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Jetzt konnte Jacob Devlin verstehen. Wohl besser, als der Spieler ahnte. Dessen Schicksal erinnerte den Deutschen an sein eigenes. Jacobs Familie war durch die betrügerischen Machenschaften der Bierbrauerfamilie Arning um Haus und Hof gebracht worden, und Jacobs Mutter war darüber verstorben.
Wenigstens hatte Jacob das Glück, daß sein Vater und seine drei Geschwister noch lebten. Jedenfalls vermutete er das. So wie er sie hier in Amerika vermutete, wahrscheinlich auf der Plantage seines Onkels Nathan in Texas. Dorthin wollte er aufbrechen, sobald er Irene und Jamie sicher zu Irenes Geliebtem Carl Dilger nach Oregon gebracht hatte.
Nach Devlins Erzählung breitete sich schwermütiges Schweigen in dem Lager aus. Nur das Feuer tanzte, unbeeindruckt von den Sorgen der Menschen, durch die Nacht.
*
Die Ausgesetzten schienen Glück im Unglück zu haben. Gegen drei Uhr morgens verdunkelte der Rauch zweier mächtiger Schornsteine den Himmel über dem Mississippi. Das Schiff kam von Süden, fuhr also in die Richtung, in die sie wollten: flußaufwärts.
Freudig erregt sprangen Devlin und die Auswanderer auf -niemand von ihnen hatte sich schlafen gelegt - und warfen alles verfügbare Holz ins Feuer. Dann liefen sie zum Strand und versuchten sich durch lautes Schreien bemerkbar zu machen.
»Das ist ein riesiger Kahn«, meinte Martin zwischendurch, als er frischen Atem schöpfte. »Kaum kleiner als die QUEEN OF NEW ORLEANS.«
Devlin kniff die Augen zusammen. »Kein Wunder. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das ihr Schwesterschiff, die QUEEN OF ST. LOUIS.«
Es sah so aus, als würde der große Dampfer das Feuer und seine Entfacher nicht bemerken oder aus irgendwelchen Gründen ignorieren.
»Es ist die QUEEN OF ST. LOUIS«, stellte Devlin mit Bestimmtheit fest, als der Steamer auf einer Höhe mit der Insel war.
»Aber sie fährt weiter, kümmert sich nicht um uns«, sagte Jacob.
»Vielleicht hat es Captain Henry F. Wilcox zu eilig, seinen Bruder einzuholen. Ein Halt würde einigen Zeitverlust bedeuten.«
Kaum hatte Devlin ausgesprochen, als der Wind Glockengeläut vom Schiff herüberwehte, und schon verstummte das dumpfe Hämmern der Maschinen.
»Sie hält an!« jubelte Martin. »Die ST. LOUIS hat uns gesehen!«
Die Männer beobachteten, wie ein Boot zu Wasser gelassen wurde. Zwei Männer bedienten die Riemen, und das Kommando führte der Erste Offizier des Dampfers, ein Mr. Finch.
Er staunte nicht wenig über die Geschichte der Ausgesetzten und brachte sie wie auch ihre Gefangenen dann zur QUEEN OF ST. LOUIS, wo sie ihren Bericht gegenüber Kapitän Wilcox wiederholten.
Henry F. Wilcox erinnerte in vielem an seinen Bruder, hatte dessen rötliches Haar und auch die weit vorspringende Nase. Aber er war ein paar Jahre jünger, etwas größer, und sein Gesicht wirkte nicht ganz so verhärtet.
Der Steamer war längst wieder unterwegs, als Devlin und die Auswanderer mit ihrem Bericht fertig waren. Wilcox wollte nicht mehr Zeit verlieren als unbedingt nötig.
»Eine fast unglaubliche Geschichte«, befand der Kapitän. »Aber da dieser Mr. Potter sie bestätigt hat, muß ich sie wohl glauben. Ich hätte allerdings nicht gedacht, daß mein Bruder sich mit einem Halsabschneider einläßt. Diese verdammte Rivalität macht uns beide noch kaputt!«
»Wie meinen Sie das, Sir?« erkundigte sich Jacob.
»In dem Bemühen, einander auszustechen, achten wir beide weniger auf den Gewinn, als wir es eigentlich sollten. Vermutlich ist Homer in finanzielle Schwierigkeiten geraten, weshalb er sich mit LaGrange einlassen mußte. Hoffentlich wird dieser Betrüger für seine Untaten zur Rechenschaft gezogen. Wenn wir Potter und Tomlinson in St. Louis der Polizei übergeben haben, sollte dem eigentlich nichts im Wege stehen.«
»Es wäre besser, wenn wir eher in St. Louis eintreffen als die NEW ORLEANS«, sagte Devlin. »Ich möchte gern sichergehen, daß uns LaGrange und Prescott nicht entwischen.«
»Die QUEEN OF ST. LOUIS tut, was sie kann«, meinte der Kapitän. »Schließlich versuche ich schon seit unserer Abfahrt aus Cairo, die NEW ORLEANS einzuholen. Wenn ich den Maschinen noch mehr Druck zuführe, bringe ich die Kessel an den Rand der Belastbarkeit. Wenn ich Pech habe, darüber hinaus.«
Devlin zählte sein ihm verbliebenes Geld. »Ich habe noch zweitausendfünfhundert Dollar, Captain. Das Geld gehört Ihnen, wenn die ST. LOUIS die NEW ORLEANS einholt.«
Wilcox starrte auf das Geld, während es hinter seiner Stirn arbeitete. »Also gut. Ich werde aus dem Schiff herausholen, was nur irgend möglich ist!«
Kapitän Henry F. Wilcox stieg hinauf ins Ruderhaus, um die nötigen Befehle zu erteilen, und bald erzitterte das ganze Schiff unter dem erhöhten Kesseldruck. Die Rauchfahnen über dem Schiff wurden noch dicker, als es sich mit gesteigerter Geschwindigkeit durch die dunklen Fluten schaufelte.
Devlin ließ Jacob und Martin stehen, ohne ein Wort zu sagen, trat nach vorn aufs Promenadendeck, stützte sich dort auf das Geländer und sah den Fluß hinauf, als könnten seine Augen die Nacht durchdringen, die Entfernung überbrücken und die Distanz ermessen, welche die beiden Schwesterschiffe voneinander trennte.
Jacob und Martin gesellten sich zu dem Spieler, denn an Schlaf konnte und wollte keiner von ihnen denken. Ein innerer Aufruhr ergriff von ihnen Besitz. Wie die Vorahnung eines kommenden großen Ereignisses.
Aber es war eine dunkle Vorahnung, jedenfalls für Jacob. Das unheimliche Leuchten, das die entschwindende QUEEN OF NEW ORLEANS begleitet hatte, spukte in seinem Kopf herum.
*
So fuhr die QUEEN OF ST. LOUIS in einen leuchtenden Sonnenaufgang hinein, dessen rotgoldene Strahlen Jacobs Sorgen vergeblich zu verdrängen versuchten. Er würde erst wieder ruhig sein, wenn Irene und Jamie wohlbehalten bei ihm waren. Die beiden bedeuteten ihm fast soviel wie seine eigene Familie. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, daß sich ihre Wege in Oregon für immer trennen würden. Doch dann zog er es vor, lieber nicht daran zu denken. Denn der Gedanke, Irene zu verlieren, schmerzte ihn sehr.
Mit dem Tageslicht kamen auch die Passagiere an Deck. Mehr und mehr strömten nach dem Frühstück zusammen, um Zeugen des aufregenden Ereignisses zu werden, das sich über die Mannschaft zu ihnen herumgesprochen hatte: ein Wettrennen auf dem Mississippi. Und nicht irgendein Wettrennen, sondern das Duell zwischen den beiden größten, prächtigsten und modernsten Dampfern, die der Vater der Ströme je gesehen hatte.
Das war ein Ereignis, in dessen Bann nach und nach das gesamte Schiff geriet. Niemand an Bord, vom geschniegelten Offizier bis zum verlausten Deckspassagier, schien sich ihm entziehen zu können. Es war, als übertrügen sich die Vibrationen des schwer arbeitenden Schiffes auf die Menschen, nahmen sie gefangen und machten sie zu einem Teil der fieberhaft stampfenden Maschinen.
Die Anspannung und Ruhelosigkeit ließ unter Passagieren und Flußschiffern die Wettleidenschaft ausbrechen. Man setzte darauf, welches Schiff als erstes St. Louis erreichte, oder -wenn man etwas mutiger war und an den sicheren Sieg des eigenen Schiffes glaubte - auf die Tageszeit, zu der die QUEEN OF ST. LOUIS ihr Schwesterschiff überholen würde.
Jedesmal, wenn voraus am Horizont eine Rauchfahne zu sehen war, drängte alles zum Vorschiff, und diejenigen, die auf einen raschen Triumph der QUEEN OF ST. LOUIS gewettet hatten, rieben sich erfreut die Hände. Doch es war jedesmal ein anderes Schiff, dem man begegnete oder das man überholte.
Doch auch diese Begegnungen erhöhten das Fieber, das auf dem großen Steamer grassierte. Denn Kapitän Wilcox hob jedesmal die Flüstertüte an die Lippen und fragte die Besatzungen der anderen Schiffe, wann man der QUEEN OF NEW ORLEANS begegnet sei. Jede Antwort bewies, daß man dem verfolgten Schiff wieder ein Stück näher gerückt war.
Und das Fieber stieg.
Auch Devlin wurde davon ergriffen. Zwar stand er nach so vielen Stunden noch immer auf dem Promenadendeck, unbeweglich wie eine aus Holz geschnitzte Galeonsfigur, aber Jacob und Martin erkannten bei näherem Hinsehen seine wachsende Erregung. Das Mahlen seiner Kiefer, das krampfartige Zucken seiner Hände und sein heftiger werdender Atem, das alles waren Anzeichen von Devlins wachsender Erregung. Der Spieler schien nur noch für den Moment zu existieren, in dem er mit Simon LaGrange und Steve Prescott abrechnen konnte.
Seltsamerweise wurden Jacob und Martin von diesem Fieber nicht gepackt. Vielleicht, weil bei ihnen die Sorge um Irene und Jamie an erster Stelle stand. Das ließ sie nachdenklicher werden als alle anderen an Bord. Obwohl die junge Frau und ihr Sohn in keiner unmittelbaren Gefahr schwebten und eine solche auch nicht ersichtlich war, lastete auf Jacob und Martin ein Ungewisser, aber unleugbarer Druck, der das Gegenteil zu besagen schien.
Obwohl sie keinen Hunger verspürten, nahmen die beiden Freunde ein Frühstück ein. Sie versprachen sich davon etwas Ablenkung, aber das war nur bedingt der Fall. Denn inzwischen hatte sich auch herumgesprochen, daß die beiden Deutschen etwas mit der erhöhten Geschwindigkeit des Schiffes zu tun hatten, und sie wurden von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Sie gaben sich sehr einsilbig, doch es dauerte eine ganze Weile, bis die erregten Menschen sie in Ruhe ließen.
Als am späten Nachmittag zum x-ten Mal der Rauch eines anderen Schiffes den Himmel am Horizont durchschnitt, war die Aufregung weit weniger groß als bei den ersten Schiffen, denen man am Morgen begegnet war. Niemand schien mehr so recht daran zu glauben, heute noch der QUEEN OF NEW ORLEANS zu begegnen.
Doch allmählich zeichnete sich die ungeheure Größe des anderen Dampfers und auch seine Schnelligkeit ab. Bei keinem anderen Schiff hatte die QUEEN OF ST. LOUIS so lange gebraucht, um es einzuholen. Je näher man dem noch unbekannten Steamer kam, desto größer wurde der Verdacht, daß es diesmal tatsächlich das Schwesterschiff war.
Und das Fieber stieg wieder.
Als gerade jedermann mit scheinbarer Gewißheit behauptete, die QUEEN OF NEW ORLEANS vor sich zu sehen, schien sich der Abstand zwischen den Schiffen wieder zu vergrößern. Offenbar hatte man auf dem anderen Dampfer bemerkt, daß man verfolgt wurde, und den Kesseldruck erhöht. Aber das erhärtete nur den Glauben, daß es tatsächlich die QUEEN OF NEW ORLEANS war.
Devlin, Jacob und Martin hielten es auf dem mit Menschen vollgestopften Promenadendeck nicht mehr aus. Sie erklommen die Treppe zur Brücke und durften sie ungehindert betreten, obwohl Passagiere hier oben normalerweise nichts zu suchen hatten. Aber die Matrosen wußten um den besonderen Status der drei Männer, die von Devil's Head gekommen waren.
Im Ruderhaus trafen die drei auf Kapitän Wilcox, Mr. Finch und die beiden Lotsen des Schiffes, Anderson und Haggerty. Anderson stand am Ruder und führte den Steamer mit sicherer Hand durch das leichteste Fahrwasser.
Das Ruderhaus mit seinem Pagodendach sah nicht nur von außen prunkvoll aus, es war auch von innen entsprechend ausgestattet und von einer unerwarteten Geräumigkeit. Hebel und Griffe waren vergoldet, zwei große Sofas mit rotem Samt bezogen, und an den Fensterfronten hingen Vorhänge aus blauem Samt.
Doch die drei Männer vom Promenadendeck hatten dafür kaum einen Blick übrig. Sie interessierte nur das Schiff etwa eine halbe Meile voraus.
»Captain, ist es die NEW ORLEANS?« fragte Devlin erregt.