Der Abend des Montags kam. Mutatulli hielt Hagemann scharf im Auge. Als der letzte Sklave seine Nüsse zur Kontrolle auf die Waage gestellt hatte, saß der Häuptling noch immer vor seinem Korb und handhabte den Leimpinsel.
Hagemann beschloß, es heute genauso zu machen wie schon so oft. Er gähnte laut. »Beeil dich, Kerl«, fuhr er den Eingeborenen an. »Ich bin müde. Ich will nach Hause.« »Ich kann nicht schneller«, murrte Mutatulli. »Ihr wißt, Mynheer, daß ich nicht so arbeiten kann wie die anderen. Bei uns machen das die Weiber.«
»Ja, ja, ich kenne diese Litanei. — Los, mach zu! Hier hast du keine Weiber, die die Arbeit für dich verrichten. Hier mußt du sie selber tun. Wenn das Abend für Abend so weitergeht, dann lasse ich deine Brotration kürzen.« »Ja, Mynheer«, sagte Mutatulli.
Bald war er fertig. Wie immer schaufelte er die Nüsse auf die Waage. Aber heute wartete er vergeblich auf das Abwinken Hagemanns. Der griff nach den Gewichten.
Eine Sekunde zögerte Mutatulli. Dann griff er in die Falten seines Hemdes und schüttelte unter lautem Husten ein Säckchen ungeleimte Nüsse dazu.
Hagemann tat, als habe er es nicht bemerkt.
»Stimmt«, sagte er. »Wirf die Nüsse auf den Rost.«
Er wandte sich einem kleinen Tischchen zu und machte Eintragungen in seine Bücher.
Der Häuptling beschäftigte sich mit der Schichtung der Nüsse. Immer wieder streifte sein Blick den Inspektor.
Nuß um Nuß las Mutatulli aus dem Haufen. Sein Säckchen füllte sich wieder. Ein paar konnte er nicht mehr finden. Aber fünfzehn Gulden würden auch diesmal herausspringen. Er war fertig und wandte sich zur Tür. »Warte mal«, sagte Hagemann freundlich.
Mutatulli bemerkte das gefährliche Glitzern in den Augen des Weißen. Am liebsten wäre er mit einem Sprung in die Nacht entwischt. Aber noch war es zu früh zur Flucht. Sein Einbaum war zwar schwimmfähig; aber die Ausleger waren noch nicht angebracht. Bei dem geringsten Sturm auf offener See würde er umschlagen. »Was wollt Ihr, Mynheer?« Hagemann trat näher heran.
»Ich möchte die ungeleimten Muskatnüsse haben, die du in deinem Hemd versteckt hast.« Die Farbe wich aus Mutatullis Gesicht. Mit einem Satz war er an der Tür. Er stieß sie auf und — — starrte in die Flintenläufe von zwei bewaffneten Aufsehern. Hagemann befahl:
»Nehmt den Kerl in die Mitte ! Wir gehen zu Mynheer van Groot.«
Die Aufseher, übrigens ebenfalls Eingeborene, packten Mutatulli und zerrten ihn ins Freie. Sie machten sich ein besonderes Vergnügen daraus, ihn hart anzufassen; denn sie konnten den Häuptling, der sie seit je verachtet hatte, nicht leiden. »Los«, sagte Hagemann, »folgt mir.«
Sie gingen durch die Baumreihen auf dem kürzesten Weg zum Haus des Pflanzers. Hagemann trat über die Veranda in den Flur und klopfte an die Tür des Wohnraums.
Katje van Groot öffnete. Ihr Blick fiel auf die drei Gestalten hinter ihm, deren Umrisse man gut erkennen konnte.
»Guten Abend, Juffrouw Katje«, sagte Hagemann verlegen. »Guten Abend, Mynheer Hagemann, wen bringt Ihr denn da?« »Ist Euer Vater zu Hause, Juffrouw Katje?
»Ja. — Aber habt Ihr so Wichtiges, daß wir ihn jetzt stören müssen? Er sitzt über den Büchern.« »Hm, nun, ich kann Euch sagen, weshalb wir Mutatulli abgeführt haben. Er hat ungeleimte Muskatnüsse gestohlen; aber ich habe ihn erwischt.« »Oh, das ist natürlich wichtig! Wartet einen Augenblick.«
Hagemann drehte seinen Hut zwischen den Fingern. Die Wächter grinsten.Katje kam mit ihrem Vater, Jan van Groot, aus einem Nebenzimmer in den Wohnraum. »Bringt den Kerl herein!« donnerte Jans Stimme.
Sie stießen Mutatulli unsanft über die Schwelle, bis ihm die Kante des schweren Bauerntisches Halt gebot.
Jan van Groot war ein großer dicker Mensch. Seine blauen Schweinsäuglein lagen tief in den Fettpolstern der Wangen. Er war sauber und mit einer gewissen Eleganz gekleidet. » ,n Abend, Hagemann. — So, Ihr habt den Diebstahl bemerkt?« »Ja, Mynheer van Groot.«
»Heraus mit den Nüssen!« schrie van Groot den Sklaven an.
Der warf einen Blick voller Haß auf den Rotgesichtigen und langte in die Falten seines Hemdes.
Mit herrischer Gebärde warf er den Sack auf den Tisch.
Aber ehe er sich's versah, hatte ihm der Pflanzer ins Gesicht geschlagen.
»Willst wohl noch den Beleidigten spielen, was? Na warte, mein Junge, die Flausen werden wir dir aus-treiben. — Wie seid Ihr auf den Diebstahl aufmerksam geworden, Hagemann?« Hans Hagemann berichtete eifrig von seinem Erlebnis an jenem Abend der vorigen Woche. »Und da habt Ihr bis heute gewartet?« wunderte sich der Pflanzer.
»Ich wußte noch nicht ganz genau, daß es sich wirklich um Nüsse handelte. Ich wollte nicht ungerecht sein. Außerdem hätte dann Aussage gegen Aussage gestanden.«
»Hä?« machte van Groot. »Aussage gegen Aussage? Verdammt will ich sein, wenn ich die Aussage eines dreckigen Malaien gegen die Eure gelten ließe! Ihr habt einen Gerechtigkeitsfimmel, Hagemann. Na, ich kenn' Euch ja. Jetzt ist wenigstens alles klar. Ihr habt den Beweis geliefert, daß der Kerl da Nüsse geklaut hat. Auf frischer Tat ertappt sozusagen. Das genügt.« Er wandte sich an Mutatulli. »Rede, du Hund, wie oft hast du schon einen solchen Beutel gestohlen?«
Mutatulli schwieg.
»Rede!« fuhr ihn van Groot an.
»Ich rede, wenn es mir beliebt. Ich war ein freier Mann und König meines Stammes. Ihr habt mich gefangen und einen Sklaven aus mir gemacht. Ihr seid mein Feind.«
Van Groot verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Doch dann brach er los :
»Was sagst du da? Ein König warst du? Du lächerlicher Hanswurst! Und reden willst du auch nicht, wenn ich dich frage? — Da — — da — — da — — du Lümmel! Nimm das einstweilen für deine Frechheit !«
Van Groot ohrfeigte ihn erbarmungslos.
»Vater!« fuhr Katje dazwischen. »Halt ein! Ich mag das nicht.«
Der Alte nickte. Zu Hagemann meinte er:
»Schafft ihn raus und laßt ihm das Fell gerben, bis es weiß wird. Verdammt, daß ausgerechnet von meiner Plantage ungeleimte Nüsse den Weg in die Welt finden. Verdammt — verdammt!« »Wieviel Schläge haltet Ihr für angebracht?« fragte Hagemann, dem nichts über genaue Anordnungen ging.
»Prügelt ihn, bis er sagt, wieviel Pfund er schon verschoben hat. Den Namen des Aufkäufers will ich wissen.«
»Ich berichtete Euch doch schon vorhin, daß Mutatulli ihn Hassan nannte«, meinte Hagemann.
»Hassan--Hassan — irgendein Deckname wahrscheinlich. Ich will wissen, wer sich dahinter verbirgt. -Nun geht.«
Die drei gingen. Schüchtern nickte Hagemann der Tochter seines Dienstherrn zu. — Als sie draußen waren, meinte van Groot:
»Ich habe noch keinen Inspektor gehabt, der fleißiger war als Hagemann; aber auch noch keinen, der mich gefragt hat, wieviel Prügel ein Sklave kriegen soll. Ein merkwürdiger Mensch, dieser Hans.«
»Ich finde, sein ganzes Auftreten zeugt von großer Pflichttreue. Er wirkt auf mich sehr zuverlässig.«
»Eben, eben, Kind, zuverlässig, pflichttreu, ehrlich - -wunderbare Eigenschaften. Wenn er nur ein kleines bißchen Initiative dabei entwickeln würde!«
»Es ist eben nie alles beieinander.«
Der Alte nickte und strich seiner Tochter über den Kopf.
»Gute Nacht, Katje. Ich will noch arbeiten.«
»Vater!?«
»Ja, Kind?«
»Sag einmal, weshalb hast du den Malaien eigentlich geohrfeigt?« »Hm — wie meinst du das?«
»Er hat gestohlen, sicher. Aber kann man von diesen Menschen eigentlich verlangen, daß sie ein Gefühl für Recht und Unrecht haben? Sagt er nicht, er sei ein König gewesen?«
»Was diese Kerle so unter König verstehen! Wahrscheinlich war er der Häuptling in irgendeinem Dschungeldorf auf Ceram oder Borneo oder in Siam. Was weiß ich.«
»Hm, und was, glaubst du, würde ihn dazu bewegen, seine Arbeit hier ehrlich und fleißig zu verrichten?«
»Die Knute der Aufseher«, lachte Jan van Groot.
Katje zögerte. Sie dachte offenbar über etwas Wichtiges nach. Dann meinte sie langsam: »Ich weiß nicht, Vater, irgend etwas ist dabei nicht in Ordnung. Natürlich, wir dürfen die Eingeborenen nicht auf eine Stufe mit uns stellen. Aber trotzdem, Gott sieht es gewiß nicht gern, daß sie von uns verprügelt werden.«
»Der Malaie Mutatulli ist ein Heide. Pfarrer Hoogh hat schon wiederholt versucht, ihn zu bekehren. — Gute Nacht, Katje.« »Gute Nacht, Vater.«
Katje trat hinaus auf die Veranda, um noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Plötzlich hörte sie vom Lagerhaus her Schreie. Sie unterschied deutlich Hagemanns Stimme :
»Hier entlang! Hier ist er vorbeigerannt!«
»Wo? - Wo?«
»Hier! - Hier!«
Die Schritte der bewaffneten Aufseher kamen näher.
Katje vernahm einen Aufschrei, gleich darauf das Geräusch eines dumpfen Schlages und dann ein Stöhnen.
»Was ist los?« schrie Hagemann.
»Er hat den anderen überfallen und ihm das Gewehr fortgenommen«, antwortete der eine der Aufseher. »Aber ich kann ihn nicht mehr sehen.«
Katje hörte ihren Vater aus seinem Zimmer kommen. Aber im selben Augenblick fühlte sie sich von zwei derben Fäusten gepackt. Sie wurde von der Veranda gezerrt. »Hilfe!« schrie sie, nachdem sie die Schrecksekunde überwunden hatte. »Hilfe, Vater — — Mynheer — —«
Eine Hand preßte sich auf ihren Mund. Eine Stimme zischte an ihrem Ohr:»Nicht schreien, Juffrouw, sonst ersteche ich Euch.« Mutatulli zerrte sie weiter, immer weiter, unter den Bäumen entlang, über die ganze Plantage, bis dorthin, wo seine Hütte lag. Sie verlor die Besinnung. Mutatulli nahm ein Bastseil und legte ihr lockere Fesseln an. Dann trug er sie in die Hütte. Hastig machte er sich in der Dunkelheit daran, seine Gulden auszugraben. Den Lederbeutel befestigte er mit einer Schärpe am Hemd. Dann warf er seine menschliche Beute mit einem kräftigen Ruck über die Schulter, ergriff das geraubte Gewehr und einen gefüllten Wassersack aus Ziegenleder und rannte zu jenem Gebüsch, wo sein halbfertiger Einbaum lag. Er ließ das Mädchen fahren und verstaute den Wassersack im Kanu.
Mit flinken Händen befestigte er die Auslegermatte an der rechten Seite. Als er auch links zu Werke gehen wollte, näherten sich Schritte.
Dann hörte er die Stimme Hagemanns : »Such, Karo, such--such, Karo, such!« Mutatulli zuckte zusammen. Der Hund, der Schäferhund des Herrn, der auf Sklaven dressiert war! Damit hatte er nicht gerechnet.
Ein trauriges Lächeln ging über sein Gesicht. Gerechnet? — Was hieß das schon? — Mit nichts hatte er gerechnet. Am wenigsten damit, daß dieser eifrige Inspektor sein Geheimnis entdeckt hatte. Und alles war fast fertig gewesen zur Flucht! Ein paar Tage noch, und Mutatulli hätte das Wagnis auch ohne die runde Summe von dreihundert Gulden in Angriff genommen. Nun, es mußte auch so gehen. Wasser war die Hauptsache. Nahrungsmittel? Mutatulli hatte Fasten gelernt. Bis zur Insel Ceram konnte er ohne Nahrung auskommen. Drei Tage mußten für die Strecke genügen. In Ceram konnte er Nahrungsmittel kaufen und dann von Insel zu Insel springen: von Ceram nach Soela, von Soela nach Celebes, von Celebes nach Borneo. Im Inneren von Borneo war er zu Hause. Die Götter würden helfen.
Der Hund schlug jetzt an. Er mußte die Spur haben. Da ertönte auch schon die Stimme Hagemanns:
»Langsam, Karo, schön an der Leine--langsam.«
Der Stimme nach mußten sie noch fast eine halbe Meile entfernt sein.
Mutatulli betrachtete sein Fahrzeug. Nein, er würde den Ausleger auf der linken Seite nicht mehr anbringen können. Aber dann war das zerbrechliche Fahrzeug bei der ersten Brise zum Kentern verurteilt. Und hier, in den Gewässern des Malaiischen Archipels, wimmelte es von Haien. Hier war der Ozean bis zu fünftausend Meter tief.
Mutatulli ergriff die noch immer bewußtlose Katje und trat mit seiner Last vor das Gebüsch. »Mynheer Hagemann!« rief er, »kommt keinen Schritt näher und haltet den Hund zurück. Versucht nicht zu schießen. Ihr würdet Juffrouw Katje treffen. Wenn Ihr mich stellt, ersteche ich sie vorher. Laßt mich gehen, und es geschieht der Tochter des Herrn nichts.« »Du verdammte Ratte!« schrie der wütende Hagemann. »Du entkommst mir nicht! Gleich habe ich dich.«
»Bleibt stehen. Sonst steche ich der Juffrouw das Messer ins Herz.« Hagemann, blind vor Eifer und Zorn, stapfte weiter.
Glücklicherweise war van Groot nicht weit. Er hatte Mutatullis Warnung mit Zähneknirschen, aber auch mit Entsetzen gehört.
»Zurück, Hagemann — — zurück, Karo!« schrie er angstvoll. Mann und Hund gehorchten.Mutatulli knebelte Katje vorsichtshalber, da sie gleich zu sich kommen mußte. Er durfte jetzt mit Sicherheit annehmen, daß man ihn vorläufig in Ruhe lassen würde. Mit Eifer befestigte er den zweiten Ausleger. Unter unsäglicher Mühe schob er den schweren Stamm bis an die an dieser Stelle fünf Meter hohe Steilküste. Ein Ruck. Den Bruchteil einer Sekunde stand das Boot zwischen Himmel und Erde. Dann klatschte es in richtiger Lage, wie der Malaie aufatmend feststellte, auf die Wasserfläche. Mit einem Hechtsprung folgte Mutatulli. Kurz darauf saß er im Boot und stellte fest, daß Wassersack, Gewehr und Paddel an Ort und Stelle waren. Eilig stieß er vom Ufer ab.
Er war noch nicht weiter als eine Länge entfernt, als ein dunkles Etwas durch die Lüfte schoß und fast auf ihm landete. Es war Karo, der Schäferhund.
Hagemann war trotz des Verbots van Groots mit dem Hund Zentimeter für Zentimeter weitergeschlichen. Als Karo das Geräusch vernahm, das der Baumstamm auf dem Boden verursachte, blieb er witternd stehen. Als dann das Klatschen des herabfallenden Bootes erklang, gab es kein Halten mehr. Mit Plötzlichkeit riß er sich los und stürmte davon. Hagemann wollte ihm folgen und stieß dabei auf die gefesselte Katje, der von diesem Augenblick an seine ganze Aufmerksamkeit galt.
Karo bemerkte den Flüchtenden, als dieser gerade ins Boot kletterte, und sah, wie er abstieß. Er setzte nach und saß nun lauernd dem Häuptling gegenüber.
Mutatulli hatte das Messer gezogen und erwartete jeden Augenblick einen Angriff. Aber die Angst trieb ihn, zum Ruder zu greifen. Er mußte Abstand von der Küste gewinnen.
Der Hund saß wie ein Standbild auf dem Heck. Mutatulli wußte sich nicht anders zu helfen, als das Messer nach ihm zu werfen. Aber er verfehlte seinen vierbeinigen Gegner. Da wandte sich Karo, machte einen Satz und war im aufspritzenden Wasser verschwunden.
Wie wild ruderte Mutatulli nun auf die offene See hinaus. Aber wer beschreibt sein Erstaunen, als weiter draußen der Hund wieder neben dem Boot auftauchte !
Der Malaie schlug mit dem Paddel nach ihm. Karo blieb ein wenig zurück, suchte dann mit den Vorderpfoten das Heck zu fassen und zog sich hinauf. Stumm saß er wieder wie eine Statue. Mutatulli glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Karo hielt im Maul das Messer. Er hatte es apportiert.