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Regenschauer jagten in kurzen Abständen über die Stadt. Das Wetter war diesig, und nur wenige Menschen wagten sich auf die Straße. Als sich der Abend niedersenkte, zuckten Blitze über den Himmel. Gewitter ballten sich zusammen.
Der Posten vorm Eingangstor des Gefängnisses hatte sich fröstelnd in sein Schilderhaus zurückgezogen. Das schwere Eisentor war verschlossen.
Der Wächter des Innenhofes stampfte pflichteifrig trotz des strömenden Regens seine Runden. Vom Hoftor bis zur Gebäudetür war ein Abstand von etwa fünfzig Schritten. Am Gang hinter der Tür des Hauses befand sich linkerhand das Wachzimmer, in dem ein Pförtner in Sergeantenuniform Dienst tat. Die Posten draußen wurden alle vier Stunden durch Wachen abgelöst, die in der hundert Meter vom Gefängnis entfernten Kaserne wohnten. Der Pförtner vom Innendienst hatte mit dieser Ablösung nichts zu tun. Er unterstand dem Gefängnisdirektor unmittelbar.
Das Gewitter hatte aufgehört. Aber der Regen rauschte nach wie vor mit lautem Klatschen hernieder. Vorsichtig steckte der Posten im Schilderhaus seinen Kopf hinaus, um zu sehen, ob draußen noch alles in Ordnung war.Plötzlich entrang sich ein erstickter Aufschrei seinem Munde. Hilflos griffen seine Hände in die Luft. Sein verröchelndes Gurgeln wurde vom Regen übertönt.
»Ich habe ihn«, flüsterte Fernando, der Student. »Er hat etwa meine Größe.« »Gut, dann zieh ihn aus und binde ihn.«
Wenige Minuten später stand der Posten wieder in seinem Schilderhaus, als wäre nichts geschehen. Vor ihm allerdings lag ein halbnackter Mensch, der gefesselt und geknebelt war. Fernando klopfte an die Rückwand des Schilderhauses. Ibn Kuteiba kam herum und hielt dem Überfallenen ein Fläschchen mit einer scharfen Essenz unter die Nase. Es mochte Salmiak sein. Der beizende Geruch riß den Niedergeschlagenen aus seiner Betäubung. Als Fernando an seinen Augen sah, daß er vollkommen bei sich war, meinte er verhalten:
»Sieh hier den Dolch in meiner Hand. Ich nehme dir jetzt den Knebel ab, und du wirst rufen, was ich dir befehle. Ein einziger falscher Laut ist dein sicherer Tod.«
Er setzte seinem Gefangenen das Messer fühlbar auf den Rücken. Ibn Kuteiba zog ihm den Knebel heraus.
»Ruf deinen Kameraden und sag ihm, er soll herauskommen, weil hier etwas nicht geheuer zu sein scheint.« ,
Der Engländer schwieg. Aber das Messer ritzte ihm bereits leicht die Haut. Ein Blutstropfen rann seinen Rücken hinab und hinterließ eine warme Spur.
Fernando und Kuteiba packten ihn und hielten ihn mit dem Kopf in den Regen.
»Ruf nun«, zischte der Student, »und kein Wort zuviel.«
Der im Hof patrouillierende Soldat hörte seinen Namen. Er blieb stehen und lauschte. »Dick«, rief es wieder. »Ja, Bill, bist du's?«
»Ja, komm mal heraus. Hier scheint etwas nicht geheuer zu sein.«
»Augenblick, muß nur den rechten Schlüssel finden. So ein Hundewetter!«
Er öffnete die kleine Tür, die in das große Tor eingelassen war. Doch kaum schwang der Flügel zurück und er stand im Freien, da erhielt er einen Schlag auf den Kopf und fand sich ein paar
Minuten später, ebenfalls gefesselt und geknebelt, bei seinem Kameraden wieder.»So«, sagte Ibn Kuteiba und zog sich die nasse Uniform des zweiten Mannes glatt. »Nun kommt das schwerste Stück.«
Die beiden »Soldaten« schritten über den Hof zum Haus. Fernando öffnete mit einem Ruck die Tür und sprang aufgeregt in den Gefängnisgang. Der Sergeant vom Dienst fuhr aus seinem Dämmer hoch und brüllte den Eindringling an: »Was ist? Was willst du?«
»Kommt schnell heraus, Sergeant, draußen im Regen liegt mein Kamerad. Er scheint ohnmächtig geworden zu sein!«
»Schöne Soldaten, die bei etwas Regen gleich aus den Latschen kippen. Kannst du ihn nicht hereinbringen?«
»Allein kann ich ihn nicht tragen.« »All right, ich komme schon.«
Er kam tatsächlich und gesellte sich kurze Zeit später, ebenfalls halbnackt, zu den anderen beiden Bündeln im Schilderhaus. Er hatte allerdings den schlechtesten Platz bekommen, denn sein Kopf ragte aus der schmalen Unterkunft in den strömenden Regen.Ernesto trug bereits seine Uniform.
Einen Havelock um die Schultern und eine Kapuze über dem roten Haar, trat Marina hinter einem Mauervorsprung zu den dreien.
»Gute Arbeit«, lobte sie. »Nun aber schnell. Ich warte hier. Sollte sich draußen irgend etwas Unvorhergesehenes ereignen, werfe ich die Pulverbombe auf den Hof.«
Die drei Uniformierten gingen zuerst in die Pförtnerstube und suchten nach den Schlüsselbunden. Alle verfügbaren Schlüssel nahmen sie an sich. Sie wußten nur, hinter welchem Zellenfenster die Freunde saßen; aber das war, von innen her gesehen, ein schwacher Anhaltspunkt. Ernesto als Sergeant marschierte durch den Haupteingang vor den beiden her.
Fernando und Ibn Kuteiba folgten in militärischer Ordnung, wie es ein Wachkommando nicht besser hätte vorexerzieren können.
»Hier in der Nähe muß es sein«, sagte Fernando.
Sie gingen mit tappenden Schritten.
In den Zellen wurde es lebendig. Man hörte Schimpfen über die nächtliche Ruhestörung. »Sollte mich doch wundern«, flüsterte Ernesto zurück, »wenn Ojo nicht ebenfalls laut schimpfen würde. Wie ich ihn kenne —«
»Wir müssen noch lauter auftreten«, meinte Ibn Kuteiba. »Er hat einen sehr festen Schlaf.« Es war ein halber Paradeschritt, was sie da veranstalteten. Es hallte im Gang wider. Doch Ojos Baß war unter der johlenden Meute der wütenden Zellenbewohner nicht zu vernehmen. Sie blieben stehen.
»Es nützt nichts«, sagte Fernando. »Am schnellsten geht es, wenn wir rufen. Senor Baum wird schon antworten.«
In diesem Augenblick erschien im Hintergrund das verängstigte und erstaunte Gesicht eines Wärters.
Er beruhigte sich aber sofort, als er die schönen roten Umformen sah.
»He du«, sagte Ernesto, »mach die Zelle auf, in der der Gefangene Baum sitzt.«
Der Wärter kam eilig heran.
»Habt Ihr die Schlüssel mit, Sergeant?« fragte er.
Ernesto hielt ihm einen Schlüsselbund unter die Nase.
Der Wärter nahm ihn und suchte beim Schein der trüben Funzel, die Fernando in der Hand hielt. »Da ist der Schlüssel dreiundzwanzig nicht dran«, meinte der Wärter und blickte erstaunt auf; denn schließlich mußte der Sergeant ja die Zellennummer seiner Häftlinge kennen. Zu allem Unglück beleuchtete jetzt auch das Licht für einen Augenblick Ernestos Gesicht. »Wer — wer seid Ihr?« fragte der Wärter unsicher.
Er hatte die Frage kaum ausgesprochen, als sich Ibn Kuteibas Hände mit klammernden Griffen um seinen Hals legten.
»Zelle dreiundzwanzig — — los, los«, sagte Ernesto.
Fernando leuchtete die Türen ab. Die richtige lag nur ein paar Schritte entfernt.
Michel und Alfonso Jardin waren längst wach. Als Michel draußen seinen Namen nennen hörte,
wurde alles Abwehr in ihm. Was bedeutete das, daß man sie nachts abholte? Sollte das etwa eine geheime Exekution geben?
Da öffnete sich die Tür, und Ernesto sagte :
»Senor Silbador — — seid Ihr hier drin?«
Michels Blick fiel auf Ibn Kuteibas Gestalt.
»Por Dios, damit habe ich nicht gerechnet! Hoffentlich kriegen wir Ojo schnell genug wach.«Jardin war schon auf dem Gang.
Ojo grunzte unwillig. Langsam kam er zu sich.
»Que diablo«, fluchte er. »Was wollt ihr Hunde mitten in der Nacht von uns?« »Schnell, schnell, hombre«, sagte Ernesto. »Werde endlich wach! Wir haben keine Zeit zu verlieren! Die Senorita wartet draußen auf uns!«
Als Ojo merkte, was vor sich ging, stand er mit einem Satz auf den Füßen. j
»Ernesto, amigo, Gott sei Dank, daß ihr uns hier rausholt aus diesem verfluchten Loch!«
Diesmal marschierten sie nicht geordnet durch die Gänge. Fernando hatte den bewußtlosen Wärter in die leere Zelle befördert, die Tür zugeschlagen und abgeschlossen.
Im Laufen nestelte er den Schlüssel vom Bund los und steckte ihn in die Tasche.
Ohne Zwischenfall erreichten sie die Straße. Marina stand wartend neben dem Schilderhaus.
»Schnell, schnell, weg von hier. Der Lärm im Gefängnis war bis hier unten zu hören.«
Die drei Befreier entledigten sich rasch der Uniformen und warfen hastig die eigenen Kleider über.
Ihre Schritte verhallten in den nächtlichen Straßen.