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Kapitän Hoggan von der Justice stand mit verschränkten Armen mitten in seiner unordentlichen Kajüte und betrachtete Bolitho unverhohlen amüsiert. Er war ein muskulöser Mann mit dickem, ungekämmtem Haar; sein schwerer Rock, der für den Nordatlantik besser geeignet gewesen wäre, sah aus, als hätte er darin geschlafen.
«Wenn Sie dachten, ich hätte was dagegen, haben Sie sich getäuscht. «Er deutete auf eine Schnapsflasche.»Möchten Sie ein Glas, bevor Sie gehen?»
Bolitho blickte sich in der Kajüte um. Seekisten und Gepäckstük-ke aller Art türmten sich an den Wänden; es gab auch ein blankes Gestell mit Musketen und Pistolen. Wie kam ein ehrlicher Seemann dazu, so einen Posten anzunehmen? Ein Schiff zu befehligen, das sein Geld verdiente, indem es eine elende Menschenfracht nach der anderen transportierte? Wahrscheinlich enthielten diese Kisten die persönliche Habe von Sträflingen, die während der Überfahrt gestorben waren. Bei diesem Gedanken verging Bolitho der Durst.»Nein, Captain, ich trinke nicht«, erwiderte er kalt.
«Wie Sie wollen. «Die enge Kajüte roch auf einmal nach Rum, denn Hoggan schenkte sich ein großes Glas randvoll.»Was ist schon dabei?«fragte er.»Auf Ihren Befehl bringe ich also dieses Mistpack nach Cozar. Was danach kommt, ist Pomfrets Problem. «Er kniff ein Auge zu.»Für mich ist das eine kurze Reise — und dann ab nach Hause, zum selben Preis. Viel besser, als monatelang auf See zu liegen und dann in der Botany Bay!»
Trotz der dumpfen Hitze in der Kajüte erschauerte Bolitho.»Schön. Sie werden also Anker lichten, sobald ich signalisiere. Richten Sie sich nach allen Anweisungen, die Sie von meinem Schiff bekommen, und halten Sie immer Ihre Station!»
Hoggans Miene wurde härter.»Meine Justice ist kein Kriegsschiff!»
«Sie steht jedenfalls unter meinem Befehl. «Bolitho versuchte, die Verachtung zu unterdrücken, die er für diesen Mann empfand. Er blickte auf seine Taschenuhr.»Jetzt seien Sie so gut und lassen Sie die Gefangenen antreten. Ich will ihnen sagen, was geschieht.»
Hoggan schien protestieren zu wollen. Aber dann grinste er und murmelte:»Das ist ja die Höhe! Warum machen Sie sich diese Mühe mit den Kerls?»
«Tun Sie bitte, was ich sage!«befahl Bolitho mit abgewandtem Blick.»Die Leute haben wenigstens das Recht, zu erfahren, was aus ihnen wird.»
Hoggan stapfte hinaus; Minuten später hörte Bolitho draußen Befehlsgebrüll, dann stand Hoggan wieder in der Kajütentür und verbeugte sich ironisch.»Die Gentlemen sind bereit, Captain!«meldete er mit breitem Grinsen.»Ich muß für ihr rauhes Äußere um Entschuldigung bitten, aber sie haben den Besuch eines Offiziers des Königs nicht erwartet!»
Bolitho warf ihm nur einen kalten Blick zu und trat auf das windgepeitschte Deck hinaus. Schmale Wolkenfetzen jagten hoch oben über die kreisenden Mastspitzen, und Bolitho merkte, daß der Wind immer mehr auffrischte.
Dann blickte er vom Hauptdeck hinunter in die dichtgedrängte Masse der zu ihm emporgerichteten Gesichter. Die Justice war nicht viel geräumiger als eine große Fregatte, doch war ihr Rumpf, wie er wußte, wesentlich tiefer; bei ihr kam es nicht auf Schnelligkeit an, sondern auf reichlichen Frachtraum. Und doch schien es unwahrscheinlich, daß alle diese zerlumpten, verzweifelten Männer die lange Reise nach Neu-Holland überlebt hätten, denn das Schiff hatte außer ihnen noch eine volle Mannschaft und entsprechende Vorräte an Bord. Er musterte die beiden Decksgänge: anders als bei einem Kriegsschiff waren sie nicht nur nach außen, sondern auch nach innen bestückt; die gefährlich aussehenden Drehbassen waren nicht nach See, sondern auf die unten versammelten Sträflinge gerichtet. Sie waren ganz unterschiedlich gekleidet; vom feinen, aber verschmutzten Wollstoff bis zu stinkenden Gefängnislumpen war alles vorhanden; hier und da fiel ein ehemals farbenprächtiges Gewand auf und machte das Bild noch fremdartiger. Durch Habgier oder Unglück entwurzelt, standen sie jetzt stumm auf dem schwankenden Deck. In ihrem Gesichtern waren alle möglichen Gefühle von ängstlicher Erwartung bis zur stumpfen Verzweiflung zu lesen.
Einige Wachtposten auf den Decksgängen trugen Peitschen, die sie geübt gegen ihre Stiefel schnippen ließen, während sie darauf warteten, daß Bolitho endlich seine Rede hielt und sich dann um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte.
Lernten die Menschen denn nie aus früheren Ereignissen? fragte sich Bolitho. Sinnlose Brutalität hatte mit vernünftiger Ordnung und Disziplin nichts zu tun. Erst vor einem knappen Jahr waren einige Meuterer der Bounty, die das Pech gehabt hatten, erwischt zu werden, in Portsmouth vor den Augen der ganzen Flotte an den Rahen gehenkt worden; und doch interessierten sich manche Leute mehr für Bestrafung als für die Frage, wie man Meutereien verhindern konnte.
«Ich werde euch nicht lange aufhalten. «Bolithos Stimme übertönte ohne Anstrengung das Knarren der Spieren und Blöcke.»Ich bin nicht hier, um euch zu richten oder zu verurteilen. Das haben bereits andere getan. Ich habe euch nur zu eröffnen, daß euer Transport nach Neu-Holland verschoben worden ist. Für wie lange, das kann ich jetzt noch nicht sagen. «Nun hörten alle mit höchster Spannung zu.»Dieses Schiff segelt im Geleitzug nach der Insel Cozar, die etwa sechshundert Meilen entfernt ist. Dort werdet ihr durch eure Arbeit einen Beitrag im Kampf gegen die Feinde unseres Vaterlandes leisten!»
Wie ein einziger Seufzer stieg es von den dichten Reihen hoch; und als Bolitho, verwundert über diese Reaktion, Hoggan anblickte, sagte der gleichgültig:»Manche hatten Frauen und Kinder dabei. «Er deutete unbestimmt nach Lee.»Die sind schon mit dem Hauptkonvoi vorausgesegelt.»
Angewidert von Hoggans Gleichgültigkeit und entsetzt darüber, was seine Worte für die Sträflinge bedeuteten, starrte Bolitho hinunter. Er hätte daran denken müssen, daß Männer und Frauen auf verschiedenen Schiffen transportiert wurden — eine durchaus zweckmäßige Maßnahme. Aber er hatte diese Menschen nur als gesichtslose Wesen gesehen; daß manche auch Familie hatten, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Und da tönte auch schon eine Stimme zu ihm empor:»Aber meine Frau, Sir! Was soll sie ohne mich anfangen?»
«Halt's Maul, du verrotztes Schwein!«brüllte Hoggan.
Bolitho hob die Hand.»Ich will versuchen, darauf zu antworten, Captain. «Zu den Sträflingen gewandt, fuhr er fort:»Der Krieg läßt uns in dieser Sache keine Wahl. Meine eigenen Männer haben seit vielen Monaten keinen Fuß an Land gesetzt, manche seit Jahren nicht. Auch sie haben Familien.»
Der Mann von unten rief dazwischen:»Aber meine Frau ist nicht in ihrer Heimat, sondern weit weg, irgendwo da drau-ßen…«Unvermittelt schien der Ärmste den ganzen Schrecken des Begriffs Deportation zu erfassen.
Bolitho sprach weiter:»Ich werde für euch tun, was ich kann. Wenn ihr gute Arbeit leistet und gehorcht, wird sich das bestimmt zu euren Gunsten auswirken. Strafnachlaß oder Aufhebung des Urteils liegen durchaus im Bereich der Möglichkeiten. «Er wollte weg von diesem Elendsschiff, hatte aber nicht das Herz, ihnen einfach den Rücken zu drehen und sie ihrer Verzweiflung zu überlassen.»Denkt immer daran: Wer oder was ihr auch sein mögt, Engländer seid ihr alle und steht einem gemeinsamen Feind gegenüber.»
Er brach ab, denn Allday sagte leise:»Die Boote der Hyperion kommen zurück, Captain. Mr. Rooke macht sich wohl Sorgen wegen dem Wind.»
Bolitho nickte und wandte sich an Hoggan.»Sie können klarmachen zum Ankerlichten. Wir segeln sofort. «Er sah noch, wie die Masse der emporgewandten Gesichter in kleine ratlose Gruppen auseinanderbrach, und fuhr eindringlich fort:»Versuchen Sie, ihnen das Leben nicht noch schwerer zu machen, Captain.»
Mit offenkundiger Feindseligkeit sah Hoggan ihn an.»Wollen Sie mir etwa Befehle erteilen, Sir?»
«Da Sie es so ausdrücken — ja!«Bolithos Augen wurden kalt und hart.»Und ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich. «Ohne ein weiteres Wort schritt er hinter Allday her.
Während die Gig tapfer einen immer heftiger werdenden Tanz mit den weißbemützten Wellen austrug, starrte Bolitho zur Hyperion hinüber und dachte über die Wandlung, die er — so kam es ihm jedenfalls vor — während seines kurzen Besuchs auf der Justice durchgemacht hatte. Er wußte, daß es auf Täuschung beruhte, aber nach der Atmosphäre von Hoffnungslosigkeit und Verfall auf dem Sträflingsschiff kam ihm die Hyperion wie eine vergleichsweise heile Welt vor. Beim Anblick ihrer hohen, gischtübersprühten Bordwand und der zweckmäßigen, zielstrebigen Arbeit der Männer wurde er ruhiger; seine durcheinanderwirbelnden Gedanken beruhigten sich. Schnell kletterte er durch die Pforte und passierte, indem er flüchtig an den Hut tippte, die zu seinem Empfang angetretene Abteilung. Er befahl Leutnant Inch:»Sofort Boote einholen und festmachen! Und melden Sie Vollzug!«Dann erst hatte er das vage Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Normalerweise hätte er das sofort gemerkt, aber er hatte zu lebhaft an die Sträflinge gedacht. Inch starrte nach achtern; er folgte seinem Blick und begriff, warum der Leutnant so nervös war.
Allday, der eben durch die Fallreepspforte kletterte, konnte sich nicht enthalten auszurufen:»Na so was! Ein Frauenzimmer auf dem Achterdeck!»
Mit erzwungener Ruhe und gefährlich leise fragte Bolitho:»Wollen Sie bitte so freundlich sein und mir erklären, was das zu bedeuten hat, Mr. Inch?»
Der Leutnant schluckte verlegen.»Sie kam in einem Boot an Bord, Sir. Von der Festung. Sie hat einen Brief..»
Bolitho schob ihn beiseite.»Ich werde das selbst in Ordnung bringen, da Sie ja anscheinend den Verstand verloren haben!«Mit langen Schritten ging er nach achtern und die Decksleiter hinauf; er hatte Herzklopfen vor Ärger.
Da stand, stirnrunzelnd und nervös, Leutnant Rooke, und neben ihm Midshipman Seton, der merkwürdigerweise trotz des Captains gefahrdrohender Miene lächelte.
Dann erst sah er das Mädchen. Es trug ein grünes Samtkleid, zu dem ein breiter spanischer Sonnenhut, mit rotem Band unterm Kinn festgebunden, stark kontrastierte. Sie bemühte sich, den Hut in der steifen Brise festzuhalten und gleichzeitig zu verhindern, daß ihr das lange Haar ums Gesicht peitschte.
«Wollen Sie mir dafür bitte eine Erklärung geben?«fragte Bo-litho, gereizt von einem zum ändern blickend.
Rooke setzte zum Sprechen an, aber das Mädchen sagte gelassen:»Ich bin Cheney Seton, Captain, und habe für Sie einen Brief von Sir Edmund Pomfret. «Sie fuhr mit der Hand in eine Rocktasche und brachte ein Kuvert zum Vorschein; dabei blickte sie fest in Bolithos ärgerliches Gesicht. Ihre großen Augen waren so blaugrün wie die See, rätselhaft und sehr ernst; auch ihre Stimme verriet nichts über ihre Gedanken und Gefühle. Etwas ratlos nahm Bolitho den Brief entgegen; er hatte den Sinn ihrer Worte nicht gleich erfaßt.
«Seton, sagten Sie?»
«S-Sir, sie ist m-meine Schwester. «Midshipman Seton verstummte unter Bolithos kaltem Blick.
Unbewegt fuhr das Mädchen fort:»Tut mir leid, wenn ich Ihnen Ungelegenheiten verursache, Captain. «Sie deutete auf ein Häufchen Gepäck.»Aber wie Sie sehen, liegt hier kein Irrtum vor.»
Bolitho sah Seton streng an.»Wußten Sie davon, Mr. Seton?»
«Er hat nichts gewußt. «Sie sprach mit einer gewissen Schärfe, und wäre Bolitho nicht so wütend gewesen, hätte er vielleicht gesehen, daß sie sich kaum noch beherrschen konnte.»Ich war beim Geleitzug nach Neu-Holland. «Sie zuckte die Achseln, als sei das jetzt unwichtig.»Nun soll ich mit Ihnen zu dieser Insel segeln.»
«Wollen Sie mich bitte nicht unterbrechen, Miss, äh, Seton, wenn ich mit einem meiner Offiziere spreche!«Bolitho war bereits etwas unsicher geworden; aus dem Augenwinkel sah er ein paar neugierige Matrosen unterhalb des Achterdecks.
Ebenso scharf wie er erwiderte sie:»Dann wollen Sie bitte nicht von mir sprechen, als sei ich ein Stück Inventar Ihres Kanonenboots, Captain!»
Dalby, der Dritte Offizier, der sich in Hörweite befand, sagte hilfsbereit:»Das ist kein Kanonenboot, Miss. >Linienschiff< heißt das bei der Marine.»
Jetzt brüllte Bolitho los:»Und wer hat Sie gefragt, Mr. Dalby?«Wütend fuhr er herum.»Mr. Rooke, bitte lassen Sie >Klar zum Ankerlichten< pfeifen, und geben Sie die entsprechenden Signale an den Geleitzug!«Dann wandte er sich wieder Miss Seton zu. Jetzt ließ sie die Arme hängen, denn anscheinend machte es ihr nichts mehr aus, daß ihr Haar, tief kastanienbraun, wie er feststellte, vom Wind gezaust wurde.
«Wenn Sie mitkommen wollen, Miss Seton, kann ich mir diese Geschichte etwas ausführlicher anhören.».
Allday und Gimlett eilten voraus, und Bolitho folgte ihnen mit dem Mädchen den Kampanjeniedergang hinunter. Es war schlank und trug den Kopf trotzig hoch. Dieser verdammte Pomfret soll zur Hölle fahren, dachte er wütend. Warum hatte er ihm nichts von diesem Mädchen gesagt? Schlimm genug, daß er die Hyperion zu einer Zeit, in der es durchaus zum Kampf kommen konnte, überhaupt nach Gibraltar geschickt hatte. Aber dann noch Setons Schwester vorzufinden und sie wie ein weiteres Stück von Pomfrets
Privatgepäck mitnehmen zu müssen, war beinahe mehr, als er ertragen konnte.
Sie trat in die Kajüte und blickte sich mit der gleichen ernsthaften Aufmerksamkeit um wie vorhin an Deck. Etwas ruhiger begann Bolitho:»Und nun können Sie mir die Sache vielleicht erklären?»
«Haben Sie etwas dagegen, daß ich mich setze, Captain?«fragte sie und blickte ihn gelassen an.
«Bitte sehr. «Bolitho riß den Brief auf und trat damit zum Fenster. Da stand es. So weit, so gut. Schließlich sagte er:»Ich weiß immer noch nicht, warum Sie nach Cozar wollen.»
«Und ich weiß nicht, ob Sie das etwas angeht, Captain. «Sie faßte die Armlehnen ihres Sessels fester.»Aber da es bald allgemein bekannt sein wird — ich reise nach Cozar, um Sir Edmund Pomfret zu heiraten.»
Bolitho starrte sie sprachlos an.»Ach so«, sagte er endlich.»Verstehe.»
Sie lehnte sich im Sessel zurück; mit ihrem Trotz war es offensichtlich vorbei.»Das glaube ich kaum«, erwiderte sie müde.»Aber wenn Sie mir freundlicherweise sagen wollen, wo ich wohnen kann, werde ich mir Mühe geben, Ihnen aus dem Weg zu gehen.»
Bolitho sah sich ratlos um.»Hier. Ich lasse mir im Kartenraum ein Bett aufstellen. Hier haben Sie Platz genug.»
Sekundenlang hatten ihre Augen einen Ausdruck, als amüsiere sie sich heimlich.»Wenn Sie meinen, Captain?»
Jetzt kam Allday — für Bolitho wie der Strohhalm eines Ertrinkenden.»Bringen Sie meine Sachen in den Kartenraum, Allday! Ich will mich sofort umziehen — meine Alltagsgarnitur!«Zum Teufel mit dem Mädchen, dachte er; es macht sich über mich lustig, weil ich mich wie ein Narr anstelle.»Also holen Sie Gimlett, und sagen Sie ihm Bescheid!»
Allday warf einen raschen Blick auf das Mädchen im Sessel. Doch sein Gesicht blieb ausdruckslos. Er sagte nur:»Sieht nach einer steifen Brise aus, Captain. «Damit verschwand er.
Ein paar Minuten später kam Bolitho aufs Achterdeck, und die Unterhaltung der Offiziere verstummte wie abgeschnitten, als hätte er sie angebrüllt.
Rooke meldete:»Transporter haben Anker kurzstag, Sir. «Er nahm sich mächtig zusammen; wahrscheinlich, dachte Bolitho, freut es ihn wenig, das Schiff unter dem Teleskop jedes Kapitäns in Gibraltar aus dem Hafen segeln zu müssen. Bolitho hatte seinen kleinen grausamen Spaß daran.»Schön, Mr. Rooke«, sagte er kurz,»setzen Sie Segel, bitte. «Gossett blickte wie ein trauriger Bullenbeißer herüber.»Stecken Sie einen Kurs in Luv der Landspitze ab, Mr. Gossett, und stellen Sie zwei gute Männer ans Ruder. «Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen, so ärgerlich war er, als er an der Reling Aufstellung nahm und den Blick langsam über sein Schiff schweifen ließ. Die Männer standen schon an den Speichen des Ankerspills, die Seesoldaten an den Brassen, die Toppgasten warteten auf den Befehl zum Aufentern.
«Signal an Geleitzug: >Anker lichten««, befahl er, nahm ein Teleskop zur Hand und beobachtete, wie die Transportschiffe seeklar machten.
Als die Flaggen hochstiegen, setzte Rooke das Sprachrohr an und brüllte:»Klar bei Gangspill!«Tomlin, der Bootsmann, zeigte grinsend seine beiden Hauer und winkte bestätigend mit der Hand. Rooke leckte sich nervös die Lippen.»Setzt Vorsegel! Aufentern und Toppsegel los!»
Wortlos sah Bolitho zu, als die Toppgasten wie eine menschliche Flutwelle aufenterten, denn die Rohrstöcke der Deckoffiziere und Bootsmannsmaaten trieben die Säumigen mit mehr Enthusiasmus an als sonst. Anscheinend spürten sie die Gereiztheit ihres Kommandanten und wollten kein Risiko eingehen.
«Hol' dicht die Brassen!»
Keuchend vor Anstrengung warfen sich die Männer am Gangspill in die Speichen; der mächtige Anker riß sich aus dem Schlick und Sand des Hafens, schwerfällig legte sich die Hyperion in die stärker auffrischende Brise. Dann traf sie die volle Kraft des Windes, sie krängte noch mehr, die Matrosen auf den Rahen kämpften mit Händen und Füßen, um die großen Bäuche der sich unter ihnen entfaltenden Segel zu bezwingen. Mehr und mehr nahm die Hyperion Fahrt auf, die Rahen spannten sich knarrend wie riesige Bogen. Die Ankermannschaft verkattete flink den Anker, dann pflügte die Hyperion, schon auf Kurs, durch die Gischt stiebenden Wellen; und die Zuschauer an der Küste sahen sie ihres stolzen Namens würdig.
«Alle Schiffe sind Anker auf, Sir«, meldete Caswell.
«Recht so. Signalisieren Sie: >Auf Station wie befohlen<. «Er zog sich den Dreispitz fest in die Stirn und blickte zum Wimpel empor. Der stand steif wie ein Speer.
«Neues Signal: >So viele Segel wie möglich setzen<. «Nur nicht gleich zu viel signalisieren, dachte er grimmig. Später würde er noch Veranlassung genug haben, die Säumigen anzutreiben.
Wie ein Terrier hinter den Bullen überholte die winzige Schaluppe Snipe unter geschwelltem Großsegel das vorderste Transportschiff. Ihr Platz war an der Spitze des Konvois. Die Hyperion und die Fregatte würden in Luv bleiben, in diesem Falle also achteraus; so hatten sie die Möglichkeit, jederzeit schnell vorzustoßen, wenn sie ihr Geleit verteidigen mußten.
Bolitho musterte die Harvester im Teleskop: ihr schlanker Bug stieg und fiel kraftvoll und graziös wie ein schönes starkes Raubtier mit den nun anrollenden großen Hochseewellen. Die Hyperion schob in diesem Seegang nur lässig ihre mächtige Schulter vor und hüllte sich dann in Gischt wie in ein Tuch. Bei dem achterlichen Wind arbeitete das Deck in stetigem Stampfen; die Luft darüber war erfüllt vom Jaulen der Takelage und dem alles beherrschenden Schlagen und Rauschen der Segel, in denen die Matrosen, von unten winzig anzusehen, immer noch kämpften, um entsprechend Bolithos jüngstem Befehl mehr Segel zu setzen.
Auf einmal fiel ihm die Frau wieder ein, die dort unten in seiner Kajüte saß. Ihretwegen war er so gereizt. Aber dann sah er Gossetts besorgtes Gesicht und sagte:»Wir müssen wahrscheinlich bald reffen, Mr. Gossett, aber erst einmal wollen wir den Wind ausnutzen, damit wir möglichst rasch von Land freikommen. «Der Master nickte sichtlich erleichtert. Vermutlich begriff er besser als mancher andere an Bord, daß es keinen Sinn hatte, ein Schiff bis zum Mastbruch zu segeln, bloß damit der Kommandant seinen Ärger abreagieren konnte.
Stärke und Richtung des Windes blieben fast gleichmäßig günstig bis zum vierten Tag nach Gibraltar. Bis dahin war das Geschwader gut 420 Meilen gesegelt. An Bord der Hyperion konnte sich niemand an eine so schnelle Reise erinnern. Es hatte kaum Zwischenfälle gegeben. Gegen Abend des vierten Tages schoß der Wind plötzlich nach Nordosten aus und flaute etwas ab. Bolitho fand jedoch, als er an der Luvseite des Achterdecks stand und die prachtvolle, kupferrot glänzende untergehende Sonne bewunderte, er könne zufrieden sein. Die Schiffe waren gut zusammengeblieben; sogar jetzt konnte er, wenn er über den stampfenden Bug nach vorn blickte, die Rümpfe der Transporter in dem seltsamen Licht so aufglänzen sehen, als wären sie aus poliertem Metall. Das größte Schiff, die Erebus, führte; ihr folgte in angemessenem Abstand als zweite die Vanessa. Beide waren gutgeführte Schiffe, und wie sie da im schwindenden Sonnenlicht glänzten, sahen sie mit ihren aufgemalten falschen Stückpforten und der straffen Takelage tatsächlich wie Kriegsschiffe aus. Nach ihnen kam die Justice. Ihr Rumpf war von stumpfem Schwarz, denn sie lag schon im Schatten. Ihre Matrosen arbeiteten noch in der Takelage, um wie auf den anderen Schiffen die Segel für die Nacht zu kürzen.
Das Sausen des Windes im Rigg wurde unvermittelt übertönt von Gelächter aus der Offiziersmesse. Vermutlich, dachte Bolitho, nützten die Leutnants ihre Freiwache und die seltene Gelegenheit, eine Dame zu bewirten, nach besten Kräften aus.
Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und nahm seinen Spaziergang längs der Luvreling wieder auf, wobei ihm die beiden Rudergasten und Dalby, der Wachoffizier, interessiert zuschauten. Letzterer hatte sich diskret nach Lee verzogen.
Merkwürdig, wie Cheney Seton das ganze Schiff im Sturm erobert hatte. Obwohl sie sich immer nur kurze Zeit bei der Kampan-je aufhielt, fanden sich jedesmal eine ganze Anzahl Matrosen ein, die dort eigentlich gar nichts zu suchen hatten, und lächelten ihr freundlich zu — oder starrten sie auch bloß an wie eine Erscheinung.
Gimlett war natürlich in seinem Element. Wie eine Gluckhenne bemutterte er Cheney Seton und schützte sie gegen jeden Eindringling energischer, als Bolitho es ihm je zugetraut hätte. Und sie hielt ihr Wort. Sie ging Bolitho aus dem Weg und tat nichts, was sie auch nur von fern mit der Schiffsführung in Konflikt bringen konnte.
Je heftiger ihm die Gedanken durch den Kopf schossen, um so schneller wurden auch seine Schritte; denn ihm war wieder einmal klar geworden, daß Miss Seton es gerade durch ihre Zurückhaltung erreicht hatte, nicht sich, sondern ihn zu isolieren, und zwar noch stärker als sonst. Vielleicht war sie nur aus diesem Grund Inchs
Einladung zum Dinner in der Offiziersmesse gefolgt. Halb und halb hatte Bolitho erwartet, ebenfalls eingeladen zu werden, aber das hatten sie nicht getan. Wie er auf dem immer dunkler werdenden Deck auf und ab ging und dem Klatschen seiner Schuhsohlen auf den Planken lauschte, hoffte er fast, daß irgend etwas Unvorhergesehenes, etwa ein Windwechseln eintreten möge, damit er» Alle Mann «pfeifen lassen und die fröhliche Gesellschaft dort unten stören konnte. Jedesmal, wenn er sich in seinem engen Kartenraum zur Ruhe begab, konnte er sich kaum an den Gedanken gewöhnen, daß das Mädchen nur ein paar Fuß von ihm entfernt schlief oder in seiner eigenen Kajüte speiste, während er sich verkroch wie ein unartiger Schuljunge. Noch seltsamer war, daß er auch nach vier Tagen kaum mehr von ihr wußte, als in der Minute, als sie an Bord gekommen war. Was er über sie gehört hatte, waren Informationen aus dritter oder vierter Hand, und um so rätselhafter, weil sie unvollständig waren. Der Steward des Midshipmanlogis hatte Mids-hipman Piper seinem Kameraden Caswell erzählen hören, was Seton ihm über seine Schwester anvertraut hatte. Der Steward hatte es natürlich Gimlett weitererzählt, der mit sichtlichem Widerstreben und nur unter Prügelandrohung einiges davon Allday enthüllt hatte. Und dieser wiederum hatte, etwa während Bolitho sich rasierte oder er ihm, wenn das Schiff mitten in der Nacht in eine heftige Bö geriet, in seinen schweren Bordmantel half, beiläufig darüber gesprochen. Bolitho hatte es ebenso beiläufig zur Kenntnis genommen und somit nicht nur Zeit gespart, sondern auch das Gesicht gewahrt.
Als er jetzt an Deck hin und her ging, das Kinn tief im Schal vergraben, machte er sich im Geist ein Bild von dem Mädchen, das Pomfrets junge Frau werden sollte. Cheney zählte sechsundzwanzig Jahre und war bis vor kurzem in Pomfrets Londoner Haus als eine Art Haushälterin tätig gewesen. Das war Bolitho im ersten Moment ziemlich verdächtig vorgekommen, doch nach Alldays Angaben hatte Pomfret es zum beiderseitigen Vorteil so arrangiert, damit sie ihren kränklichen Vater pflegen konnte, der aus irgendeinem Grund, den Bolitho nicht erfuhr, in diesem Hause wohnte, als sei es sein eigenes. Ihr Vater war jetzt tot, und sie hatte auf der ganzen Welt nur noch ihren Bruder. Ihre Mutter war bei einem Aufstand auf Jamaika umgekommen; revoltierende Sklaven hatten die Setonsche Farm überfallen, mehr weil sie in ihrem Weg lag, als aus irgendeinem besonderen Grund. Bolithos Stirnrunzeln vertiefte sich. Das war interessant. Pomfret war damals einem vor Jamaika operierenden Geschwader zugeteilt gewesen und wahrscheinlich irgendwie mit den Setons bekanntgeworden; zumindest in jenen Tagen mußte die Familie des Mädchens ziemlich wohlhabend und einflußreich gewesen sein. Aber was danach geschehen war, daraus wurde Bolitho nicht ganz klug. Nur eines war klar: ihre trotzige Haltung, die er zunächst für angeborene Arroganz gehalten hatte, war lediglich Notwehr. Es konnte nicht leicht für sie gewesen sein, allein in London zurechtzukommen. Ein letztes Stückchen Information hatte ihm Allday erst heute früh verpaßt: Pomfret hatte die Vormundschaft über Midshipman Seton übernommen. Anscheinend lag dem Admiral sehr viel daran, seine Position bei dem Mädchen zu stärken, dachte Bolitho.
Leutnant Dalby kam über das stockdunkle Deck und faßte an den Hut.»Alle Lampen brennen vorschriftsmäßig«, meldete er.
Bolitho blieb stehen und suchte die langsamen Transporter mit den Augen. Jeder führte eine einzelne Laterne, und so waren sie auch während der Nacht untereinander ständig in Sichtkontakt. Es war seine Idee gewesen, und auch er hatte es schon als übertriebene Vorsicht empfunden. Andererseits hatte die Schaluppe Snipe, dem Konvoi weit voraus wie ein stöbernder Terrier, nachmittags signalisiert, daß sie im Südwesten ein unbekanntes Segel ausgemacht hatte. Es war seitdem nicht wieder gesichtet worden, aber man mußte vorsichtig sein. Wahrscheinlich ein spanischer Kauffahrer, dachte er, obwohl der Geleitzug ziemlich weit draußen stand, über sechzig Meilen vom nächsten Land entfernt. Immerhin waren sie im Golf von Valencia und kamen mit jedem Tag der französischen Küste näher.
«Recht so, Mr. Dalby. «Er hatte wenig Lust, sich mit dem Dritten zu unterhalten, der zu leicht ins Schwatzen kam, wenn man ihm Gelegenheit dazu gab. Doch Dalby sprach schon weiter:»Wenn sich das Wetter hält, sind wir in fünf Tagen vor Cozar, Sir. «Er schlug laut die Hände zusammen, denn nach des Tages Hitze war es jetzt empfindlich kalt.»Hoffentlich wird Miss Seton von ihrer neuen Heimat nicht enttäuscht sein.»
Das war auch ein Punkt, über den sich Bolitho des öfteren Gedanken gemacht hatte. Aber daß dieser Dalby so leichthin darüber redete, versetzte ihn in eine unvernünftige Wut.
«Kümmern Sie sich gefälligst um Ihren Dienst, Mr. Dalby«, fuhr er ihn an.»Sie hätten schon längst die Wache herausrufen und die Luvbrassen dichtholen lassen müssen, die schlagen ja wie Glockenseile!»
Dalby verschwand eiligst, und Bolitho seufzte. Es ging ihn zwar überhaupt nichts an — aber wie konnte Pomfret ein Mädchen nach Cozar holen, in diese sonnengebleichte Hölle?
Am Achterdecksniedergang bewegte sich etwas, und er sah zwei Gestalten an Deck kommen und nach Lee hinübergehen. Die eine war Cheney, fest in ihren langen Mantel gehüllt, die Kapuze überm Haar; die andere war ihr Bruder, der beim Dinner in der Offiziersmesse als Begleitung fungiert hatte; vermutlich war er über die plötzliche Beliebtheit, die ihm die Anwesenheit seiner Schwester verschaffte, höchst erfreut.
Seton erblickte den einsamen Bolitho und sagte rasch:»M-muß gehen. H-hab' in einer Stunde W-wache!«Er verschwand eiligst unter Deck, und das Mädchen wandte sich um. Bleich hob sich sein Gesicht vor der dunklen See ab.»Gute Nacht, Captain!«Sie hob flüchtig die Hand und stützte sich dann gegen den Mast, denn die Hyperion nahm eben wieder eine steil anrollende Welle.»Das war ein sehr netter Abend.»
Sie wandte sich zur Kampanje, doch Bolitho rief rasch:»Äh — Miss Seton!«Sie hielt inne und drehte sich wieder um.»Ich, äh, fragte mich gerade, ob Sie sich in der Kajüte auch wohl fühlen?»
In der Dunkelheit leuchtete ihr Lächeln auf.»Danke sehr, Cap-tain, durchaus.»
Bolitho fühlte, daß er tatsächlich rot wurde, und geriet in Wut über seine eigene Dummheit. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Doch sie fuhr gelassen fort:»Fast tut es mir leid, daß wir bald am Ziel sein werden.»
Zögernd ging Bolitho über das trennende Deck zu ihr hinüber und sagte:»Darüber habe auch ich mir schon Gedanken gemacht. Cozar ist eigentlich kein passender Ort für ein Lady.»
«Ich weiß, Captain. «In ihrer Stimme lag weder Zurückweisung noch Feindseligkeit.
Dalby kam rasch übers Deck und starrte die beiden verwundert an.»Brassen zur Nacht gesichert, Sir«, meldete er.
Wütend fuhr Bolitho herum.»Verschwinden Sie, Mr. Dalby!«knurrte er und wandte sich wieder dem Mädchen zu. Es hielt die Hand vor den Mund und schüttelte sich vor unterdrücktem Lachen.»Der Arme! Sie haben ihn zu Tode erschreckt!«Doch gleich nahm sie sich wieder zusammen.»Ich kann mir nicht vorstellen, warum Ihre Leute Sie so mögen. Sie sind doch furchtbar streng!»
Bolitho wußte nicht, was er sagen sollte.»Ich wollte ihn nicht. «setzte er an, doch kam er sich so blöd vor, daß er mit verlegenem Grinsen abbrach.»Bitte um Entschuldigung, Miss Seton«, brachte er schließlich zustande,»ich will versuchen, mich zu bessern.»
Sie nickte nur.»Dann gehe ich jetzt in meine Kajüte, Captain«, sagte sie.
Bolitho folgte ihr einen halben Schritt.»Vielleicht könnten wir gelegentlich zusammen essen?«Er war furchtbar verlegen, und um es noch schlimmer zu machen, war er sich dessen auch bewußt.»Vielleicht noch bevor wir in Cozar sind?»
Einen gräßlichen Augenblick dachte er, sie würde ihren Sieg dadurch krönen, daß sie so tat, als habe sie nichts gehört. Doch dann blieb sie, anscheinend nachdenklich, neben dem Ruder stehen.»Das wäre sehr nett, Captain. Ich will es mir morgen überlegen. «Und damit verschwand sie. Mit Augen, die wie helle Glasmurmeln glitzerten, starrten die beiden Rudergasten ihren völlig verwirrten Kommandanten an.
Bolitho war das gleichgültig. Er freute sich über alle Maßen; und was irgendeiner seiner Leute von ihm denken mochte, kümmerte ihn in diesem Moment merkwürdigerweise überhaupt nicht.
Am nächsten Morgen war Bolitho schon sehr früh auf und hatte sich besonders sorgfältig rasiert und gekleidet. Das war allerdings nichts Ungewöhnliches; denn obwohl er Sonnenuntergänge auf See liebte, faszinierte und belebte ihn die Morgenfrühe noch mehr. Die Luft atmete sich frischer, und die See war in der bleichen Morgensonne noch ohne jede Bösartigkeit.
Er ging aufs Achterdeck und postierte sich an der Reling. Geschäftig liefen die Matrosen auf dem Oberdeck hin und her, arbeiteten mit Schwabber und Bimsstein und übertönten mit ihren vergnügten Zurufen das stete Klappern der Lenzpumpe.
Rooke hatte, während Bolitho sich rasierte, um Erlaubnis ersucht, die Bramsegel zu setzen, und der Anblick der schimmernd weißen Leinwand hoch oben erfüllte ihn gerade heute mit besonderer Freude. Überhaupt war er hochzufrieden. Das Schiff benahm sich ausgezeichnet, und die Männer waren viel vergnügter als früher. Beim Gedanken an den Vorabend empfand er allerdings kurz eine schmerzliche Ungewißheit. Das Mädchen würde das Schiff sehr bald verlassen. Hoffentlich ging diese neue Atmosphäre von Kameradschaft und Zusammengehörigkeit nicht mit ihm von Bord.
Aber er wußte genau, daß er mit diesen Überlegungen nur seine eigenen Gefühle erforschte. Wäre er noch im Zweifel gewesen, so hätte ihm der plötzliche Schmerz beim bloßen Gedanken, sie zu verlieren, die richtige Antwort gegeben. Es war natürlich absolut lächerlich. So oder so, in Kürze war sie Frau eines Admirals, und zweifellos würde Pomfret seinen Einfluß zu nützen wissen und alsbald seine Flagge in angenehmerer Umgebung hissen.
Hinter ihm murmelte Gossett einen Gruß, und als Bolitho sich umwandte, sah er Cheney langsam auf die Reling zuschreiten, das Gesicht dem noch dunstigen Sonnenlicht zugewandt. Schon als sie an Bord kam, war sie sonnengebräunter gewesen als bei jungen Damen üblich; seit er wußte, daß sie auf Jamaika aufgewachsen war, wunderte ihn das nicht mehr. Und die Tage auf See hatten ihrer Bräune einen wunderschönen Goldton verliehen; er empfand ihren Anblick, als sie so dastand und die milde Morgensonne genoß, als außerordentlich herzbewegend.
Verlegen lächelnd lüftete er seinen Dreispitz.»Guten Morgen, Miss Seton. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?«Er sprach lauter als beabsichtigt, und ein Schiffsjunge neben dem Neunpfünder erstarrte über seinem Bimsstein und glotzte zu ihm empor.
«Sehr gut, Captain«, lächelte sie.»Besser als seit Tagen.»
«Äh — na, fein. «Er kümmerte sich nicht um die neugierigen Matrosen am Ruder.»Wie Sie sehen, hält sich der Geleitzug gut, und auch der Wind benimmt sich sehr anständig.»
Sie sah ihn an, und plötzlich wurden ihre Augen ernst.»Dann erreichen wir Cozar also planmäßig?»
«Ja«, nickte er und hätte beinahe hinzugefügt:»Leider. «Er riß sich zusammen und blickte zum Wimpel empor.»Ich habe dem
Zimmermann Auftrag gegeben, ein paar Möbel anzufertigen, damit Sie es auf Cozar gemütlicher haben.»
Sie sah ihn immer noch an, und er spürte, wie ihm die Wangen heiß wurden.»Er hat es selbst vorgeschlagen«, schloß er verlegen.
Ein paar Sekunden schwieg sie. Dann nickte sie langsam, und ihre Augen glänzten wieder.»Vielen Dank, Captain. Das war sehr nett von Ihnen.»
Die Matrosen, die Rudergasten, der Offizier der Wache — alle schienen meilenweit weg zu sein.»Ich wünschte nur, ich könnte mehr für Sie tun«, antwortete er leise.
Sie wandte sich ab und blickte auf die See; das lange Haar verbarg ihr Gesicht, und er bekam einen furchtbaren Schreck: Nun war er zu weit gegangen, sie würde nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen; geschah ihm ganz recht.
Aber sie sagte nur:»Vielleicht sollten wir lieber nicht mehr zusammen essen, Captain. Vielleicht wäre es besser, wenn.»
Sie brach ab, denn von oben ertönte die Stimme des Ausgucks:»An Deck! Die Snipe geht über Stag, Sir! Sie hat Signal gesetzt!»
Diese Meldung riß Bolitho aus der Niedergeschlagenheit, in die ihn Cheneys Worte versetzt hatten.
«Hinauf mit Ihnen, Mr. Caswell, und stellen Sie fest, was sie will!«Und zu dem Mädchen sagte er möglichst ruhig:»Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte keineswegs andeuten, daß ich. «Hilflos suchte er nach Worten.
Sie wandte sich ihm wieder zu, und er sah, daß sie Tränen in den Augen hatte.»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Captain, glauben Sie mir. Sie haben nichts gesagt, was.»
«An Deck! Signal lautet: Snipe an Hyperion: Fremdes Segel mit Kurs Nordnordwest<«Caswell mußte schreien, um den Wind zu übertönen.
Als Bolitho sich wieder Cheney zuwenden wollte, war sie nicht mehr da. Mühsam sagte er:»Recht so. Signal an Snipe…«Er zog die Brauen zusammen. Jeder Gedanke kostete ihn körperliche Anstrengung.»Signal: >Sofort rekognoszieren!< Und an den Geleitzug: >Segel kürzen<. «Caswell glitt an einem Backstag hinunter und rannte auf Signalstation.
Bolitho schritt an der Heißleine vorbei zur Reling. Ein Signalwimpel nach dem anderen wurde aus dem Gestell genommen und glitt schlangengleich zur Rah hinauf. Eine Meile achteraus legte sich die Fregatte Harvester leicht in den Wind, und auf mehr als einem erhobenem Teleskop blinkte die Sonne, als die vielfarbigen, so bedeutsamen Signale sich entfalteten.
Bolitho bemerkte Rookes erwartungsvollen Blick und befahl:»Nehmen Sie die Royals weg, Mr. Rooke, sonst überholen wir noch das Geleit.»
Jedes verfügbare Teleskop war auf das ferne weiße Federchen gerichtet, als die kleine Schaluppe ihren Kurs änderte und dem Horizont zu segelte. War es wieder einmal falscher Alarm? Aber im Moment konnte Bolitho weder Spannung noch Erleichterung empfinden.
Die Minuten zogen sich hin. Im Vorschiff wurden acht Glasen angeschlagen: Wachwechsel.
Allday kam übers Achterdeck.»Sie haben noch nicht gefrühstückt, Captain«, sagte er besorgt.
«Hab' keinen Hunger«, erwiderte Bolitho achselzuckend. Er schimpfte nicht einmal mit Allday, weil dieser ihn beim Nachdenken gestört hatte.
Eine volle Stunde verstrich, bis die Bramsegel der Schaluppe wieder an der sich nun schärfer abzeichnenden Kimm auftauchten. Caswell enterte in den Großmast auf und balancierte geschickt das leichte Rollen des Schiffes aus.
«Signal von Snipe, Sir. «Er rieb sich die tränenden Augen und versuchte es noch einmal.»Ich kann es nicht genau ausmachen. «Beinahe wäre er abgestürzt, denn ein paar unregelmäßige Wellen hoben die Hyperion an. Dann rief er:»Signal lautet: >Feind in Sicht«, Sir.»
Bolitho nahm die Meldung seltsam unbewegt entgegen.»Na schön«, sagte er nur.»Signal an Geleitzug: >Feind in Sicht — Klar Schiff zum Gefecht«.»
Rooke starrte ihn verwundert an.»Aber, Sir, vielleicht wollen sie uns gar nicht angreifen.»
«Die sind nicht so weit gesegelt, um uns guten Tag zu sagen, Mr. Rooke«, erwiderte er schneidend. Drüben auf der Justice wurde es plötzlich lebendig, als die neuen Signale auswehten.»Nein, sie sind hinter den Transportern her.»
Er blickte sich um: alle Männer auf dem Deck, dessen Planken vom Reinschiff noch naß waren, standen reglos und sahen voller Spannung zu ihm auf. Hier wie auf den anderen Schiffen erwartete man seine Befehle. Gelassen sagte er:»Mr. Rooke, lassen Sie >Klar Schiff zum Gefecht «anschlagen!»
Zwei kleine Trommeljungen der Marine-Infanterie rannten zum Backborddecksgang, stülpten sich ihre schwarzen Tschakos auf, hängten sich die Trommeln um und nahmen die Schlegel zur Hand. Das ganze Schiff hielt den Atem an, als die beiden, die Gesichter vor Konzentration verzerrt, ihren Wirbel schlugen. Auch die Har-vester und die beiden Transporter nahmen das Signal auf.
Bolitho zwang sich, bewegungslos an der Reling stehenzubleiben, während die Matrosen an Deck strömten und die MarineInfanteristen, deren Uniformen in der stärker werdenden Morgensonne so rot wie Blut leuchteten, achtern und oben in den Toppen Stellung bezogen. Unter Deck zeigten dumpfe Hammerschläge beim Abbau der Zwischenwände und sonstige Geräusche, daß das Schiff von einem schwimmenden Heim zu einer tödlichen Waffe umgewandelt wurde. Wieder blickte er auf die ruhige See, aber sie tröstete ihn wenig. Der Morgen war ihm schon verdorben gewesen, ehe die Snipe ihre Meldung gemacht hatte.
Rooke faßte an den Dreispitz. Er schwitzte mächtig.»Schiff ist klar zum Gefecht, Sir. «Dabei fiel ihm wohl ein, daß Bolitho früher nie mit der Zeit zufrieden gewesen war, und er fügte hastig hinzu:»In weniger als zehn Minuten diesmal, Sir.»
«Gut«, nickte Bolitho ernst.
«Soll ich Befehl zum Laden geben, Sir?»
«Noch nicht. «Jetzt endlich fiel ihm sein Frühstück ein, und er verspürte heftigen Hunger. Bestimmt würde er keinen Bissen essen können, aber mit irgend etwas mußte er sich beschäftigen. Er blickte auf das zwischen den Stagsegeln durchscheinende Sonnenlicht und bekam plötzlich Angst. Vielleicht war er heute abend schon tot. Oder er krümmte sich, was noch schlimmer wäre, schreiend unter dem Messer des Schiffsarztes. Hastig leckte er sich die trockenen Lippen und sagte zu den Offizieren:»Sie haben alle gefrühstückt, ich noch nicht. Ich bin im Kartenraum, wenn Sie mich brauchen. «Damit wandte er sich um und schritt langsam zum Niedergang.
Gossett sah ihm nach und flüsterte bewundernd:»Habt ihr das gesehen, Jungs? Eiskalt wie der Polarwind ist unser Cap'n!»