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»Natürlich. Keine Leiche, kein Mord.«
»Verstehe«, murmelte Gerald, noch immer verwirrt.
Dann half er Prescott, den großen, schweren, noch lebenswarmen Körper hochzuheben, als plötzlich Schritte und Stimmen hinter ihnen ertönten.
»Was ist denn das?«
Ein paar Schritte hinter Prescott und Gerald standen Brady Tomlinson und Hutch Potter, die sich im Schutz der Dunkelheit aufs Promenadendeck begeben hatten, um zu sehen, ob sie einen volltrunkenen reichen Pinkel finden konnten, der in einer dunklen Ecke lag und nur darauf wartete, daß man ihm die Geldbörse abnahm. Bis jetzt hatten sie keinen Erfolg gehabt, aber Tomlinson ahnte sofort, daß bei der Sache, der sie so unerwartet gegenüberstanden, Geld herauszuschlagen war.
»Was ist mit dem Schwarzen?« fuhr der spitzgesichtige Tomlinson fort. »Ist er etwa tot?«
»Kümmert euch um euren Dreck und schert euch fort!« raunzte ihn Prescott an. »Ihr seht nicht so aus, als ob ihr aufs Oberdeck gehört.«
»Aber das ist ja Jim Illinois!« stieß Tomlinson aus, der nähergetreten war. »Der dreckige Nigger von diesem verlausten Beau Devlin.«
»Ihr mochtet Illinois nicht?« erkundigte sich Prescott vorsichtig.
Tomlinson schüttelte heftig den Kopf. »Bei Gott und dem Satan, nein!«
»Dann freut euch, daß er jetzt hinüber ist!«
»Wie ist das passiert?« wollte Tomlinson wissen.
»Geht euch nichts an.«
»Abgestochen«, stellte der kleine Mann mit dem Rattengesicht fachmännisch fest, nachdem er Illinois' Wunden und das auf einer der Kisten liegende blutverschmierte Messer gesehen hatte. »Hat er nicht anders verdient.«
Er dachte daran, was Devlin und Illinois am Vortag mit Potter und ihm angestellt hatten, und konnte kein Mitleid mit dem Schwarzen empfinden. Wahrscheinlich konnte er mit niemandem Mitleid empfinden, höchstens mit sich selbst.
»Wir sollten uns hier nicht länger mit dem Toten aufhalten«, fand Prescott. »Helft uns, ihn über Bord zu schmeißen, und haltet die Schnauze, dann sind hundert Dollar für euch drin.«
»Zweihundert«, verlangte Tomlinson, der Geld gerochen hatte.
»Also gut.«.
»Für jeden von uns.«
»Was?« brauste Prescott auf. »Ihr verdammten Kerle wollt mich wohl ausnehmen?«
»Für Mord wird man gehängt, Mister. Hier im Norden sogar für den Mord an 'nem Nigger. Was sind da schon lumpige vierhundert Bucks?«
Da mußte ihm Prescott recht geben.
»Einverstanden«, knurrte er deshalb. »Zweihundert für jeden.«
»Bar auf die Hand«, sagte Tomlinson und streckte grinsend seine schmutzige Rechte aus.
Widerstrebend zog Prescott ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und zählte vier Hunderter in die gierige Hand, die sich um die Scheine zusammenschloß, sobald sie in ihr lagen.
»Jetzt packt aber endlich mit an!« forderte Prescott, nachdem er das übrige Geld wieder weggesteckt hatte.
»Momentchen mal«, sagte Tomlinson und führte seine Hand zum Gesicht des Toten, wo sie einen der großen goldenen Ohrringe festhielt. »Was haben wir denn da? Sieht ja mächtig wertvoll aus.«
Mit einem Ruck riß er erst den einen Ring heraus, dann den anderen. »Das ist ein ziemlich schwerer Nigger. Die Ohrringe sind unsere Zulage für Schwer- und Nachtarbeit.« Er kicherte und steckte die flachen Goldstücke zu den vier Hunderten in eine Tasche seiner speckigen Jacke.
Dann halfen er und Potter den beiden anderen dabei, den Toten aufs Geländer zu heben und ihn mit etwas Schwung weit genug hinauszubefördern, daß er an der Backbordseite neben dem Rumpf der QUEEN OF NEW ORLEANS ins Wasser klatschte.
Keiner der vier Männer wußte, daß an der Stelle, wo Jim Illinois im Fluß versank, noch vor wenigen Stunden das seltsame Leuchten den Mississippi-Steamer begleitet hatte.
*
Der folgende Tag stand ganz im Zeichen der Suche nach dem verschwundenen Jim Illinois.
Als Devlin am Morgen erwachte und sein Partner nicht im Bett lag, machte er sich darüber keine großen Gedanken. Er nahm an, daß Jim früher aufgestanden war und sich bereits an Deck die Beine vertrat oder gerade in einem Salon das Frühstück einnahm. Als der Schwarze gegen Mittag noch immer verschwunden war, begann der Spieler sich Sorgen zu machen.
Am Nachmittag durchstreifte er mit Jacob und Martin das ganze Schiff, suchte in den finstersten Ecken nach Illinois und fragte Schiffsoffiziere, Mannschaften und Passagiere der Ersten Klasse und des Zwischendecks nach ihm. Sogar bei den schmutzigen Weibern, die ihre Körper in ebenso schmutzigen Winkeln für Geld darboten, erkundigte sich Devlin. Aber alles war vergebens. Sein Schatten blieb verschwunden.
Nach dem Abendessen versammelten sich Devlin, Jacob, Martin und Irene, die gerade Jamie zu Bett gebracht hatte, um einen Tisch in einem kleinen Salon, wo die Männern Zigarillos rauchten.
»Wo mag Mr. Illinois nur stecken?« sprach Irene laut die Frage aus, die aller Gedanken beschäftigte.
»Ich fürchte, wir werden ihn nicht wiedersehen«, sagte der Spieler düster, nachdem er eine Rauchwolke ausgestoßen hatte, die hinauf zu den glitzernden Kronleuchtern stieg und sich in deren hellem Licht allmählich auflöste. »Niemals wieder.«
Die junge Deutsche sah ihn erschrocken an. »Wie meinen Sie das, Mr. Devlin?«
»Es ist doch ganz einfach, leider. Wenn sich Jim nicht mehr an Bord befindet - und davon müssen wir ausgehen -, kann er nur dort draußen sein.« Er zeigte mit seinem Zigarillo zu den Fenstern, hinter denen der sich verdunkelnde Himmel und die schlammigen Fluten des Mississippi lagen.
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, er sei über Bord gegangen?«
Devlins Gesicht wirkte wie versteinert. »Genau das will ich sagen.«
»Aber wie denn? Meinen Sie, er ist gestolpert und ins Wasser gefallen?«
»Ins Wasser gefallen - wahrscheinlich. Gestolpert - wohl kaum.«
»Kann er nicht schwimmen?«
»Jim war ein hervorragender Schwimmer.«
»War?« fragte Irene und zog befremdet ihre Stirn in Falten. »Sie reden so, als seien Sie davon überzeugt, daß er tot ist.«
»Ja, das bin ich. Jim ist bestimmt nicht aus Unachtsamkeit über Bord gegangen. Da hat jemand nachgeholfen!«
»Jemand oder etwas?« fragte Jacob und berichtete Devlin von dem erneuten Auftauchen des seltsamen Lichtes in der letzten Nacht.
Devlin sah ihn erstaunt an. »Glauben Sie etwa an den Mississippi-Geist?«