Karo, der Schäferhund, erwachte aus bleiernem Schlaf. Schnüffelnd fuhr seine Nase über das braune, hagere Gesicht seines Bettgefährten. Mutatullis Arme umklammerten noch immer den Körper des Hundes. Ganz behutsam löste sich Karo aus ihnen und sprang dann aus der Koje. Mehrmals ging er mit langsamen, abgemessenen Schritten prüfend um den noch immer schlafenden Mutatulli herum. Dann blieb er am Kopfende stehen und leckte das Gesicht des Mannes und rieb seinen Kopf an den Schultern des Schlafenden.
Wie aus weiter Ferne drangen die ersten Geräusche an das Ohr des Häuptlings. Fünf Minuten brauchte er, bis er in diese Welt zurückgefunden hatte. Als er den Kopf zu wenden versuchte, schmerzten ihn alle Glieder. Er bemerkte die fremde Umgebung. Sein Blick blieb auf dem Hund haften. Langsam wurden ihm die Zusammenhänge klar. Er versuchte sich aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Er war noch zu schwach.
Karo bemerkte dieses vergebliche Bemühen. Er hielt den Kopf schief und beobachtete jede Bewegung des Mannes. Er war ein ausgezeichnet abgerichteter Hund. Fast schien er die Eigenschaften eines Bernhardiners, eines Jagdhundes und eines Sklavenhundes auf seltsame Weise in sich zu vereinigen.
Er setzte sich zu Füßen Mutatullis nieder, hob den Kopf und sang in jaulenden Tönen. Einer der ehemaligen Piraten ging in diesem Augenblick gerade draußen vorbei. Er blieb erschrocken stehen und bekreuzigte sich. Man hatte das seltsame Paar auf dem Schiff schon fast vergessen. Der Seemann gab Fersengeld und rannte angstschlotternd zum Oberdeck. Dort traf er auf Marina.
»Was ist mit dir los, Manuel?«
»Unter Deck--bei den Kojen--der Klabautermann«, sagte er mit angstvoll aufgerissenen Augen.
»Du bist selbst ein halber Klabautermann«, lachte ihn Marina aus. »Komm mit, wir werden nachsehen.«
Als sie in der Nähe der Krankenkoje waren, setzte das Jaulen wieder ein.
Marina ging mit raschen Schritten dem Geräusch nach und öffnete die Tür.
»Da hast du deinen Klabautermann, Manuel. Hundert Menschen hast du mindestens umgebracht.
Und nun fürchtest du dich gar vor einem Hund! Was meinst du, wie die anderen lachen werden, wenn ich das weitererzähle !«
»Oh, Senorita, tut das nicht! Bitte nicht«, flehte Manuel. »Ich bin ein großer Esel.«
Marina ließ die Antwort offen und wandte sich dem Krankenlager zu.
»Wie geht es?« fragte sie Mutatulli.
Der sagte etwas, was sie nicht verstand.
»Sprecht Ihr Englisch?«
Der Kranke nickte.
»Habt Ihr schon versucht, Euch aufzurichten?«
»Es geht nicht«, wisperte Mutatulli schwach. »Mein ganzer Körper schmerzt.«
»Well«, meinte Marina, »dann wird es am besten sein, Ihr bleibt liegen, bis Euch der Arzt behandelt hat. Möchtet Ihr etwas essen?«
Durch ein schwaches Kopfnicken bejahte Mutatulli diese Frage.
Es währte nicht lange, dann brachte der Koch eine leichte Speise für den Mann und mehrere große Knochen, an denen noch prächtige Fleischfetzen hingen, für Karo.
Der Hund stürzte sich heißhungrig auf sein Mahl, während Mutatulli mit Unterstützung des Kochs nur in ganz kleinen Bissen schlucken konnte. —
Zu dieser Stunde kamen der Pfeifer, Ojo und Tscham an Bord zurück.
Manuel stand an der Strickleiter und meinte:
»Die Senorita Capitan möchte Euch sofort sprechen, Don Silbador.« Michel ging zur Kajüte Marinas, klopfte und trat ein.
»Gut, daß Ihr da seid, Miguel«, sagte Marina, die sich nunmehr wieder gefaßt hatte. »Was gibt es so Wichtiges?«
»Der Schiffbrüchige und sein Hund sind erwacht. Dem Hund geht es ausgezeichnet. Aber der Mann fühlt sich wie gelähmt. Ich wollte Euch bitten, nach ihm zu sehen.« »Gern. Meine Verhandlungen in der Stadt haben bisher übrigens zu keinem Ergebnis geführt. Aber ich nehme an, daß uns irgend jemand schon noch ein vernünftiges Angebot machen wird. Ich habe den Eindruck, daß die Pflanzer, mit denen ich im Hotel »Den Haag« zusammengetroffen bin, auf möglichst rasche Art möglichst viel Geld verdienen wollen. — Geht Ihr mit zu dem Schiffbrüchigen?« »Hm.«
Sie verließen die Kapitänskajüte und gingen zur Krankenkoje.
Mutatulli war jetzt hellwach. Seine Augen gingen lebhaft hin und her; aber immer noch vermochte er seine Glieder nicht ohne Schmerzen zu bewegen. Michel untersuchte ihn gründlich.
»Was Euch fehlt, ist Wärme, sehr viel Wanne. Ihr müßt in ein türkisches Bad. Aber damit können wir Euch leider nicht dienen. Dennoch werde ich Euch Wärme verschaffen. Ich werde Euch mit einer Spirituslösung einreiben und in dicke Flauschdecken hüllen. Ihr sollt sehen, in ein bis zwei Tagen seid Ihr wieder gesund.« »Ihr seid keine Holländer?« fragte Mutatulli. »Nein. Warum?«
»Nur so. — Sagt, das Schiff liegt doch vor Anker?« »Ja. Wir liegen vor Banda.«
Mutatullis Augen weiteten sich schreckhaft. Mit plötzlichem Ruck richtete er sich auf.
»Vor Banda«, stammelte er entsetzt. »Vor Banda?«
»Ja«, bestätigte Michel verwundert. »Was ist mit Banda?«
Mutatullis Blicke gingen hastig zwischen Michel und Marina hin und her.
»Ihr seid auch keine Freunde der Holländer?« fragte er.
»Noch nicht«, meinte Michel. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Wir wollen Handel treiben.«
»Muskatnüsse kaufen?« »Ja.«
»Werdet Ihr mich den Holländern ausliefern?«
»Ausliefern? Wir liefern niemanden aus. Weshalb meint Ihr, daß die Holländer Eure Auslieferung verlangen würden?«
»Ich--ich--war Sklave auf Banda. Ich bin geflohen. Und dann hat mich der Sturm überrascht.«
Michel und Marina blickten einander an.
»Ihr wart Sklave?« fragte Michel. »Ihr sprecht Englisch wie ein Gebildeter. Ich kann kaum glauben, was Ihr sagt.«
»Ich war Häuptling eines großen Volkes im Dschungel. In Indien bin ich auf einer britischen Militärschule gewesen. Dann — — ja — — dann kamen die Holländer, als ich wieder bei meinem Volk war, und fingen mich und viele andere Angehörige des Stammes. Sie verfrachteten uns in den finsteren Bäuchen ihrer großen Schiffe und brachten uns nach Banda, wo wir für sie arbeiten müssen. Manche Sklaven wohnen schon in der dritten Generation dort. Sie haben sich daran gewöhnt. Ich--ich konnte es nicht und floh.«
Mutatulli sank erschöpft zurück auf das Kissen.
Michel und Marina schwiegen. Sie mochten sich fragen, was überhaupt der Sinn solchen Daseins sei. In Deutschland verkauften habgierige Fürsten ihre Untertanen als Soldaten an fremde Mächte, in Spanien war noch heute das Wüten der Inquisition zu spüren. In Indien nahmen die Engländer den Bewohnern das Land weg, und hier fingen oder kauften die Holländer Sklaven. Und alle behaupteten von sich, sie seien Kulturnationen: die Spanier, die Deutschen, die Engländer, die Holländer. Oder war Kultur nur etwas für diejenigen, die sie sidi kaufen konnten? Für die wenigen, die sicherlich niemals in die Verlegenheit kommen würden, selbst Untertanen, Sklaven, Unterjochte oder Verkaufte zu sein?
Michel drängte die Gedanken zurück. Das Philosophieren half nichts. Hier waren Tatsachen, an sie mußte man sich halten.
»Wie seid Ihr geflohen?« fragte Michel.
Mutatulli schloß die Augen.
»Laßt ihn«, sagte Marina. »Er ist noch zu schwach, wir können ihn später nach den Einzelheiten fragen.«
Michel sah nachdenklich drein. Später? Hatte er später nicht vielleicht anderes zu tun? Und hing sein Handeln nicht vielleicht von dem ab, was Mutatulli berichtete? Er blickte auf den Malaien.
»Ihr seid nicht zu schwach, daß Ihr meine Fragen nicht beantworten könntet, nicht wahr?« Der Sklave, der die Augen noch immer geschlossen hielt, nickte. Dann flüsterten seine Lippen: »Ihr braucht nicht zu fragen. Ich werde Euch alles erzählen. Ich — — ich — — stahl ungeleimte Muskatnüsse und verkaufte sie an einen arabischen Händler. Auf diese Weise sparte ich mir ein paar Gulden zusammen, um Geld für die beschwerliche Reise zu haben. Sie haben mich dabei erwischt, beim Stehlen.--Sie fingen mich; aber ich konnte entkommen, schob meinen ausgehöhlten Baumstamm ins Wasser und floh überstürzt.--Dann kam der Sturm--und dann weiß ich nichts mehr.«
»Ist es hierzulande ein Verbrechen, ein paar Muskatnüsse zu stehlen?«
»Es kommt darauf an, was für Nüsse es sind. Ihr kennt nicht die Bedeutung der ungeleimten Nuß?«
»Nein, was hat es damit auf sich?«
»Die Ausfuhr dieser Nüsse ist streng verboten; denn der Keim ist nicht abgetötet, und so können sie in anderen Gegenden neue Frucht tragen. Das aber wäre das Ende des Reichtums der Muskatnußpflanzer.«
»Aha, so haben die Pflanzer sozusagen ein Monopol?« »Das Monopol gehört der Kompanie.« »Der Niederländischen Ostindien-Kompanie?« »Ja.«
»Und was sagen die anderen Länder dazu?«
»Sie werden sich damit abgefunden haben; sonst müßten sie einen Krieg wegen der Muskatnüsse anfangen. Ich glaube nicht, daß sich ein solcher lohnen würde.«
»Hm--danke Euch für Eure Offenheit. Es wird besser sein, niemand weiß, wer Ihr seid und weshalb Ihr hier seid. Ihr könnt bei uns bleiben. Sollten wir indie Nähe Eurer Heimat kommen, so setzen wir Euch an Land.«
Marina und Michel gingen.
Mutatulli fiel erneut in einen tiefen Schlaf.