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Sun Cheng hatte Angst, große Angst.
Vor Louis Bremer.
Der Mann, der seinen Zopf in der Hand hielt, wirkte gefährlich.
Der Chinese wußte, daß der andere längst irgendeinen schlimmen Plan gefaßt hatte.
Aber Bremer spielte mit seinem Gefangenen, weil er es liebte, andere Menschen zu ängstigen.
So wie die Katze mit der in die Enge getriebenen Maus spielte, bevor ihre scharfen Krallen erbarmungslos zuschlugen.
Kaum hatte Sun Cheng diesen Gedanken gefaßt, da handelte Bremer auch schon.
Mit flinken Bewegungen steckte er das Ende des Zopfes zwischen die beiden schweren Holzrollen der Wäschemangel, legte eine Hand um den Griff des kupfernen Rades und ließ es eine halbe Drehung vollführen.
Die Holzrollen drehten sich und zogen das Zopfende zwischen sich.
Der plötzliche Schmerz an seiner Kopfhaut und die Kraft der beiden Holzwalzen zwangen Sun Cheng, sich zu bücken. In der grotesk verrenkten Haltung, die er jetzt einnahm, war er kleiner als Louis Bremer.
Das schien dem Anführer der weißen Männer zu gefallen. Das und die mit Angst gepaarte Hilflosigkeit des Chinesen. Die Augen in dem Rattengesicht strahlten einen eigentümlich zufriedenen Glanz aus.
Fei-yen stieß einen erschrockenen Ruf aus.
Die ältere Chinesin, die neben ihr stand, legte ihre Hände auf die Schultern des Mädchens.
Sie konnte Fei-yen dadurch nicht die Angst um ihren Großvater nehmen. Aber die Berührung der Frau wirkte zumindest ein wenig beruhigend und bewahrte Fei-yen vor einer Dummheit.
Die ältere Frau hatte, wie zuvor schon Sun Cheng, erkannt, daß die weißen Gangster die Verwandtschaft zwischen Sun Cheng und Fei-yen für ihre Zwecke ausnutzen könnten. Auf eine Weise, die für Großvater und Enkelin wenig angenehm sein würde.
Bremer beugte sein Gesicht vor, bis es dicht über dem des alten Chinesen schwebte.
»Was ist, Schlitzauge? Bist du jetzt bereit zu sprechen?«
Für Sekunden verdrängte Sun Cheng seine Angst. Ein anderer Gedanke schob sich in den Vordergrund.
Dieser häßliche kleine Mann, Louis Bremer, entsprach genau der Beschreibung, die einige Bewohner Chinatowns von dem Anführer der Männer gemacht hatten, die als Brandstifter verdächtigt wurden.
Es bestand kein Zweifel, daß das Feuer, das in der vergangenen Nacht fast einen ganzen Straßenzug am Rand von Chinatown vernichtet hatte, mit voller Absicht gelegt worden war. Die Reste von Petroleumfässern, die man am Brandherd entdeckt hatte, sprachen für sich.
Nicht nur Häuser waren vernichtet worden, auch Menschen. Fünf Chinesen verbrannten in den Flammen oder erstickten im Rauch.
Es wären weitaus mehr gewesen, hätte Wang Shu-hsien nicht von dem Plan des Hais erfahren und die Feuerwehren alarmiert. Mehrere Löschzüge waren schon unterwegs nach Chinatown, als das Feuer ausbrach. Sonst hätte der Wind, der vom Brandherd ins Chinesenviertel hineinblies, die todbringenden Flammen über den ganzen Bezirk verteilt.
Doch fünf tote Menschen waren fünf Tote zuviel! Der Brandstifter war zugleich ein fünffacher Mörder.
Mehrere Chinesen hatten einen mit Fässer beladenen Wagen nach Chinatown fahren sehen.
Petroleumfässer?
Einer der beiden Männer auf dem Bock sollte für einen Weißen sehr klein gewesen sein und das spitze Gesicht einer Ratte gehabt haben.
Louis Bremer?
Diese Gedanken beschäftigten Sun Cheng so sehr, daß er gar nicht mehr an Bremers Frage dachte.
Der kleine Mann brachte die Erinnerung auf für Sun Cheng schmerzhafte Weise zurück, indem er erneut an dem Kupferrad drehte.
Die Walzen zogen den Zopf weiter in sich hinein und zwangen den alten Chinesen, sich tiefer nach unten zu beugen.
»Kannst du in dieser Stellung besser sprechen, Schlitzauge?« grinste Bremer. »Vielleicht wird dein Kopf stärker durchblutet, und dir fällt endlich die richtige Antwort ein!«
Sun Cheng stöhnte vor Schmerz. Er hatte das Gefühl, seine Kopfhaut würde losgerissen werden.
Aber er biß die Zähne zusammen und schwieg.
*
Die drei Menschen nutzten bei ihrer Flucht durch das nächtliche Chinatown jede sich bietende Deckung und jeden Schatten aus.
Susu Wang führte die kleine Gruppe durch die kleineren Straßen und Gassen, die nicht so von Nachtschwärmen überlaufen waren wie die großen.
Das Chinesenviertel mit seinen vielfältigen Vergnügungsmöglichkeiten - Restaurants, Teestuben, Spelunken, Bordelle, Opiumhöhlen - war aber auch in diesen Gassen gut besucht.
Die Flüchtlinge konnten es nicht vermeiden, gesehen zu werden. Immer wieder fiel der matte Schein einer mit Samtpapier beschlagenen oder einer mit grellbemaltem Glas versehenen Lampe auf ihre Gesichter.
Viele der Menschen würden die Begegnung im Opiumrausch vergessen.
Für andere zählten nicht die Gesichter, sondern nur die potentielle Kundschaft.
So war es bei den Dirnen, deren weißgeschminkte Gesichter hinter kleinen vergitterten Verschlagen herausschauten und an die vorbeihastenden Männer teilweise obszöne Einladungen aussprachen.
Und auch bei den Anreißern, die vor den Vergnügungslokalen standen, und sich in überschwenglichen Anpreisungen ergingen. Dabei war ihre Sprache häufig ein seltsames Mischmasch aus schnell gesprochenem Chinesisch und breitgezogenem Amerikanisch. Aber immer waren ihre Wort laut.
Die drei Flüchtenden kamen in eine Gegend, die im Vergleich zu den vorher durchstreiften Straßen geradezu trostlos wirkte. Einige Gebäude waren nur noch verkohlte Trümmerhaufen. Andere waren teilweise abgebrannt oder hatten zumindest verkohlte Wände.
Schwerer Brandgeruch hing über allem. Ein herber Kontrast zu dem süßlichen Atem, den die Opiumhöhlen in übelkeitserregender Weise ausspien.
Die Bewohner des vom Feuer gepeinigten Straßenzugs ließen sich von dem Schock nicht lähmen. Trotz der späten Stunde arbeiteten sie im Schein von Laternen am Wiederaufbau des Zerstörten.
Vom Feuer beschädigte Wände wurden abgerissen und neue gebaut.
Aus halb eingestürzten Häusern bargen die Menschen alles, was noch irgendwie brauchbar erschien.
Unablässig wurden Trümmer auf Esels- oder Handkarren geladen und weggeschafft.
Statt des billigen Geklimpers und des heiseren falschen Gesangs, die San Franciscos Nachtmusik bildeten, bestand hier die Melodie aus Sägen, Klopfen, Hämmern und abgehackten chinesischen Kommandos.