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Dabei hatte sich Fei-yen für kurze Zeit von der Erstarrung gelöst.
Sie hatte laut geschrien und die Nachbarn angefleht, auch ihren Großvater aus der Flammenhölle zu holen.
Vergebens.
Die Rettung der Lebenden war wichtiger.
Sun Chengs Körper blieb in der Waschküche. Niederstürzende Balken, von der heißen Glut in riesige Fackeln verwandelt, versperrten den Zugang.
Die Starre überfiel die junge Chinesin erneut. Sie stand da und starrte auf die Flammen.
Doch nicht die sah sie vor sich, sondern Sun Chengs faltiges, gütiges Gesicht.
So sehr sie sich auch anstrengte, sich den Großvater lebendig vorzustellen, immer wieder drängte sich das andere Bild in den Vordergrund: Sun Cheng hockte vor der Wäschemangel, tot und doch in halb aufrechter Haltung. Der eingeklemmte Zopf zog den Kopf nach oben, als klammere der alte Mann sich gewaltsam an das Leben.
Plötzlich griffen Hände nach Fei-yen und wollten sie wegzerren von dem Haus und ihrem Großvater.
Sie stemmte sich dagegen, wollte die Hände abstreifen.
Sie sah ein Gesicht vor sich, das sie nur unterschwellig als das einer Nachbarin erkannte.
Eine Frau fortgeschrittenen Alters, leicht aufgedunsen, das einst dunkle Haar von einem starken Grauschimmer durchsetzt.
»Wir müssen hier weg!« schrie die Frau laut, um das heftige Prasseln des Feuers zu übertönen und um die unsichtbare Mauer zu durchdringen, die Fei-yen um sich aufgebaut hatte. »Der ganze Straßenzug steht gleich in Flammen. Es ist nichts mehr zu retten. Wenn wir nicht fliehen, verbrennen wir!«
Die Frau faßte Fei-yen an den Schultern und schüttelte die Halbwüchsige kräftig durch.
Vergebens bemühte sich die ältere Chinesin, im Gesicht der jüngeren den Schimmer des Verstehens zu entdecken.
Fei-yen schien es gleichgültig zu sein, ob die Flammen sie verschluckten.
Nein, schlimmer noch, sie wollte gar nicht weg. Sie wollte bei ihrem Großvater bleiben.
Bei Sun Cheng, der sich immer für andere eingesetzt hatte.
Der für Fei-yen Vater und Mutter zugleich gewesen war.
Der Wang Shu-hsien geholfen und sie trotz schwerer Folter so lange geschützt hatte, bis sich die Gangster an seiner Enkelin vergriffen.
Dessen Lohn ein sinnloser Tod gewesen war!
Als die ältere Frau erkannte, was mit dem Mädchen los war, rief sie um Hilfe. Allein würde sie Fei-yen nicht retten können.
Aber niemand blieb stehen und kümmerte sich um die beiden Chinesinnen. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Angehörigen und ihre Habseligkeiten vor der sich unablässig ausbreitenden Waberlohe in Sicherheit zu bringen.
Die Frau mußte lange rufen, bis endlich zwei Männer sie erhörten. Ein älterer und ein jüngerer Mann eilten herbei.
Die Frau kannte sie: Shi Tai-Po und Shi Yang. Vater und Sohn, deren Schusterwerkstatt ganz in der Nähe lag.
Gelegen hatte! Jetzt waren dort nur noch rotzüngelnde Flammen und dicker schwarzer Rauch zu sehen, der so finster war, daß er gegen den Nachthimmel abstach.
»Helft mir, Fei-yen wegzubringen!« bat die Nachbarin. »Ich allein schaffe es nicht. Sie bleibt sonst hier und.«
Sie brauchte es nicht auszusprechen. Was sie meinte, war klar.
Während die brennenden Überreste von Sun Chengs Haus in sich zusammenstürzten und ein riesiger Funkenregen die Nacht erhellte wie der Tanz Tausender und Abertausender Glühwürmchen, breitete sich das Feuer über den Hof aus.
Es griff auf Ställe und Verschlage über, auf kleine Sträucher und große Büsche.
Den vier Chinesen drohte, in wenigen Minuten von den züngelnden Flammen eingeschlossen zu werden.
Shi Tai-Po nickte seinem kräftigen Sohn zu.
Dieser packte Fei-yen und hob sie hoch wie eine Puppe.
Die Enkelin des ermordeten Wäschereibesitzers wehrte sich nicht, ließ alles mit sich geschehen, als verfüge sie über keinen eigenen Willen mehr.
Die beiden Männer - der jüngere mit dem wie ein Sack über die Schulter geworfenen Mädchen - und die Frau rannten vor den Flammen davon.
Für Shi Tai-Po und seinen Sohn Yang war es gar keine Frage, Fei-yen vor den Flammen zu retten.
Sie hätten es für jeden getan, auch für einen Wildfremden.
Sun Chengs Enkelin aber fühlten sie sich besonders verpflichtet.
Der Wäschereibesitzer war Shi Tai-Pos bester Freund gewesen, über viele Jahre hinweg.
Leider waren der alte Schuster und sein Sohn zu spät gekommen, um dem Freund zu helfen.
Als sie mit den anderen Männern ihres Viertels das Haus stürmten, klaffte in Sun Chengs Hals schon die häßliche Wunde.
Wenn er selbst so schrecklich verletzt worden wäre, hätte es Shi Tai-Po nicht schlimmer treffen können als beim Anblick seines alten Freundes, der in grotesker Haltung vor der Wäschemangel hockte und dabei zuzusehen schien, wie das Leben rot aus ihm herausfloß.
Was er für Sun Cheng nicht mehr hatte tun können, wollte Shi Tai-Po wenigstens für die Enkelin des Freundes vollbringen: sie retten!
»Danke«, japste die ältere Frau den Männern beim Laufen zu und sah sich dann suchend um.
Doch wohin sie auch blickte, überall bot sich ihr das gleiche Bild.
Fliehende Menschen.
Die meisten zu Fuß.
Ein paar auf Eseln, Maultieren oder Pferden.
Einige mit Karren, auf denen sie fuhren oder ihre Habe transportierten.