristen, die wie stets im Gleichschritt und ganz unseemännisch an die Besanbrassen marschierten.»Ich habe nicht die Absicht, Lord Hood zu berichten, Mr. Quarme. Jedenfalls nicht eher, als bis es tatsächlich etwas zu berichten gibt.»
Es dauerte fast zwei Stunden, bis die Schaluppe auf Signaldistanz war; doch eine Stunde vor Ende der Nachmittags wache hatten beide Schiffe gehalst. Sie lagen jetzt auf Südkurs und bewegten sich von der nebelverhangenen Insel weg. Bolitho ließ dem Kommandanten der Schaluppe signalisieren, er solle an Bord kommen. Als beide Schiffe Segel gekürzt hatten, begab er sich wieder in seine Kajüte und schickte nach Quarme.
«Eine Viertelstunde nach der Ankunft des Kommandanten bitte ich alle Offiziere in meine Kajüte, Mr. Quarme. «Er kümmerte sich nicht um das erstaunte Gesicht des Ersten, sondern fuhr knappen Tones fort:»Auch alle Deckoffiziere der Freiwache, ist das klar?»
«Aye, aye, Sir. «Quarmes Augen schweiften zum Heckfenster, wo die kleine Schaluppe hurtig auf den Wellen ritt.»Darf ich fragen, was Sie vorhaben, Sir?»
Unbewegt sah Bolitho ihm ins Gesicht.»In fünfzehn Minuten, Mr. Quarme.»
Er bezwang die nagende Ungeduld, bis er hörte, wie das Boot längsseit kam und die schrillen Querpfeifen die Ankunft des Kommandanten verkündeten. Aber als Lieutenant Bellamy, Kommandant Seiner Majestät Schaluppe Chanticleer, dem das alles genauso unverständlich war wie Mr. Quarme, endlich in die Kajüte trat, war Bolitho wenigstens äußerlich wieder vollkommen ruhig.
Bellamy war ein junger, schlacksiger, besorgt blickender Offizier, der ständig auf das Schlimmste gefaßt schien.
Bolitho kam sofort zur Sache.»Tut mir leid, daß ich Sie so unvermittelt an Bord rufen mußte, Bellamy; aber als dienstältester Offizier dieses Geschwaders brauche ich Ihre sofortige Hilfe.»
Bellamy verarbeitete diesen Anfang zunächst ziemlich gefaßt. Auch stellte er Bolithos Recht, sein Schiff zu stoppen, nicht in Abrede; Bolitho nahm an, daß ihm die Bezeichnung» dienstältester Offizier «imponiert hatte.
Er fuhr fort:»Dort drüben liegt Cozar, das, wie Sie vielleicht wissen, jetzt in der Hand des Feindes ist. Ich beabsichtige, diesen Zustand zu ändern, und zwar unverzüglich. «Er blickte den Leutnant forschend an.»Jedoch ist Ihre Mitwirkung dabei unerläßlich, verstehen Sie?»
Offensichtlich verstand Bellamy nicht. Wenn schon ein Vierundsiebziger sich nichts zutraute, dann schien es ihm ziemlich unwahrscheinlich, daß seine kleine, leichtgebaute Schaluppe viel ausrichten konnte. Aber trotzdem nickte er. Vielleicht nur, um Bolitho bei Laune zu halten, diesen Geschwaderkommandeur, der allem Anschein nach nur über ein einziges Schiff verfügte.
Bolitho lächelte.»Also gut — ich will Ihnen sagen, was ich vorhabe.»
Fünfzehn Minuten später öffnete Quarme wortlos die Tür und ließ die Offiziere der Hyperion an sich vorbei in die Kajüte treten. Ihre Blicke, die zunächst geschäftig in diesem geheiligten Quartier umherirrten, hefteten sich schließlich auf den fremden Leutnant.
Gelassen blickte Bolitho ihnen entgegen.»Also, meine Herren, wenigstens haben wir jetzt einen Plan. «Nun blickten sie alle Bo-litho an und ließen ihn auch nicht mehr aus den Augen.
«In einer Stunde gehen wir auf Nordkurs und kreuzen in Richtung Festland. Die Zeit wird knapp, und es gibt eine Menge zu tun. Die Franzosen werden wohl kaum versuchen, während der Nacht Cozar anzusegeln. Erstens ist das nicht ganz ungefährlich, und zweitens könnten sie auf die Princesa stoßen. «Er entrollte eine Seekarte auf dem Tisch.»Ich beabsichtige, morgen früh bei Sonnenaufgang hier auf dieser Position zu stehen, nordwestlich der Insel; und sobald uns die Garnison gesichtet hat, wird Leutnant Bellamy seine Sloop direkt in den Hafen segeln.»
Hätte er das persönliche Erscheinen Gottvaters angekündigt, so hätte die Wirkung nicht größer sein können. Einige Offiziere starrten Bellamy so ungläubig an, als ob sie von diesem eine Erklärung oder Bestätigung erwarteten; doch der blickte nur stumm auf seine Füße hinunter. Andere wechselten erschrockene Blicke und musterten Bolitho, als wollten sie sich vergewissern, daß er nicht verrückt geworden sei.
Mit leichtem Lächeln fuhr Bolitho fort:»In der nächsten Stunde wird eine unserer Karronaden auf die Chanticleer geschafft. «Er biß die Zähne zusammen, denn mit diesen Worten hatte er sich und jeden Anwesenden festgelegt.»Außerdem nimmt sie einhundert Matrosen und alle Marine-Infanteristen an Bord.»
Hauptmann Ashby konnte sich nicht länger beherrschen.»Aber was soll daraus werden, Sir? Ich meine, verdammt noch mal, Sir. «Er verfiel in hilfloses Schweigen. Dann erklang Rookes elegant-nachlässige Stimme von der anderen Seite der Kajüte:»Die Frogs sollen also denken, die Schaluppe sei die Fairfax, die wieder im Hafen einläuft, Sir?»
Wortlos nickte Bolitho. Der schlaue Rooke war jedenfalls den anderen ein ganzes Stück voraus.»Genau.»
Es gab ein großes Durcheinander, allerlei Gemurmel und vielerlei Fragen; starrköpfig wandte Quarme ein:»Aber wie soll das klappen, Sir? Ich meine, die Chanticleer ist zwar eine Schaluppe, aber doch mit der Fairfax gar nicht zu verwechseln. Sie ist älter und kleiner!«Und mancher in seiner Nähe nickte dazu.
«Eine gute Frage, Mr. Quarme. «Bolitho verschränkte die Hände hinter dem Rücken.»Dennoch weiß ich aus Erfahrung, daß die Menschen gewöhnlich das sehen, was sie erwarten. «Ganz langsam blickte er sich im Kreise um.»Und der Feind wird eine Schaluppe sehen, die von der Hyperion gejagt wird. Sie werden auf uns feuern, um ihr Deckung zum Einlaufen zu geben. Wenn sie merken, was wirklich gespielt wird, ist die Schaluppe bereits im Hafen und so dicht am Pier, daß sie sich im toten Winkel der französischen Geschütze befindet.»
Jeder hörte ihm jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Selbst die Midshipmen reckten die Hälse, um ihn besser zu verstehen.
«Es muß allerdings schnell gehen, meine Herren«, fuhr er fort.»Die Franzosen können jetzt jeden Moment Verstärkung senden. Und ein scharfäugiger Ausguck könnte den Unterschied zwischen den beiden Schaluppen erkennen, ehe wir im Hafen sind. Aber die Garnison hier besteht aus Landsoldaten. Brauche ich noch mehr zu sagen?«Überraschenderweise gab es tatsächlich hier und da Gelächter. Das war wenigstens ein Anfang.
Bolitho blickte sich um.»Haben wir eine französische Flagge? Die neue, meine ich.»
Mehrfaches Kopfschütteln.
Bolitho suchte mit den Augen den grauhaarigen Segelmacher.»Schön, Mr. Buckle, Sie haben dreißig Minuten, um eine anzufertigen. Also fangen Sie an!»
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wandte sich an den Stückmeister der Hyperion. »Mr. Pearse, Sie können sofort mit dem Verladen der Karronade beginnen. Suchen Sie eine gute Mannschaft aus und nehmen Sie das Boot, das Ihnen am geeignetsten scheint.»
Er blickte ihm nach, der hinter dem Segelmacher die Kajüte verließ, und fuhr gelassen fort:»Bei unserem letzten Angriff waren wir minutenlang durch eine Landzunge vor der Batterie gedeckt. Wenn wir unser Schiff auf dem gleichen Kurs halten wie damals, wird der Gegner wahrscheinlich schnell ein paar Geschütze von der anderen Seite so verlegen, daß er besser feuern kann. Inzwischen werden sie ziemlich selbstsicher sein und voraussetzen, daß wir nicht direkt vor ihre Kanonen segeln. Dadurch bekommt die Schaluppe sogar noch bessere Chancen.»
Erregtes Gemurmel. Das war zumindest ein Plan. Allerdings gab es noch vieles zu klären und zu erklären. Aber ein Plan war es immerhin.
«Also schön, meine Herren, Sie können gehen. Fangen Sie an. Ich komme gleich an Deck und kümmere mich selbst um die erste Phase.»
Als sie die Kajüte verließen, wandte sich Bolitho nochmals Lieutenant Bellamy zu. Von diesem hatte er irgendeine Äußerung, vielleicht sogar Protest erwartet; aber Bellamy hatte nichts gesagt, und Bolitho war keineswegs sicher, daß er auch nur die Hälfte von dem begriffen hatte, was da auf ihn zukam.
«Danke sehr, Bellamy«, sagte er.»Sie waren mir eine große Hilfe.»
Der Leutnant starrte ihn an und schluckte.»Tatsächlich?«Er schluckte nochmals.»Äh — vielen Dank, Sir. «Bolitho folgte ihm an Deck und sah ihm nach, wie er unsicheren
Schrittes zur Fallreepspforte ging. Dann atmete er ganz langsam aus. Da hatte er sich allerhand geleistet, wirklich! Er hatte Lord Hood nicht gemeldet, daß das Unternehmen Cozar gescheitert war. Er hatte sich den Oberbefehl über eine Aktion angemaßt, die verlustreich und katastrophal enden konnte. Er hatte sogar eine Depeschen und Post befördernde Schaluppe widerrechtlich angehalten, für seine Zwecke eingesetzt und wahrscheinlich der Vernichtung preisgegeben.
Er blickte zum Masttopp auf und sah, daß der Wimpel sich hob und in der auffrischenden Brise flatterte. Wenn es davor noch irgendein Argument gegen diese Aktion gegeben hätte — jetzt gab es keines mehr. Die Konsequenz seiner ersten Anweisungen machte jeden Widerruf unmöglich. Zweifeln hatte jetzt keinen Sinn mehr. Bolitho ging zur Wetterseite hinüber und schritt dort in tiefer Konzentration auf und ab.
Mit einem heftigen Ruck erwachte Bolitho und starrte sekundenlang zu Allday hoch, der, einen schweren Krug in der Hand, über ihn gebeugt stand.
«Tut mir leid, daß ich Sie wecken muß, Captain«, sagte er mit seiner gelassenen Stimme,»aber es wird schon hell. «Er hob den Krug und goß den heißen Trank ein, während Bolitho seine Gedanken sammelte und sich in der winzigen Kajüte der Schaluppe umsah. Oberhalb des Sessels, in dem er tief erschöpft eingeschlafen war, konnte er das bleiche Rechteck des Skylights sehen; und in der plötzlichen Erkenntnis des Kommenden erstarrte er in seinem Sessel wie ein Mann, der aus einem Alptraum aufschreckt und feststellen muß, daß sein Traum Wirklichkeit ist.
Der heiße bittere Kaffee rann ihm angenehm durch den Magen.»Wie ist der Wind?»
Allday hob die Schultern.»Schwach, aber stetig, Captain. Immer noch aus Nordwest.»
«Gut. «Er stand auf und fluchte, denn er war mit dem Kopf gegen den niederen Decksbalken gestoßen. Allday verkniff sich ein Grinsen.»Nicht viel los mit diesem Schiff, wie, Captain?»
Bolitho rieb sich die Arme, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen, und entgegnete kühl:»Mein erstes Kommando war auch eine Schaluppe, Allday. Kaum anders als diese. «Dann lächelte er resigniert.»Aber Sie haben recht. So ein Fahrzeug ist nur für sehr junge oder sehr kleine Leute.»
Die Tür öffnete sich, und Leutnant Bellamy steckte den Kopf herein.»Aha, Sie sind schon geweckt worden, Sir. «Er grinste.»Schönes Wetter für uns!»
Bolitho musterte ihn verwundert. Erstaunlich, wie sich Bellamy für diesen Plan engagiert hatte! Wenn etwas schiefging, würde er allerhand zu erklären haben. In der Marine konnte man sich nicht immer damit herausreden, daß man nur Befehle ausgeführt hätte.
Gebückt folgte ihm Bolitho über die kurze Leiter auf das Achterdeck. Es war sehr kühl; das bleiche Frühlicht schien über Wolkenfetzen und kabbelige See. Erschauernd dachte er sehnsüchtig an seinen Uniformrock. Aber wie die anderen hatte er alles weggelassen, was ein aufmerksamer feindlicher Wachtposten sehen und identifizieren konnte.
Bellamy deutete nach Backbord voraus.»Cozar liegt dort drüben, etwa fünf Meilen entfernt, Sir. Jetzt ist es bald soweit.»
Bolitho ging zur Heckreling und spähte angestrengt achteraus. Er spürte die stetige Brise auf der Haut, doch von der Hyperion war noch nichts zu sehen. Langsam trat er zu dem ungeschützten Ruderrad. In der Stille klangen seine Schuhsohlen merkwürdig laut auf den Planken.
Nochmals überdachte er die vergangenen hektischen Stunden und suchte nach einem Fehler in seinem Plan. Quarme war sichtlich enttäuscht gewesen, als er ihm das Kommando über die Hyperion übertrug. Selbst Bolithos geduldige Erläuterungen hatten seine Stimmung nicht heben können. Eines war sicher: wenn sich die Franzosen nicht täuschen ließen oder wenn die Schaluppe überwältigt wurde, bevor sie am Pier war, würde keiner an Bord überleben. Es war Bolithos Plan, also trug er auch persönlich das Risiko. Indessen konnte er auch Quarme verstehen. Quarme war Berufsoffizier; er hatte nur wenig Geld und keine einflußreichen Verwandten, die seine Karriere fördern konnten. Seine Beförderung hing davon ab, daß er ein Enterkommando oder ein so gewagtes Unternehmen wie dieses hier führte. Andere avancierten durch Tod oder Beförderung ihrer Vorgesetzten. Vielleicht hatte Quarme schon darauf spekuliert, daß er durch Kapitän Turners plötzliches Ableben ein Stück weiterkam.
Aber wenn auf Cozar alles schiefging, brauchte die Hyperion einen guten, vernünftigen Mann als Kommandanten, und Quarme hatte bewiesen, daß er durchaus fähig war, das Schiff zu führen.
«Die Kimm wird klarer, Sir«, sagte Bellamy aufgeregt und zerrte an seiner Uhr.»Mein Gott, dieses Warten!»
Tatsächlich wurde es heller. Bolitho konnte schon das Oberdeck der Schaluppe und den Bugspriet sehen, der wie ein schwarzer Finger in den bleichen Himmel stach.
Hätte das kleine Fahrzeug nicht so verzögert auf Ruder und Wind reagiert, hätte man sich nur schwer vorstellen können, daß sich unter Deck sämtliche Marine-Infanteristen Hauptmann Ashbys und außerdem fünfzig Matrosen der Hyperion drängten, und daß noch weitere fünfzig, unbequem unter einer Persenning verborgen, an Deck hockten. Es war ein Glück, daß Bellamy bereits knapp an Leuten gewesen war, aber trotzdem wurde jeder Kubikzoll Stauraum und das ganze Logisdeck gebraucht, um die Männer unterzubringen.
Die Matrosen der Chanticleer saßen oder standen an der Schanz herum, sprachen kaum und warteten darauf, jeden Fetzen Leinwand zu setzen, sobald der Befehl kam.
Flüchtig schoß Bolitho die schreckliche Möglichkeit durch den Kopf, daß Quarme es nicht schaffen würde, rechtzeitig zur Stelle zu sein. Die ganze Nacht hindurch war die Schaluppe weit vorausgesegelt, damit nicht etwa ein spionierendes Fischerboot oder ein Küstensegler sie im Geleit fahren sah, womit die einzige Erfolgschance ruiniert gewesen wäre, ehe die Aktion überhaupt begonnen hatte.
Er musterte die Steuerbordbatterie. Die Schaluppe war mit achtzehn leichten Geschützen armiert, deren Breitseite an dieser mächtigen Festung kaum einen Kratzer verursachen würde.
«Ah!«seufzte Bellamy, als der goldene Rand der Sonnenscheibe über der Kimm aufglänzte. Und da lag auch die Insel, vielleicht vier Meilen voraus. Die buckligen Höhen und das dunkle Viereck der Festung standen schwarz vor dem immer heller werdenden Sonnenlicht. Von Westen sieht die Insel ganz anders aus, dachte Bolitho. Doch als er das Fernrohr ans Auge hob, konnte er die weißen Brecher am Fuße des Vorgebirges erkennen. Dagegen wirkte die Steilküste sehr hoch und mächtig.
Wieder überkam ihn ein Schauer, und er mußte an die langen Monate seines Krankenlagers in Falmouth denken. Mühelos konnte er sich das große Haus ins Gedächtnis rufen, den Blick auf die Mole und Pendennis Castle, die er vom Fenster seines Krankenzimmers hatte sehen können, wenn er nicht gerade zu benommen und schwindlig gewesen war. Dazu das Haus mit den großen, nachgedunkelten Porträts der Bolithos, die alle auf See gelebt und auf See den Tod gefunden hatten. Denn er war der letzte seine Geschlechts; es gab niemanden außer ihm, der die Familientradition fortführen konnte.
Er dachte auch an Nancy, seine jüngste Schwester. Sie hatte ihn zusammen mit Allday durch die vielen schweren Fieberanfälle gebracht. Sie liebte ihn innig, das wußte er recht gut, und versuchte bei jeder Gelegenheit, Mutterstelle an ihm zu vertreten.
Gelassen beobachtete er die rasch dahinziehenden Wolken. Wenn er heute umkam, würde das alte Haus Nancy gehören. Sie war mit einem Gutsbesitzer aus Falmouth verheiratet, einem Landedelmann, der nur für die Parforcejagd und gutes Essen lebte. Er hatte schon längst ein Auge auf Bolithos Haus geworfen und würde nur zu gern einziehen.
«Ihr Degen, Captain«, flüsterte Allday. Automatisch hob Bolitho die Arme und spürte den festen Druck des Gurtes um seine Mitte, als Allday die Schnalle schloß und dabei murmelte:»Ein bißchen lockerer geworden, seit Sie ihn das letzte Mal getragen haben, Captain. «Er schüttelte den Kopf.»Sie brauchen eine ordentliche Portion kornischen Hammelbraten!»
«Machen Sie nicht so ein verdammtes Theater!«Bolitho senkte die Hand und fuhr über den abgewetzten Degengriff. Er hätte den alten Degen in der Kajüte der Hyperion hängen lassen sollen. Aber der Gedanke, daß er jemand anderem in die Hände hätte fallen können, oder — noch schlimmer — auf Nancys Gatten übergehen, war ihm unerträglich. Der Kerl hätte ihn bestimmt zwischen Hirschgeweihen und ausgestopften Fuchsköpfen an die Wand gehängt, denn für ihn war die Waffe nur ein Schaustück mehr.
Bolitho versuchte, sich daran zu erinnern, wie ihm sein Vater den Degen überreicht hatte, aber er konnte sich von dem stolzen alten Herrn mit dem einen Arm und dem dicken, graumelierten Haar kein klares Bild mehr machen.
Er zog die Klinge ein paar Zoll weit aus der Scheide und sah den rasiermesserscharfen Stahl im jungen Sonnenlicht aufglitzern. Alt — aber so echt und treu wie eh und je. Er stieß sie in die Scheide zurück und fuhr herum, als er Bellamy erleichert murmeln hörte:»Bei Gott, da ist sie ja!»
Der Rumpf der Hyperion lag noch in tiefem Schatten, aber die Bram- und Marssegel standen so klar und weiß im Sonnenlicht wie die eines Geisterschiffes. Während er noch hinüberblickte, erschienen wie durch Zauberkraft auch die Royals, und plötzlich wehte Gischt um den Bug. Der Landwind hatte das Schiff erreicht; es rollte wie in einer müden Verneigung.
Allday sagte:»Sie ändert den Kurs — hat uns gesehen.»
Im Vorschiff der Hyperion blitzte es kurz auf, und Sekunden später war ein dumpfes Krachen zu hören. Erschrocken zogen alle an Deck der Schaluppe die Köpfe ein, als das Geschoß über das kleine Schiff heulte, aber weit vor ihnen ins Meer klatschte.»Verdammt!«keuchte Bellamy.»Das war knapp!»
Bolitho spürte die gleiche eiskalte Erregung wie schon so oft, und das Grinsen fror auf seinem Gesicht wie eine Maske fest.»Sollte es auch. Das muß doch echt aussehen. «Er faßte den empörten Bella-my am Arm.»Los! Ran jetzt!»
Der Leutnant brüllte durch die hohlen Hände:»Alle Mann aufentern! Setzt Großsegel und Fock!«Die Männer eilten auf Stationen, und er rannte zur gegenüberliegenden Reling.»Heißt die Flagge, zum Teufel!«Aber sogar er war beinahe überrascht, als die selbstgemachte Trikolore an die Gaffel stieg und herausfordernd im Winde flatterte.
Die Schaluppe gehorchte den Segeln gut; in der langen ablandigen Dünung flog Gischt in großen weißen Streifen von ihrem Bug.
Der einzige andere Offizier der Chanticleer machte sich jetzt bemerkbar.»Geschützbedienung auf Stationen! Geschütze ausrennen!»
Die Stückpforten sprangen auf, und die schlanken Rohre reckten sich wie neugierige Hundenasen über die milchig schimmernde Bugwelle. Im Vorschiff, festgebunden wie ein stumpfschnauziges Raubtier, stand die zweite Karronade der Hyperion. Sie war bereits geladen und überprüft worden, während Bolitho in seinem unbequemen Sessel geschlummert hatte. Diese Kanone verschoß eine mächtige Kugel von achtundsechzig Pfund, die beim Aufschlag zerbarst. Sie war mit Bleischrot gefüllt und wirkte auf kurze Entfernung mörderischer als alles bisher Bekannte. Vielleicht würde sie heute über Erfolg oder Scheitern der Aktion entscheiden.
Wieder jaulte eine Zwölfpfünderkugel über ihre Köpfe und warf eine halbe Kabellänge vor dem Bug der Schaluppe eine hohe Wassersäule auf.
Bolitho wandte sich Rooke zu, der neben ihm auftauchte, die schlanke Gestalt in ein geborgtes Matrosenjackett gehüllt. Doch selbst so wirkte er elegant. Gepreßt sagte er:»Das ist bestimmt unser Mr. Pearse, Sir. Der feuert jeden Schuß persönlich ab, oder ich müßte mich sehr täuschen. «Er biß die Zähne zusammen, als die dritte Kugel hart längsseit niederfuhr und die Geschützbedienungen der Schaluppe mit Sprühwasser überschüttete.
«Pearce hat sicherlich ein gutes Auge«, sagte Bellamy, aber es klang doch etwas unbehaglich.
Ferner Trompetenschall übertönte das Sausen der Takelage und das Zischen des Spritzwassers. Bolitho hob sein Glas ans Auge. Über der Festung stieg die Flagge hoch; Sonne funkelte auf einem Teleskop über der Batterie oder auf einem Geschützrohr.
«Kursänderung, Bellamy!«befahl er knapp.»Denken Sie daran, was ich Ihnen sagte: runden Sie die Landzunge so dicht wie irgend möglich!»
Und Bellamy gab seine Kommandos. Die Hyperion halste und schwang bedrohlich herum, bis sie fast parallel zur Schaluppe lag. Sie war noch eine gute Meile entfernt, aber unter dem mächtigen Druck ihrer Segel und des achterlichen Windes lief sie schnell und gut. Jeder Beobachter an der Küste mußte annehmen, daß sie sich verzweifelt anstrengte, die Schaluppe zu überholen und abzufangen, ehe sie einen Schlag machen und den sicheren Hafen erreichen konnte.
Von der Klippe her antwortete jetzt ein Dröhnen, und alle lauschten auf das hohe Jaulen des Geschosses, das über ihre Masten hinwegflog.
«Ich sehe keinen Schaden«, sagte Rooke.
Bolitho biß sich auf die Lippen. Durchs Glas hatte er erkannt, daß im bauchigen Großsegel der Hyperion ein Loch klaffte. Wirklich ein guter Schuß!»Wenigstens konzentrieren sie sich im Moment auf Quarme«, sagte er; aber er mußte sich Mühe geben, daß seine Worte einigermaßen heiter klangen — in Wirklichkeit war ihm keineswegs so zumute. Im steigenden Licht besaß die Hyperion eine eigenartige, schwer zu erklärende Schönheit. Er konnte die drohende Galionsfigur sehen, die Wasserreflexe an der hohen Bordwand, und er fühlte etwas wie körperlichen Schmerz, als wieder ein Geschütz der Batterie feuerte und dicht am Heck des alten Schiffes eine Wasserfontäne aufspritzte. Der kann als Abpraller in den Rumpf gegangen sein, dachte er grimmig. Er warf einen Blick auf die Brustwehr der Festung — noch kein Rauch zu sehen. Aber sie würden nicht lange brauchen, um die Glut der über Nacht heruntergebrannten Essen anzufachen; dann würden sie mit glühenden Kugeln schießen, und jeder Treffer konnte die Hyperion in eine brennende Hölle verwandeln.
Quarme war viel zu dicht unter Land. Vielleicht hatte er sich verschätzt — oder wollte er dem Feind einen möglichst realistischen Eindruck bieten?
«Der Narr dort soll sich besser verstecken!«hörte er Rooke schimpfen. Zwei hornhäutige Füße ragten unter der Persenning hervor; ein Deckoffizier ließ seinen Tampen darauf niedersausen — ein Schrei, und weg waren sie.
Bellamy war natürlich mehr an seinem eigenen Schiff interessiert als an der Gefahr, in der sich die Hyperion befand. Er stand neben dem Ruder und achtete scharf auf Kompaß und Segel, denn die dunkle Landzunge sprang ihnen entgegen wie ein Stier, der die Chanticleer auf die Hörner nehmen wollte.
Er senkte die Hand.»An die Brassen! Schneller, faule Bande!«Unter protestierendem Quietschen und Knarren erzitterte die Schaluppe und ging dann unter dem Druck von Wind und Ruder auf den anderen Bug. Ein einzelnes Riff hätte beinahe ihren Kiel angekratzt, als sie das Vorgebirge rundeten. Dahinter winkte das flache Wasser des Hafenbeckens einladend wie eine gutbeköderte Falle.
«Kürzen Sie jetzt die Segel, Mr. Bellamy«, sagte Bolitho ruhig.»Und die Männer unter Deck sollen sich fertigmachen!«Seine Hand am Degengriff war feucht von Schweiß.
Er wandte sich um und beobachtete, wie sich der Umriß der Hyperion verkürzte — sie schickte sich an zu halsen, um näher an die Küste zu kommen. Auch sie hatte jetzt gerefft. Er hielt den Atem an, denn dicht an ihrem Rumpf sprangen wieder zwei Fontänen hoch. Die Franzosen feuerten jetzt schneller; anscheinend war, wie er es vorausgesehen hatte, die Batterie zur See hin verstärkt worden. Er drehte sich um. Lieber wollte er nach vorn blicken, als noch länger die gefährlichen Manöver der Hyperion mitansehen. Eine Anzahl Matrosen der Schaluppe drängten sich auf der Back zusammen und starrten zur breiten Hafeneinfahrt. Ärgerlich rief er ihnen zu:»Schaut nach achtern, ihr Idioten! Als Franzosen müßt ihr mehr Angst vor der Hyperion haben als vor eurem eigenen Ankerplatz!»
Seine Worte machten die Männer sicherer und lockerten auch seine eigene Spannung.
«Da ist die Pier, Sir«, sagte Rooke. Bolitho nickte. Es war nur ein primitiver hölzerner Steg, von dem sich ein schmaler Pfad in eine Kluft zwischen den Bergen schlängelte. Dort war es schon recht lebendig, und er konnte eben noch das Rohr eines alten Feldgeschützes ausmachen, das sich zwischen seine mächtigen eisenbeschlagenen Räder duckte.
«Stetig jetzt, Mr. Bellamy!«Er mußte sich die trocknen Lippen lecken.»Steuern Sie zunächst den Liegeplatz hinter der Pier an! Aber wenn Sie auf Kabellänge ran sind, nehmen Sie die Segel weg und Kurs auf den Steg! Inzwischen sind Sie im Windschatten der Berge, aber das Schiff müßte genug Restfahrt haben, um glatt reinzukommen.»
Widerwillig löste Bellamy die Augen vom Bug.»Wird der Bordwand nicht behagen, Sir!«Aber dann grinste er breit.»Bei Gott, das ist besser, als Flottenpost fahren!»
Bolitho warf schnell einen Blick auf Inch, den pferdegesichtigen jüngsten Leutnant der Hyperion, dessen Kopf vom Niedergangsluk eingerahmt war — hinter ihm warteten, enganeinandergepreßt wie Erbsen im Faß, die restlichen Männer des Landungskommandos. Für die muß es noch schlimmer sein, ging es ihm durch den Kopf. In dem engen, stockfinsteren Laderaum zusammengepfercht, hatte ihnen nur die eigene Angst und der Geschützdonner Gesellschaft geleistet.
«Winkt den Soldaten an Land zu!«rief Bolitho. Einige Matrosen glotzten ihn verständnislos an. »Winkt! Ihr seid doch gerade dem verdammten Engländer entwischt!»
Seine Stimme klang so wild und böse, daß tatsächlich ein paar Männer in gellendes, irres Gelächter ausbrachen und wie verrückt zu den Leuten an der Pier hinübergestikulierten. Und die winkten zurück!
Erleichtert wischte Bolitho sich die Stirn mit dem Hemdsärmel und sagte:»Wenn Sie soweit sind, Mr. Bellamy…»
Ein kurzer Blick nach ac htern zeigte ihm, daß die Hafeneinfahrt tatsächlich schon von der keilförmig vorspringenden Landzunge verdeckt war. Darüber konnte er die obersten Rahen der Hyperion sehen und verspürte ungeheure Erleichterung, denn sie halste bereits wieder und nahm Kurs auf die offene See, wo ihr nichts mehr passieren konnte.
«Jetzt! Leeruder!«schrie Bellamy heiser. Als Bolitho wieder nach vorn blickte, zeigte der Bugspriet bereits auf die Kluft zwischen den Bergen. Vorsichtig zog er den Degen aus der Scheide und ging zum Vorschiff, wo die Karronade wartete.