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Tag für Tag gingen die verhinderten Befreier durch die Stadt und hielten sich abwechselnd in der Nähe des Gefängnisses auf. Vorerst sahen sie jedoch keine Möglichkeit, die Gefangenen herauszuholen.
Marina hatte von Isolde die Auskünfte erhalten, die Hawburys Tochter selbst wußte. Es war an sich nichts von Belang; denn der Radscha von Bihar und alles, was mit diesem zusammenhing, interessierte Marina nur am Rande.
Sie überlegte, ob man mit der Befreiung nicht bis zur Deportation der Freunde warten sollte. Aber das war noch lange hin. Und Marina konnte sich vorstellen, wie sehr der Pfeifer unter dem Entzug der Freiheit litt.
An einem der nächsten Tage, als Ibn Kuteiba, Fernando und Ernesto zu ihrem täglichen Patrouillengang aufgebrochen waren, saß Marina in der Halle des indischen Hotels auf einem Diwan und las in der vier Monate alten Ausgabe des »Daily Courant«, einer der berühmtesten Zeitungen des damaligen London. Sie wurde plötzlich angesprochen. »Ah, eine Mem-Sahib, die Zeitung liest. Etwas ganz Neues.«
Sie erhob erstaunt die Augen zu dem Sprecher. Sie war in einen indischen Sarong gehüllt, in den sie sich an diesem Ort stets kleidete.
Der Mann, der sie interessiert anstarrte, war ein baumlanger Engländer, zwischen dessen Zähnen eine kurze Shagpfeife steckte. Die Hände hatte er in den Taschen, und der Tropenhelm saß ihm im Genick. Er hatte halb Englisch, halb Hindustani gesprochen.
»Höflich seid Ihr gerade nicht«, sagte Marina und legte die Zeitung weg. »Ich habe mir einen Gentleman immer anders vorgestellt.«
Der Lange nahm zögernd die Hände aus den Taschen und wußte nicht recht, ob er sie auf dem Bauch oder auf dem Rücken falten sollte.
»Ihr könnt ruhig auch die Pfeife aus dem Mund nehmen und den Hut absetzen, wenn Ihr schon dreist genug seid, eine Dame anzusprechen.«
Marina schlug mit einem kurzen Griff den Kopfschal zurück und schüttelte die Fülle ihrer roten Haare.
Der Engländer, der bislang geglaubt hatte, es mit einer Inderin zu tun zu haben, sperrte den Mund auf und stieß ein überraschtes »Ah« aus, wobei ihm die Pfeife auf den Boden fiel. Mit galanter Höflichkeit verbeugte er sich.»Stineway ist mein Name. Entschuldigt, Madam. Ihr seid Engländerin?«
»Andere Menschen gelten wohl bei Euch überhaupt nicht, wie?«
»Pardon, Euer Englisch ist so vollkommen, daß ich annehmen mußte, Ihr habt es in Oxford gelernt.«
»Man kann gutes Englisch auch in Madrid lernen. Ich hatte dort einen Lehrer, der aus Oxford war.«
»So seid Ihr Spanierin?« »Ihr seid sehr scharfsinnig!« Jetzt wurde auch er ironisch.
»Man rühmt mir diese Eigenschaft nach. Sie gehört übrigens zu meinem Beruf. Ich bin nämlich Zeitungsmann, Korrespondent für den »Daily Courant«.«
»Ah, so galt Euer Interesse also der Zeitung und nicht mir. Wenig schmeichelhaft für mich.«
Stineway schien doch ein wenig verlegen. Sein ohnehin schon rotgebranntes Gesicht nahm eine noch dunklere Färbung an.
»Verzeiht, Mylady, ich wollte Euch nicht kränken. Ich streife hier durch Indien, um mir dieses Land anzusehen. Ihr werdet Euch vorstellen, wie erstaunt ich war, ein Exemplar der Zeitung, die ich vertrete, in den Händen einer indischen Dame zu sehen.«
Marina hatte plötzlich den Gedanken, daß es vielleicht nützlich sein könnte, diesen Pressemann etwas näher kennenzulernen.
»Nehmt Platz, Mr. Stineway. Zeitungen haben mich von jeher interessiert.« Der Engländer ließ sich auf einem Sitzkissen nieder.
»Ich wünschte, daß es mehr Leute in Kalkutta gäbe, die der Presse freundlich gegenüberstehen«, seufzte er, »Leider habe ich die Erfahrung gemacht, daß dem nicht so ist. Dabei interessieren sich unsere Leser in London gerade für dieses Land und die Geheimnisse, die mit seiner Erschließung verbunden sind.«
»So seid Ihr praktisch ein Privatmann und vertretet nicht die Interessen dieser gräßlichen Ostindien-Kompanie?«
»Nein, Mylady. Ich vertrete immer nur die Interessen meiner Leser. Sie wollen wissen, was hier passiert, ob die Klagen berechtigt sind, die man in London über die Kompanie hört, ob das Land auf humane Weise zivilisiert wird, ob die Inder mit freudigem Herzen westliche Kultur aufnehmen und so weiter. Da muß man natürlich Land und Leute kennenlernen, um ein einigermaßen wahrheitsgetreues Bild zu geben.«
»Wahrheitsgetreu?« fragte Marina. »Zur wahrheitsgetreuen Berichterstattung gehören meiner Meinung nach auch die unerfreulichen Dinge, auch wenn dabei kein gutes Haar an den hiesigen Vertretern Englands bleibt.« »Natürlich.«
»Ihr wollt doch nicht behaupten, daß Ihr in Eurer Zeitung Dinge bringt, die gegen die Interessen der Kompanie gerichtet sein könnten.«
»Und ob ich das behaupten will! Das sind ja gerade die Rosinen in jedem Artikel. Eine Zeitung ist doch kein Märchenbuch. Schöne Phrasen dreschen die Militärs, die Beamten und die Höflinge in Fülle. Was uns interessiert, ist allein die Wahrheit. Man besteuert uns ja auch hoch genug dafür.«
»Besteuern? — Die Wahrheit? — Wie machen sie das?«
»Ganz einfach. Es gibt da eine Akte, nach der von jeder Zeitung zwei Pence Taxe an die Regierung abgeführt werden müssen. Und da der »Daily Courant« täglich erscheint, macht das eine ganz hübsche Summe aus.«
»Gut zu sprechen auf Eure Regierung scheint Ihr gerade nicht zu sein.«
»Ach, manchmal bringen die Herren im Ober- und Unterhaus ja ganz vernünftige Sachen zustande. Aber skeptisch gegen die Regierung muß ein Korrespondent immer sein.«
Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, bis sie durch das Eintreffen von Fernando, Ernesto und Ibn Kuteiba unterbrochen wurden.
Als diese sahen, daß Marina Gesellschaft hatte, wollten sie sich zurückziehen. Aber sie winkte sie heran und machte sie mit Stineway bekannt.
Stineway seinerseits wollte nun nicht aufdringlich erscheinen und bat Marina, sich verabschieden zu dürfen. Diese hatte nichts dagegen und reichte ihm die Hand. »Verzeiht, Mylady, wenn ich unhöflich bin; aber ich möchte mir dennoch die Freiheit nehmen zu fragen, wer mir die Ehre einer so interessanten Unterhaltung gegeben hat.«
»Marina, Gräfin de Andalusia ist mein Name. Ich würde mich freuen, wenn wir unsere Unterhaltung ein andermal fortsetzen könnten. Presseangelegenheiten interessieren mich brennend.«
»Ihr findet mich bis Mittag meistens im Hotel Cardiff.« Er ging.
»Nun, Ihr schaut so hoffnungsfroh drein! Habt Ihr etwas Neues entdeckt?«
»Ja«, sagte Ibn Kuteiba. »Wir haben heute in Erfahrung bringen können, in welcher Zelle sich unsere Freunde befinden.«
»Großartig!«
»Wir haben uns außerdem einen Plan zurechtgelegt, wie wir die Befreiung durchführen können.« »Und Ihr meint, daß er sich verwirklichen läßt?« Ibn Kuteiba nickte bedächtig.
»Man kann das natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen; aber wenn wir ein bißchen Glück haben, dann wird der Erfolg nicht auf sich warten lassen.«