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Es war Abend geworden. Zahlreiche Gäste saßen im Restaurant des »Adlon«. Es gab mehrere Speisesalons, davon den sogenannten blauen, der stets für die Elite der Kundschaft reserviert war.
Hier saßen um eine reichgedeckte Tafel van Groot, Frans Termeulen, Leon de Musset und der Pfeifer.
Das Thema war, wie nicht anders zu erwarten, Dieuxdonne.
Leon hatte sich bereit erklärt, sich noch einmal an der Jagd auf den Flibustier zu beteiligen. Und obwohl er die Preußen nicht gerade liebte, unterstellte er sich dennoch widerspruchslos dem Kommando Michels.
Man wollte noch zwei Tage im Hafen bleiben, um dann, gestärkt und mit frischen Kräften, wie ein Blitz aus heiterem Himmel über den Räuber zu kommen. Der Pfeifer entwarf Einzelheiten des Plans.
Niemand achtete währenddessen auf eine sehr vornehm gekleidete und sehr zurückhaltende junge Dame, die zwei Tische entfernt saß.
Die vier Männer sprachen leise. Ein ungeschultes Ohr hätte in der Entfernung, in der das Mädchen saß, nichts vernommen als ein einziges Raunen.
Ellen-Rose aber lauschte nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen. Sie hatte die Fähigkeit, den meisten Menschen wie eine Schwerhörige die Worte von den Lippen abzulesen. Auf diese Weise erfuhr sie alle wichtigen Einzelheiten. Und obwohl es für sie eigentlich hätte schreckniserregend sein müssen, war sie vollkommen ruhig und hielt auch nicht das Lächeln zurück, das von Zeit zu Zeit ihre Lippen umspielte. Ihre Blicke hafteten, unmerklich für den Beobachteten, auf Leon, und daher kam ihr Lächeln.
Sieh an, dachte sie, er schickt mich auf Kundschaft, nur um mich zu beschäftigen und ohne jeden Sinn! Dennoch werde ich ihm genug erzählen, worüber sich die Herren dort unterhalten. Ich werde meine Fähigkeiten unter Beweis stellen.Ein Kellner kam und brachte eine Flasche Wein. Sie wartete nicht, sondern zahlte gleich. Aber so, daß es niemand von den Gästen bemerkte. Sie blieb noch eine Weile sitzen und erhob sich dann, um den blauen Salon zu verlassen. Sie ging in die Halle des Hotels und ließ sich dort in einem der tiefen, weichen Sessel nieder. Es währte nicht lange, dann kamen auch die vier Herren, die ihr Gespräch beendet zu haben schienen. Gerade wollten sie sich voneinander verabschieden, als zwei Männer in der Uniform der Reederei eintraten. Es waren de Witt und sein Erster. Noch einmal nahmen alle gemeinsam Platz.
Ellen-Rose jedoch interessierte sich nun nicht mehr für ihre Gespräche; denn schließlich war er ja dabei. Die Probe ihres Könnens würde sie abgeben, und das sollte genügen.
Eine Viertelstunde später stand Leon auf und verabschiedete sich.
Ellen-Rose glaubte auch ihre Zeit gekommen und folgte Monsieur de Musset unauffällig.
Draußen ging sie eine Weile hinter ihm her. Weit und breit machte sich kein Mensch bemerkbar.
»Monsieur Dieuxdonne«, rief sie halblaut.
Der vor ihr Gehende verhielt den Schritt mit einer Plötzlichkeit, als habe er diesen Anruf nicht erwartet. Er wandte sich langsam zu ihr um. Überraschung stand in seinem vom hellen Mond beschienenen Gesicht.
»Madame?--Meinen Sie mich?«
»Wen sonst?« fragte sie dagegen. »Ich halte es nicht sehr fair von Euch, mich auf Spionage zu schicken, wenn Ihr selbst dabei seid und so tut, als wolltet Ihr mit Euerm Gegner paktieren. Ich habe alles gehört.« Leon war starr vor Überraschung.
»Ick sollt Sie 'aben geschickt auf Kundschaft? Ick--ick? Wie kommen Sie auf diese kuriose Gedanke?«
»Weshalb verstellt Ihr Eure Sprache? Weshalb sprecht Ihr jetzt ein so schauderhaftes Niederländisch? Was soll dieses Theater?«
»Ick verstehe nix, Madame, ick verstehe nix, über'aupt gar nix. Wer seid Ihr?« »Hört, Dieuxdonne, macht nicht ein solches Theater! Erst wolltet Ihr mich hängen lassen, dann gabt Ihr mir statt dessen diesen albernen Auftrag. Jetzt bin ich hier und, nachdem ich ihn ausgeführt habe, wollt Ihr mich nicht mehr kennen. Was soll das?«
»Ick nix wissen, was das soll. Ick kennen diese Dieuxdonne nur wegen seine berühmte Namen. Ick nix mehr wollen wissen etwas davon. Sie ge'en nach 'ause und vergessen, was Sie sich 'aben eingebildet.«
Ellen-Rose wurde jetzt ungemütlich. Was dachte sich dieser Kerl? Hatte er nichts anderes vor, als nur mit ihr zu spielen? Sie trat einen Schritt näher.
»Kein Zweifel«, rief sie dann laut, »Ihr seid Dieuxdonne! Eine Verwechslung ist gar nicht möglich! Ich gehe nach Hause; aber da nach Euerm Willen mein Zuhause Euer schwarzrotes Schiff ist, können wir auch zusammen gehen.«
Plötzlich lauschten sie angestrengt ins Dunkel. In der Ferne hörten sie immer leiser werdende, hastende Schritte.
»Mon Dieux«, meinte Leon plötzlich, »was saggen Sie da von eine schwarzrote Schiff?« Sie schüttelte den Kopf.
»Seid Ihr verrückt, oder bin ich es? Ihr werdet wohl noch Euer eigenes Schiff kennen!«»Natürlich kenne ick meine Schiff. Meine Schiff sind nicht rot und schwarz. Es liegen 'ier ganz friedlich in die 'afen. Und ick werde jetzt ge'en auf meine Schiff. Und sag nix noch einmal zu mir Dieuxdonne . . .« Er drehte sich ganz plötzlich um und ging weiter.
Ellen-Rose folgte ihm nicht mehr. Sie hatte wirklich Zweifel bekommen. So sehr konnte sich doch ein Mensch gar nicht verstellen!
Sie wandte sich in entgegengesetzter Richtung, hatte aber kaum zwei Schritte getan, als aus einer Seitenstraße ein ganzer Zug holländischer Kolonialsoldaten im Laufschritt auftauchte. »Hier entlang ist er!« rief einer. Ein anderer:
»Hier stand er mit einer Frau!« Die letzte Stimme gehörte dem Zweiten Offizier de Witts. Dieser war mit dem Kapitän nicht ins Hotel gegangen, sondern wartete draußen. Er beobachtete, wie zunächst Leon de Musset aus dem Eingang kam.
Nun, dagegen gab es nichts einzuwenden. Es gab auch nichts einzuwenden gegen eine--hm --Dame, die ihm offensichtlich folgte. Solche »Damen« gab es in den Städten der Südsee genau wie in allen anderen Städten der Welt.
Der Zweite Offizier blickte dem Mädchen sinnend nach. Schade, daß so ein nettes Mädchen sich nicht um ihn kümmerte. Aus einem unbewußten Drang heraus schlich er den beiden ein Stück nach.
Jetzt hatte die Verfolgerin Leon de Musset fast erreicht. Da hörte er sie rufen: »Monsieur Dieuxdonne !«
Der Zweite Offizier stand für Sekunden erstarrt. Der Name erregte ihn mehr, als alle nächtlichen Küsse der Welt das getan haben würden. Er war auf einmal hellwach.
Er hörte teilweise, was die beiden sprachen.
Im Verlauf des Gesprächs wurde es ihm vollständig klar, daß der so Angeredete tatsächlich niemand anders sein konnte.
Hastig entfernte er sich, während die beiden weiterschritten.
Es waren seine Schritte, die Leon und Ellen-Rose gehört hatten.
Er benachrichtigte de Witt, den er im Hotel zusammen mit den anderen antraf.
Neben dem Hotel war ein Wachlokal der Kolonialarmee. Im Nu war der Wachzug formiert. Die Jagd begann, und alle schlössen sich an.
In Michel stieg die Spannung von Minute zu Minute.
Dieser Mann, der sich selbst »Gottgegeben« nannte — sollte er auf einmal einen solchen Fehler machen? — Wenn der Bericht des Zweiten Offiziers der »Utrecht« stimmte, dann war Dieuxdonne bodenlos leichtsinnig geworden.
»Da vorn geht einer«, rief der Zugführer jetzt.
»Das ist er«, flüsterte der Zweite und beschleunigte den Schritt.
»Halt! — Stehenbleiben!«
Leon fühlte sich nicht angesprochen. Er ging ruhig weiter, ein wenig zu ruhig vielleicht. Dann hatten sie ihn umringt, und er sah sie mit gutem Erstaunen an. »Womit ick Ihnen kann dienen, Messieurs?«
»Aber, meine Herren«, ließ sich da die Stimme Ter-meulens vernehmen (Benjamin hatte es vorgezogen, dasErgebnis der Razzia im Hotel abzuwarten), »das ist ja Monsieur de Musset, mit dem wir soeben beraten haben.« Verblüffung ringsum.
»Ganz reckt, Messieurs«, ließ sich freundlich Leon vernehmen, »zweifelt ihr daran?« Aber der Zweite war seiner Sache sicher.
»Laßt euch nicht verblüffen«, sagte er scharf. »Ich bin kein kleines Kind. Was ich mit eigenen Ohren gehört habe, das habe ich gehört. Dieser Herr war sichtlich erschrocken, als ihn die Dame mit Dieuxdonne ansprach.«
»Welche Dame?« fragte Leon lächelnd.
»Ah, seht ihr, er streitet sogar das ab.«
Man stand unschlüssig herum. Der Pfeifer gedachte sich nicht in diese Sache zu mischen. In Frans Termeulens Gesicht aber begann es plötzlich zu arbeiten. Er hielt den Zweiten gar nicht für so verrückt.
Der Offizier würde schließlich nicht irgendeine Behauptung aus der Luft greifen. De Musset hätte wenigstens das Zusammensein mit der Dame eingestehen können. Ein solches Treffen hätte auch eine Verwechslung mit dem echten Dieuxdonne sein können. Vielleicht kannte die Frau den echten und war von einer zufälligen Ähnlichkeit getäuscht worden.
»Ihr behauptet also, daß Ihr gar keine Frau getroffen und gesprochen habt?« sagte der Zweite Offizier jetzt scharf.
»Oh, dann müßte ick lügen, Monsieur. Ick 'aben gesprochen viele Damen in meine Leben.«
»Wollt Ihr uns verhöhnen, Herr?«
»Mais non, ick antworten nur auf Eure Frage.«
»Ihr streitet also ab, daß Euch vorhin eine Frau mit dem Namen des berüchtigten Flibustiers angesprochen hat?« De Musset nickte.
»Mich 'at nix angesprochen eine Dame.« »Dann verhaftet ihn, Sergeant«, sagte Termeulen.
Für den Sekretär war es klar, daß Leon log. Und für diese Lüge gab es in den Augen der Holländer nur einen Grund: er war Dieuxdonne. Termeulen glaubte plötzlich Zusammenhänge zu erkennen. Er konnte nicht ahnen, daß der galante Franzose sich lieber würde verhaften lassen, als daß er eine Dame kompromittierte, die zu so unziemlicher Stunde mit ihm auf der Straße gesehen worden war. Was jedem Franzosen eine Selbstverständlichkeit war, ging anderen Europäern gar nicht in den Kopf. Nein, Leon würde nie eine Dame bloßstellen. Die Wachsoldaten nahmen Leon de Musset in ihre Mitte. Sie brachten ihn in ihr Wachlokal. Und es dauerte keine zehn Minuten, so war auch Benjamin van Groot zur Stelle. Er bebte vor Wut. Es fiel den Soldaten nicht leicht, den schlanken Franzosen vor dem Reeder zu schützen.
»Du Schwein!« schrie van Groot. »Dir also habe ich mein Unglück zu verdanken! Du bist der Hund, der meine Schiffe in den Grund gebohrt hat ! Du hast dich bei uns angebiedert, hast uns ausgehorcht und dann das Wissen gegen uns verwendet. Hängen wirst du! Am Hals aufgehängt, wie es mit allen Piraten geschieht!«
Leon blieb ruhig. Nicht eine Muskel seines feingeschnittenen Gesichtes zuckte.
»Monsieur«, sagte er, »es ist mir zu dumm, Euch zu geben eine Antwort darauf. Ihr wart auf eine von Eure Schiffe, als uns der richtige Pirat 'at angegriffen und zwei 'at versenkt. Ick bin gefahren als eine Köder für die Pirat. Meine Schiff war fast die ganze Zeit zusammen mit Ihre Schiff. Sie 'aben gese'en, wie Pirat kammit seine schwarzrote Segler hinter die Vulkan vor. Und ick stand mit meine Schiff auf die gleiche Zeit vor die Vulkan. Non, Monsieur, es ist mir zu dumm.«
Die Wahrheit dieser Worte war nicht anzuzweifeln.
»Stimmt«, sagte Termeulen verlegen.
»Hm«, machte der Reeder und stand unschlüssig.
Aber der Zweite Offizier der »Utrecht« wußte, was er gehört hatte. Er wollte sich von keinen noch so klaren Indizien ins Bockshorn jagen, lassen.
»Weshalb gebt Ihr nicht zu, daß Euch nachts auf der Straße jene Dame, die uns leider entkommen ist, als Dieuxdonne bezeichnete?« fragte er.
Auf Leons Gesicht trat erneut das Lächeln, etwas spöttisch und überlegen. Er zuckte die Schultern und blieb stumm.
»Gebt es doch zu«, sagte Termeulen. »Diese Lüge belastet Euch unnötig!«
»Es geben Dinge im Leben, die eine Kavalier niemals zugeben«, sagte Leon de Musset. »Und wenn Ihr mir hängen wollen. Ick 'abe nix gese'en Dame auf die Straße.«
Der Pfeifer hatte Teile der in holländischer, mit französischen Brocken durchsetzten Sprache verstanden. Er stand im Hintergrund und betrachtete den eleganten Franzosen. Der Mann war ihm ausgesprochen sympathisch, viel sympathischer jedenfalls als die Holländer, die jetzt unbegründet wütend wurden. Van Groots Züge verzerrten sich. Termeulen wurde puterrot im
Gesicht. Und obwohl es ihnen nach dem Gesagten hätte vollkommen klar sein müssen, daß Leon nicht auf ihre Schiffe geschossen hatte, vergaben sie ihm sein Leugnen in diesem einen Punkt nicht. Mochte dieser auch noch so belanglos sein. Sie fühlten sich eben gekränkt.
Van Groot machte seinem Unmut Luft.
»Abführen!« schrie er aufgebracht.
Und der Sergeant führte ihn ab.
Der Pfeifer drehte sich angewidert zur Seite. Und für diesen Burschen sollte er kämpfen? Er hatte auf einmal keine Lust mehr. Wer sich so ungerecht gegen andere Menschen benahm, brauchte nicht selbst auf seine Rechte zu pochen.
Er wandte sich zum Gehen. Aber Termeulens Stimme hielt ihn zurück.
»Was machen wir nun, da wir das vierte Schiff zum Kampf gegen Dieuxdonne nicht haben?«
»Kampf gegen Dieuxdonne? Ich denke, Sie haben ihn soeben verhaftet! Gegen einen Verhafteten braucht man nicht zu kämpfen!«
»Unsinn«, sagte Termeulen. »Er ist doch nicht Dieuxdonne.«
»Weshalb sperren Sie ihn dann ein?«
»Weil er die Begegnung mit der Frau leugnet.«
»Hören Sie«, sagte Michel scharf, »wer gibt Ihnen das Recht, einen Menschen so zu behandeln, weil er etwas nicht zugeben will, was Sie gar nichts angeht?«
»Das ist unsere Sache, Herr, hier entscheiden wir.«
»Nun, dann entscheiden Sie ohne mich. Guten Abend.«
Michel ging.