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Jacob schlug die Augen auf.
Es war wie damals im Zirkus: Das Pferd hatte die brennende Scheibe durchsprungen!
Nur der Applaus blieb aus. Das war nicht schlimm. Er war das Pferd und das Publikum zugleich: Er jubelte innerlich über sein Glück.
Er war nicht im Feuer gelandet!
Noch nicht. Schon fraßen sich die knisternden Flammen von der Fassade weiter und weiter ins Innere des Hauses vor.
Er sprang auf und rannte zur Treppe.
Der dichte Rauch ließ seine Augen tränen. Am liebsten hätte er sie geschlossen.
Gewaltsam riß er sie weit auf, damit er in dem schwarzgrauen Rauch überhaupt etwas sah.
Er wußte ungefähr, wo Ma-Lings Schlafraum lag.
Der Reverend hatte es erwähnt, als das kleine Mädchen ins Studierzimmer kam: direkt darüber.
Also im zweiten Obergeschoß!
Als er da war, blickte er sich suchend um. In dem Rauch sah alles anders aus.
Er vergegenwärtigte sich die Örtlichkeiten im ersten Obergeschoß und blickte eine Tür nach der anderen an.
Da das schmale Haus in jedem Stockwerk einen ähnlichen Grundriß besaß, hoffte er, durch genaues Überlegen Ma-Lings Schlafraum zu finden.
Jacobs Augen fixierten die Tür, die er für die richtige hielt. Sie stand offen.
Er lief in den Raum.
Vier doppelstöckige Betten standen an beiden Längswänden.
Leer.
Alle Kinder schienen mit dem Feuerwehrmann, der sie geholt hatte, das Waisenhaus verlassen zu haben.
Aber der Auswanderer wußte, daß es anders war.
Unter dem Bett versteckt!
Das hatte der kleine Junge mit den Sommersprossen gesagt: Ma-Ling hatte sich unter dem Bett versteckt.
Er ging in die Knie, legten den Kopf auf den Boden und blickte unter jedes Bett.
Nichts!
»Ma-Ling!« schrie er. »Ich bin ein Freund von Shu-hsien. Du hast mich bei ihr gesehen. Komm heraus! Ich will dich holen, bevor das Feuer kommt.«
Er blickte sich in dem Raum um.
Der Raum war eng wie fast alles in dem Haus. Nur die vier Doppelbetten, eine Anrichte für Waschutensilien und ein schmaler Schrank.
Hatte Ma-Ling den Raum auf eigene Faust verlassen?
Ein quietschendes Geräusch ließ ihn herumfahren.
Die Schranktür öffnete sich langsam.
Zwischen allerlei Kleidungsstücken kauerte Ma-Ling und blickte den großen fremden Mann furchtsam an.
Jacob konnte ihre Furcht verstehen.
Mit seinem goldenen Ring im Ohr und mit dem entblößten, von allerlei Wunden entstellten Oberkörper mußte er wirklich verwegen aussehen. Erschreckend für ein kleines verängstigtes Kind.
Ganz langsam ging er auf den Schrank zu und streckte seine Hände aus.
»Komm mit, Ma-Ling! Der Reverend, Mrs. Goldridge und Shu-hsien warten auf dich.«
Das kleine Mädchen öffnete die Lippen.
»Wo sind die bösen Männer?«
»Fort. Sie sind geflohen, aus Angst vor dem Feuer.«
Das erschien dem Chinesenmädchen einleuchtend. Langsam stieg es aus dem Schrank.
»Brav, Ma-Ling. Du bist ein liebes, tapferes Mädchen.«
Jacob ergriff den leichten Körper, nahm ihn auf den Arm und rannte aus dem Raum.
Auf dem Gang wandte er sich zur Treppe.
Aber als er sie erreichte, blieb er erschrocken stehen. Sie brannte fast über ihre gesamte Länge. Einige Teile brachen schon heraus und stürzten polternd in die Tiefe.
Das Mädchen begann zu weinen.
»Keine Angst, Ma-Ling«, sagte er und strich über das schwarze Haar. »Wir finden einen Weg!«
Hoffentlich! dachte er und rannte den Gang zurück.
An seinem anderen Ende gab es ein großes Fenster. Der einzige Ausweg, der ihm einfiel.
Kurz davor setzte er das Mädchen ab und blickte sich suchend um.
Aus dem nächsten Schlafraum holte er eine Waschschüssel aus Zinn und schlug mit ihr die Glasscheibe ein.