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»Ja«, sagte er dann, und das Zittern seiner Stimme verriet, daß auch er erregt war. »Sie ist es. Definitiv!«
»Aber wir kommen ihr nicht näher«, stellte Devlin fest.
»Nicht mehr«, sagte der Kapitän. »Offenbar hat mein Bruder bemerkt, daß wir ihm auf den Fersen sind, und den Kesseldruck erhöhen lassen.«
»Dann lassen Sie auch den Druck erhöhen!«
»Das wäre gefährlich. Wir sind bereits an der Belastungsgrenze.«
»Was können wir denn sonst tun?« fragte der Spieler mit einer Spur von Verzweiflung, die gar nicht zu seiner sonst so ruhigen, überlegenen Art paßte.
»Nichts, Mr. Devlin. Die beiden Schiffe gleichen sich wie ein Ei dem anderen, auch ihre Maschinen. Keines ist deshalb wesentlich schneller als das andere. Das einzige, was uns helfen könnte, wäre ein Fehler des Rudergängers drüben auf der NEW ORLEANS.«
»Es ist wirklich ein verflucht harter Job bei dieser Strömung«, bestätigte der Lotse am Ruder. »Wenn man nicht höllisch aufpaßt und das Ruder quer zum Heck dreggen läßt, hat man das Rennen bereits verloren.«
Devlin sah Wilcox mit fast hypnotischem Blick an. »Sie müssen noch mehr Druck geben lassen, Captain! Denken Sie an das Geld und an den Sieg über Ihren Bruder!«
Vielleicht waren es die zweitausendfünfhundert Dollar, die Wilcox lockten, vielleicht auch der Gedanke, über seinen Bruder zu triumphieren. Oder es war Devlins Verlangen, das keinen Widerspruch duldete. Vielleicht alles zusammen. Jedenfalls griff Wilcox zum Sprachrohr und befahl den Maschinisten, mehr Druck zu geben.
Kurz darauf erschien ein verschwitzter, ölverschmierter Mann auf der Brücke. Er hieß Kelly, arbeitete im Maschinenraum und wurde von den verantwortlichen Maschinisten geschickt.
»Der Druck beträgt bereits 180 Pond, Captain«, sagte er leicht außer Atem. »Mr. Raven und Mr. Flaherty sagen, ihn zu erhöhen, wäre zu riskant.«
»Die Entscheidungen an Bord treffe immer noch ich«, erwiderte Wilcox steif. »Richten Sie Mr. Raven und Mr. Flaherty aus, sie sollen gefälligst meine Befehle befolgen. Sonst können sie sich in St. Louis nach einem anderen Schiff umsehen!«
Kelly sah seinen Kapitän zweifelnd an. »Soll ich das so ausrichten, Sir?«
»Genauso!«
»Yes, Sir.«
Kelly verschwand wieder von der Brücke.
Bald ächzte und keuchte die QUEEN OF ST. LOUIS noch mehr als bisher. Doch die vermehrte Anstrengung zeigte ihre Wirkung. Immer größer wurde das Heck des anderen Schiffes vor den Augen der Männer im Ruderhaus.
»Wir kriegen sie, Captain«, meinte Andersen mit erregter Stimme, während er weiterhin das Ruder mit ruhiger Hand hielt. »Jetzt hängt alles davon ab, wer zuerst die Dawson-Biegung erreicht.«
»Wieso?« wollte Jacob wissen.
»In dieser Biegung ist das Wasser sehr seicht. Nur eine schmale Fahrrinne an Steuerbord ermöglicht für ein Schiff unserer Größe die gefahrlose Durchfahrt. Die ST. LOUIS und die NEW ORLEANS passen nicht nebeneinander in die Rinne. Wenn wir es schaffen, sie vor der NEW ORLEANS zu erreichen, haben wir sie endgültig überholt.«
»Und wenn nicht?«
»Sind wir geschlagen, jedenfalls fürs erste. Denn wegen der Enge kann die Rinne nur mit langsamer Fahrt durchquert werden. Bis man danach wieder auf die volle Geschwindigkeit kommt, hat der erste schon einen großen Vorsprung.«
Auch die QUEEN OF NEW ORLEANS unternahm alle Anstrengungen, die Dawson-Biegung zuerst zu erreichen. Aber je näher sie kam, desto näher rückte die QUEEN OF ST. LOUIS auch ihrem Schwesterschiff.
Kurz vor der Biegung war der ersehnte Moment gekommen, und die QUEEN OF ST. LOUIS ging längsseits des anderen Schiffes, an dessen Backbordseite. Besatzungsmitglieder und Passagiere, längst von der Rivalität der beiden Kapitäne angesteckt, verhöhnten und beschimpften einander. Noch glaubte ein jeder an den Sieg seines Schiffes.
Doch dann ging die QUEEN OF ST. LOUIS mit einem letzten Aufbäumen in Führung. Die Sonne stand schon tief jenseits des linken Flußufers, und das Tageslicht verlor allmählich an Helligkeit, als das Verfolgerschiff den anderen Dampfer vor dessen Bug schnitt, zuerst in die ausgeprägte Biegung einfuhr und die Maschinenkraft drosselte, um die Rinne sicher zu durchfahren.
Anderson stieß einen Freudenschrei aus, der unter Flußschiffern und Passagieren ein vielhundertfaches Echo fand. »Wir haben gewonnen!«
Die letzte Silbe erstarb auf seinen Lippen, als er den Schatten bemerkte, der sich an der Backbordseite von achtern immer näher schob. Die QUEEN OF NEW ORLEANS kam ihrem Schwesterschiff so nahe, daß jeden Augenblick mit einer Kollision zu rechnen war.
»Was machen die denn?« rief Anderson entsetzt aus. »Die Fahrrinne ist nicht breit genug für beide Schiffe!«
»Sie versuchen uns abzudrängen«, sagte Henry F. Wilcox.
*
Im Ruderhaus der QUEEN OF NEW ORLEANS herrschte eine bis zum Zerreißen gespannte Atmosphäre. Niemand sprach ein Wort. Die Augen der Lotsen und Offiziere waren auf das Schwesterschiff an der Steuerbordseite und auf Kapitän Homer F. Wilcox gerichtet, der das Steuer übernommen hatte, als sich der Lotse Finn geweigert hatte, neben der QUEEN OF ST. LOUIS durch die Rinne zu fahren.
Auch die Menschen auf den Decks der NEW ORLEANS hielten den Atem an. Der Abstand zwischen beiden Schiffen war so gering, daß kein Blatt Papier mehr zwischen sie zu passen schien. Jeder rechnete jeden Augenblick mit der Kollision. Jetzt erst wurde den Menschen klar, daß aus dem freudig begrüßten Ereignis des Wettrennens blitzschnell eine blutige Tragödie werden konnte.
»Mein Bruder ist hartnäckig«, erkannte Homer Wilcox. »Er will einfach nicht Platz machen.«
»Weil er dann mit seinem Schiff auf den Küstenstreifen gerät«, stieß Finn hervor. »Sie müssen Fahrt zurücknehmen, Sir!« beschwor er den Kapitän. »Sonst laufen wir in wenigen Sekunden auf die Sandbank auf!«
»Dann müssen wir meinen Bruder mit Gewalt nach Steuerbord drängen«, entgegnete Wilcox und wollte das Ruder nach rechts drehen.
»Nein, nicht!« schrie Finn auf, sprang nach vorn, riß den Kapitän mit solcher Gewalt vom Ruder, daß dieser gegen seinen Ersten Offizier taumelte, und drehte das bereits ein Stück nach rechts eingeschlagene Ruder zurück.
Die QUEEN OF NEW ORLEANS erbebte, als der Steamer mit einem gewaltigen Krachen auf die Sandbank fuhr. Menschen und Gegenstände purzelten durcheinander. Dann saß der Dampfer fest.
»Finn, das ist Meuterei!« schnaubte Wilcox. »Sie haben Ihren Kapitän angegriffen und das Schiff aufgesetzt. Dafür stelle ich Sie vor ein Gericht!«
»Ich habe das Schiff gerettet«, sagte Finn.
»Schweigen Sie!« zischte Wilcox und griff nach dem Sprachrohr. »Kapitän an Maschine: Kesseldruck um zwanzig Pond erhöhen und volle Fahrt zurück! Wir müssen von der verdammten Sandbank runterkommen!«
»Das ist Wahnsinn«, meinte Finn. »Es wird das Schiff zerreißen!«
»Nein«, widersprach Wilcox. »Wegen des Hochwassers ist die Sandbank viel weiter unter dem Wasserspiegel als sonst. Wenn wir Glück haben, ist die NEW ORLEANS schon nach ein paar Sekunden wieder frei.«
Da begannen sich die Schaufelräder mit aller Kraft in die entgegengesetzte Richtung zu drehen. Durch den Dampfer lief ein Zittern und Beben, das fast so schlimm war wie eben beim Auflaufen.
Aber dann geschah etwas, das weit schlimmer war. Der erste Kessel explodierte mit einer infernalischen Detonation, und weitere Kessel folgten.
Auf den dicht bevölkerten Decks brach die Hölle los. Zu Dutzenden wurden Menschen ins Wasser geschleudert, in Stücke gerissen, vom ausströmenden Wasserdampf verbrüht oder von der umherfliegenden Glut in Brand gesetzt.
*
Erneutes Freudengeschrei brach auf der QUEEN OF ST. LOUIS aus, als das Schwesterschiff auf die Sandbank fuhr.
Gerade hatte der in Führung gegangene Dampfer die Biegung hinter sich gelassen, und Andersen stellte den Befehlshebel des Maschinentelegrafen wieder auf volle Fahrt voraus, als sie die ohrenbetäubende Explosion hörten und den schwarzen Rauchpilz sahen, der sich hinter ihnen über dem Mississippi erhob.