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Michel blieb den ganzen Tag über nachdenklich. Das Angebot Hassans ging ihm durch den
Kopf. Es hatte viel Verlockendes für sich, brachte es doch tatsächlich — wie Ibn Kuteiba gesagt hatte — ein Ziel in die Ratlosigkeit.
Michel ging zu Senor Virgen.
»Habt Ihr gute Karten von Amerika?«
»Si, Senor. Welchen Teil wollt Ihr sehen?«
»Den, wo die Klimabedingungen etwa die gleichen sind wie hier auf Banda.«
Virgen dachte eine Weile nach. Dann zog er eine Karte von Südamerika hervor und deutete auf die große portugiesische Kolonie Brasilien.
»Hier, Senor Baum, hier kommen die berühmten Paranüsse her. Weshalb sollten da nicht auch Muskatnüsse wachsen?« Michel lachte.
»Ah, Ihr wißt schon, weshalb ich mich nach den Karten erkundigte. Es ist mir gar nicht lieb, daß sich der Inhalt der Verhandlung, die ich mit Hassan geführt habe, schon auf dem ganzen Schiff herumgesprochen hat.« Virgen war ein wenig beleidigt.
»Ich bitte Euch, Senor Baum, ich bin doch nicht das ganze Schiff. Mir erzählte Ibn Kuteiba im Vorbeigehen davon.« Der Pfeifer nickte.
»Nichts für ungut, Senor Virgen. Ich wollte Euch nicht beleidigen. Was haltet Ihr von der Angelegenheit?«
»Hm. — Wenn ich bedenke, daß man erst in fünfzehn Jahren mit einer Ernte rechnen kann, so kann ich Ibn Kuteibas Begeisterung nur halb teilen. Was tun wir bis dahin?« »Das ist eine Überlegung, die ich auch schon angestellt habe. Aber offen gestanden, vorläufig noch ohne Ergebnis.«
»Hinzu kommt noch, daß es in Brasilien ewig unruhig ist. Man weiß nie, ob man nach fünfzehn Jahren noch Besitzer seiner Plantage ist. Die Freiheit wird dort auchnicht gerade groß geschrieben. Die Sklaverei blüht. Das muß man alles bedenken.«
»Ja, das ist wahr. — Nun, zerbrecht Euch jetzt nicht unnötig den Kopf darüber. Wir werden sehen.«
Der Pfeifer ging in seine Kabine. Wieder wirbelten die Gedanken durch sein Hirn. Er bedachte vor allem die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Frage war, ob überhaupt jemand der alten Fahrensleute Lust hatte, das Leben auf See gegen das auf einer Plantage zu tauschen. Und selbst wenn sich einige dazu bereit finden sollten, wie konnte man, ohne selber Sklaven zu halten, gegen die billige Sklavenarbeit der übrigen aufkommen?
Michel schüttelte die Gedanken ab, vorläufig wenigstens. Er wollte doch lieber den Sperling in der Hand behalten, als der Taube auf dem Dach nachjagen.
Es war schon später Nachmittag, als er sich umkleidete. Er wollte heute schon der Einladung Jan van Groots folgen.
So ließ er sich denn an Land rudern, mietete einen Wagen und fuhr hinaus zum Landsitz des Pflanzers.
Als er in der Nähe des Herrenhauses halten ließ, klang ihm zur Begrüßung ein Geräusch entgegen, wie es Knüppel verursachen, die auf menschliche Köpfe oder Körper niedersausen. Dazwischen hörte man das Wehgeheul der Geschlagenen.
Michel lief dem Lärm nach und gelangte ins Lagerhaus. Dort riß er die Tür auf und sah sich einer widerwärtigen Szene gegenüber.
Ein Weißer hatte einen Knüppel in der Hand und schlug unbarmherzig auf zwei braune Arbeiter ein. Zwei farbige Posten standen an der Tür und grinsten. Sie hinderten den Pfeifer nicht am Eintreten, weil dieser ein Weißer war. Aus dem Mund des Schlagenden klangen die Worte:
»Ihr verdammten Halunken, macht das Stehlen jetzt solche Fortschritte, daß es schon zum guten Ton gehört? Wartet, ihr Hundsfötter, ich will es euch austreiben.«
Einige der Schimpfworte waren in deutscher Sprache erklungen. Michel nahm an, daß der Schläger Deutsch verstehen würde, und rief:
»Eine wenig hübsche Beschäftigung, die Sie sich da ausgesucht haben. Gibt es keine anderen Mittel, Schuldige zu bestrafen?«
Der Schlagende hielt inne. Verblüfft starrte er den ungebetenen Gast an. Etwas wie Verlegenheit stand in seinem Gesicht. Er machte an und für sich gar keinen verrohten Eindruck. Er schien sogar aufzuatmen, als ihm die Unterbrechung gestattete, den Knüppel sinken zu lassen. »Guten Abend«, sagte er höflich auf deutsch, »womit kann ich Ihnen dienen?« »Baum ist mein Name«, stellte sich Michel vor, »ich wollte an sich zu Herrn van Groot, scheine mich aber in der Plantage geirrt zu haben.«
»Hagemann«, verbeugte sich der Schläger leicht. Er war erfreut, einem Landsmann zu begegnen. »Sie sind an der richtigen Stelle, Herr Baum. Dies hier ist das Lagerhaus van Groots. Und ich bin der Inspektor.«
»Ah, ich hörte bereits, daß es hier einen Landsmann von mir geben soll. Ich hatte mir allerdings die Begrüßung in einer angenehmeren Atmosphäre vorgestellt.« Hans Hagemann war offensichtlich verlegen.
»Sie--Sie--müssen entschuldigen, Herr Baum. Es ist--es war--es ist an sich nicht meine Gewohnheit, Sklaven zu verprügeln. Nur hat in der letzten Zeit der Diebstahl ungeleimter Nüsse überhand genommen.Das ist ein schlimmes Verbrechen; denn auf den Muskatnüssen liegt das Monopol der Handelskompanie.«
Hagemann wurde jetzt eifrig. Er wollte vor seinem Landsmann, dessen Bedeutung er aus dem, was man sich in der Stadt erzählte, erfahren hatte, nicht als Sklavenschinder dastehen. »Ich habe Mynheer van Groot wiederholt um genaue Anweisungen zur Verhinderung des Diebstahls gebeten. Er gab mir den Rat, diejenigen, die ich erwische, ordentlich zu verprügeln. Was sollte ich da tun?«
Michel verbarg seine Belustigung. Dieser Inspektor da vor ihm tat etwas, was ihm, wie man sehen konnte, in innerster Seele zuwider war. Und er tat es nur, weil ihm sein Brotherr den Rat dazu gegeben hatte. Er befolgte einen Rat wie einen Befehl. Wenn van Groot ihm geraten hätte, die Diebe zu hängen, so würde er es ebenfalls — mit zusammengebissenen Zähnen natürlich — getan haben. Auf seiner Plantage regierte van Groot. Und Hagemann war der getreue Untertan des Regenten. Der Pfeifer seufzte.
»Würden Sie mich, bitte, zu Mynheer van Groot begleiten? Ich fürchte, ich finde den Weg nicht.«
Hagemann sagte im ersten Augenblick: »Mit großem Vergnügen«, zuckte dann aber wieder leicht zurück und meinte, »das heißt — — ich würde gern; aber es geht doch nicht. Ich muß die Leute hier weiter beaufsichtigen. Wenn Sie eine Weile warten wollen--?«
»Können Sie mir den Weg nicht zeigen?«
Hagemann überlegte. Dazu mußte er vor das Lagerhaus treten, was gegen die Vorschriften gewesen wäre.
»Ich werde einen Posten beauftragen, Sie zu Mynheer van Groots Haus zu führen.«
Er sagte etwas zu einem der grinsenden farbigen Wächter. Der Mann nickte und öffnete die Tür.
Mit einem kurzen Gruß für Hagemann folgte ihm Michel.
Sie schritten an Stallungen vorbei. Dann deutete der Posten auf ein rosarotes, flaches, sehr sauberes Haus.
Michel stand kurz darauf vor der Tür und setzte den Klopfer in Bewegung. Ein malaiischer Diener öffnete und fragte etwas.
Michel verstand ihn nicht, deutete auf sich und sagte:
»Mynheer van Groot.«
»Ah«, machte der Diener, worauf Michel befriedigt nickte.
Kurz darauf saß er im Empfangszimmer, und wenige Minuten später trat der Pflanzer ein. »Guten Abend«, sagte er breit. »Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie meiner Einladung so schnell Folge leisten würden. Seien Sie willkommen.« Sie reichten einander die Hand, und Michel meinte :
»Ich wollte eigentlich nur wissen, wann die Verladearbeiten beginnen würden. Heute morgen dachte ich, die Verladung wäre die unmittelbare Folge des Verkaufs.«
»Nee«, lachte van Groot. »So schnell schießen zwar die Preußen. Aber wir nicht. Alles braucht seine Zeit. Ich habe doch die vierzig Tonnen noch gar nicht beisammen. Sie müssen sich schon ein, zwei Wochen gedulden, bis die verdammten Gelben und Braunen die Pflückarbeiten beendet haben.«
Michel blickte ihn erstaunt an.
»Aber ich bitte Sie! Sie können doch Ihre Ware nicht verkaufen, bevor Sie darüber verfügen können!«
»Das ist hier so üblich. Die Schiffe warten eben. In fünf, sechs Tagen wimmelt hier ganz Banda von Schiffen. Die Ernte hat nämlich gerade erst begonnen. Aber das konnten Sie natürlich nicht wissen.«
»Was tue ich während der Zeit?«
»Ausruhen«, lachte van Groot. »Auf die Bärenhaut legen. Das ist doch eine der angenehmsten Beschäftigungen, die es gibt. — Aber kommen Sie doch hinüber ins Wohnzimmer. Ich habe nämlich noch zwei Herren da, die sicher begierig sein werden, den Kommodore der ersten preußischen Handelsflotte kennenzulernen.«
Michel gelüstete es gar nicht nach solcher Bekanntschaft. Er sorgte sich, daß man ihn durchschauen könnte. Aber jetzt und hier war es nicht mehr gut möglich, die Aufforderung abzulehnen. So folgte er dem Pflanzer in das angrenzende Zimmer.
Die beiden Herren erhoben sich.
Es waren Laarsen und Hendrick.
Van Groot machte sie miteinander bekannt.
»Setzen wir uns, meine Herren, ich werde Katje sagen, daß sie uns zu essen und zu trinken bringen soll.«
Er griff zur Tischglocke. Auf ihren Klang hin erschien ein uraltes, zahnloses Malaienweib.
»Hol Katje«, meinte van Groot. »Die Herren möchten sie kennenlernen.«
Michel und die beiden Kapitäne musterten einander geraume Zeit.
»Sie sind mit drei Schiffen hier?« fragte Laarsen.
Michel bestätigte dies.
»Sie verzeihen die Indiskretion«, schaltete sich Hendrick ein, »wir konnten Ihre Schiffe draußen liegen sehen. Sie sind von eigenartigem und vor allem ganz verschiedenem Bau.« »Sie wissen wohl, daß Preußen keine eigenen Reedereien hat. Der König kaufte die Schiffe von drei verschiedenen Ländern.«
»Ach so«, nickten die Kapitäne. Sie wußten keineswegs, daß Preußen keine Reedereien hatte. Aber ihr gesunder Menschenverstand sagte ihnen, daß ein König mit ebenso gesundem Menschenverstand seine Schiffe von Reedern in Hamburg oder Lübeck gekauft hätte. Nun, es ging sie ja nichts an. Van Groot mischte sich ins Gespräch.
»Ja, die Herren Hendrick und Laarsen, Kapitäne der Reederei meines Bruders, haben großes Pech gehabt. Statt mit vier Schiffen sind sie nur mit zweien angekommen.«
»Sie haben die anderen beiden im Sturm verloren?« fragte Michel bedauernd.
»Man kann auch Sturm dazu sagen«, antwortete Laarsen grimmig. »Es war ein Sturm, den der Pirat Dieuxdonne entfesselt hat, mit seinen Kanonen nämlich. Der Teufel soll ihn holen, den Gottgegebenen!«
»Dieuxdonne? Ist er ein berühmter Pirat? Ich habe noch nie von seinem Dasein gehört«, meinte Michel.
»Dann seien Sie froh und danken Sie Gott«, entgeg-nefe Laarsen. »Der Schuft war frech genug, vier Schiffe anzugreifen und zwei davon zu versenken. Ich glaube, unsere Kugeln haben noch nicht einmal einen Riß in seine Planken gerissen.«
Michels Interesse erwachte. Sollte ihm der Zufall wieder einmal dazu verhelfen, mit seinen Leuten auf Piratenjagd zu gehen?
»In welchen Breiten treibt sich Dieuxdonne herum?«
»Wenn wir das wüßten, hätten wir ihm längst die Flotte auf den Hals gehetzt. Uns griff er nicht weit von hier an, zwischen Java und den Weihnachts-inseln.« »Er muß doch zu kriegen sein«, sagte Michel.
»Versuchen Sie es einmal. Das schlimmste ist, daß er vielleicht morgen schon Schiffe unserer Reederei im Atlantik versenkt.«
»Das ist nicht gut möglich. Er braucht immerhin einige Wochen, bis er in den Atlantik kommt.« »Pah, das wissen wir besser. Er fährt doppelt und dreifach so schnell wie ein normales Schiff. Vor einem Jahr hat er einen Frachter Benjamin van Groots am zehnten Januar bei Madagaskar zu Neptun geschickt und bereits vierzehn Tage später zwei weitere Frachter im Englischen Kanal.«
»Unmöglich!--Das heißt, unmöglich, wenn es nur einer ist.«
Die beiden Kapitäne und van Groot starrten ihn an.
»Sie meinen«, stotterte Laarsen, »daß Dieuxdonne zwei Schiffe hat?«
»Wenn Ihre Daten stimmen, dann kann man das mit Gewißheit annehmen. Auch das modernste Schiff kann nicht in vierzehn Tagen von Madagaskar in den Kanal segeln.« »Donnerwetter«, meinte der Pflanzer. »Ihr seid mir vielleicht schöne Seeleute! Was Herr Baum sagt, leuchtet sogar mir ein. Bruder Benjamin scheint ja da eine ganze Menge Freunde zu haben.« Er dachte nach. Plötzlich blickte er auf. »Teufel, ich habe eine großartige Idee. Sie fragten mich doch vorhin, Herr Baum, wie Sie sich bis zur Lieferung der Muskatnüsse die Zeit vertreiben könnten. Ich weiß es jetzt. Segeln Sie ein bißchen kreuz und quer im Indischen Ozean herum und suchen Sie Dieuxdonne. Sie wird er nicht angreifen. Sie sind neutral. Aber vielleicht können Sie Verbindung mit ihm aufnehmen, vielleicht können Sie uns einige Tips bringen, wie man dem Burschen zu Leibe gehen kann. Ich hebe Ihnen die Nüsse gern auf, wenn Sie sich etwas verspäten. Und sollte das klappen, mein Bruder wird sich sicher erkenntlich zeigen.« Der Pfeifer war zwar innerlich Feuer und Flamme, ließ sich aber nichts anmerken. Trocken erwiderte er:
»Sie scheinen die Zuständigkeiten eines preußischen Kommodore zu überschätzen, Herr van Groot. Ich muß mich an meine Orders halten. Ich habe keine Befugnis für solche Abstecher.« »Wie mein Inspektor«, sagte van Groot kopfschüttelnd. »Orders, Befugnisse, Kompetenzen. Initiative gibt's bei Ihnen in Deutschland wohl gar nicht, wie?«
»Seien Sie unbesorgt. Für die Zwecke unserer Flotte reicht meine Initiative völlig aus.« »Schade«, sagte van Groot, »ich wäre mit meinem Muskatnußpreis vielleicht auf neunundachtzig Cent heruntergegangen.« »Achtundachtzig«, sagte Michel. »Ist das Ihr Ernst?«
»Mein voller Ernst. Für eine Preissenkung zugunsten der Staatskasse darf ich Ihnen einen Gefallen tun.«
»Top«, sagte der Pflanzer.
»Top«, schlug Michel ein.
Die Tür öffnete sich, und Katje trat ins Zimmer. Michel wurde ihr vorgestellt, und nicht ohne einen gewissen Spott in der Stimme setzte Laarsen des Vaters Worte fort: »Der Herr Kommodore hat sich soeben entschlossen, Monsieur Dieuxdonne zu fangen.« »Nicht zu fangen«, sagte Michel, »nur Informationen über ihn zu sammeln. Das Fangen ist dann Ihre Sache.«
»Viel Glück dazu«, freute sich Katje.