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»Warum?« fragte Jacob. »Was stört den Hai am Chinesenviertel?«
»Die bloße Existenz Chinatowns und die Eigenwilligkeit seiner Bewohner«, antwortete die Chinesin und machte mit der ausgestreckten Hand eine Bewegung, die weit über das Chinesenviertel hinauswies. »Der Hai hat seine Finger überall drin, wo es etwas zu verdienen gibt. Vielleicht ist Hai gar nicht die treffende Bezeichnung für ihn. Man sollte ihn lieber einen Kraken nennen. Wie der Riesentintenfisch streckt er seine Arme überallhin aus und rafft alles an sich, was er bekommen kann. Egal ob in Barbary Coast oder Sidney Town, wo es auf unsaubere Weise Geld zu verdienen gibt, bringt er sich ins Geschäft. Mit Methoden, die selbst eingefleischte Betrüger und Totschläger das Fürchten lehren. Der Hai hat eine ganze Reihe von ihnen in der Bucht verschwinden lassen. Und jetzt gibt er den Ton an und ist an allen großen Vergnügungsstätten und einträglichen krummen Geschäften beteiligt.«
»Ich habe den Eindruck, Chinatown ist auch nicht gerade ein Klosterseminar«, meinte Jacob vorsichtig. »Jedenfalls nicht der Teil, den ich heute gesehen habe.«
»Das leugne ich nicht. Auch meine Landsleute wollen leben. Warum sollen nur die Weißen die dicken Geschäfte machen?«
»Hat der Hai seine Fühler auch nach Chinatown ausgestreckt?«
»Ja, Mr. Adler, mit ziemlicher Vehemenz. Er hat einigen Chinesen übel mitgespielt. Aber wir haben uns gewehrt und allen Versuchen des Hais widerstanden, sich hier einzunisten. Die Antwort darauf haben wir gestern nacht bekommen.«
Susu Wang blickte auf ein Haus, das bis auf die Grundmauern niedergebrannt war.
Ein paar Frauen unterschiedlichen Alters kauerten davor und weinten. Unverkennbar trauerten sie um einen Angehörigen, der den Feuertod gestorben war.
»Eine Warnung?« fragte Jacob.
»Nein, jedenfalls nicht für uns. Der Hai wollte tatsächlich ganz Chinatown niederbrennen. Er hätte dann die Grundstücke aufgekauft und seine eigenen Geschäfte auf ihnen errichtet. Das Ganze wäre allerdings für andere eine Warnung gewesen, sich dem Hai nicht zu widersetzen.«
Jacob spürte, wie seine Wut auf den geheimnisvollen Hai von Frisco wuchs.
Erst hatte der Auswanderer den Beherrscher von San Franciscos Unterwelt nur aus persönlichen Gründen verabscheut: weil der Hai Jacob shanghaien und Irene zusammen mit ihrem Sohn Jamie verschleppen ließ.
Aber jetzt erkannte der junge Deutsche die ganze Dimension der verbrecherischen Umtriebe. Wenn der Plan des Hais gelungen wäre, ganz Chinatown niederzubrennen, hätten Dutzende von Menschen ihr Leben verloren, vielleicht sogar Hunderte.
Ein Mann, der den persönlichen Vorteil um den Verlust so vieler Menschenleben suchte, mußte unbedingt unschädlich gemacht werden!
Aber wie?
Er wollte die Chinesin etwas fragen, aber Elihu Brown kam ihm zuvor: »Die Königin von Chinatown hat dem Hai letzte Nacht kräftig in die Suppe gespuckt, wie?«
Die junge Frau nickte ernst.
»Ich habe mich als Sängerin Susu Wang, der chinesische Engel, im Golden Crown verdingt, um mehr über den Hai herauszufinden. Zum Glück erfuhr ich von dem Brandanschlag und konnte die Feuerwehren rechtzeitig genug unterrichten, um das Schlimmste zu verhindern.«
»Immer wieder das Golden Crown«, überlegte Jacob laut. »Alles, was den Hai betrifft, scheint mit dem Vergnügungspalast in Verbindung zu stehen.«
»Kein Wunder«, erwiderte Susu Wang. »Das Golden Crown ist das Hauptquartier des Hais.«
»Was?« schnappte der Auswanderer überrascht. »Ist der Hai etwa dort zu finden?«
»Davon gehe ich aus, Mr. Adler. Aber ich erkläre es Ihnen später. Wir sind gleich da.«
Der vom Feuer vernichtete Straßenzug lag längst hinter ihnen. Er bildete die Grenze Chinatowns. Die verwinkelten Gebäude, die bunten Lampions und die großen Schilder mit den fremdartigen Schriftzeichen waren verschwunden.
Die Gegend, durch die sie jetzt gingen, war düsterer, nicht so lärmend, wiewohl es auch hier immer wieder hell erleuchtete Lokale gab.
Das Haus, vor dem Susu Wang schließlich stehenblieb, war gänzlich aus Holz erbaut und sehr schmal. Mit seinen vier Stockwerken und dem spitz zulaufenden Dach war es höher als breit. Es wirkte düster, was auch daran lag, daß nur wenig Lichter brannten.
»Hier ist es«, verkündete die Chinesin. »Das ist Reverend Humes Waisenhaus.«
»Sieht nicht gerade einladend aus«, brummte der Harpunier.
Susu Wang streifte ihn mit einem strafenden Blick.
»Die Kinder in dieser Stadt könnten froh sein, wenn es mehr Häuser dieser Art gebe - und mehr Menschen wie Auster Hume. Tausend Haie sind nicht soviel wert wie ein Reverend Hume!«
Der durchdringende Blick aus den katzenhaften Augen und die Bestimmtheit, mit der die Chinesin sprach, verfehlten nicht ihre Wirkung auf Elihu Brown.
»Verzeihen Sie, Miß Wang«, murmelte der rauhe Mann verlegen. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
»Schon gut, Mr. Brown.«
Die Frau wandte sich um, ging die vier Treppenstufen zum Eingang hinauf und betätigte den Klingelzug.
Jacob starrte sie an, verwundert und bewundernd zugleich.
Verwundert, weil eine Menge Geheimnisse die Frau umgaben. Noch immer war ihm nicht klar, weshalb sie die Königin von Chinatown genannt wurde. Weshalb ausgerechnet sie, eine junge Frau, von allen Bewohnern Chinatowns diejenige war, die dem Hai von Frisco am meisten Widerstand entgegenzusetzen schien. Und was sie mit dem von ihr so verehrten Reverend Hume verband.
Bewundernd, weil sie eine Frau war, die einem Mann gefallen konnte. Ihre selbstbewußte Art beeindruckte Jacob ebenso wie ihre exotische Schönheit. Vielleicht waren auch die Geheimnisse, die Susu Wang nicht weniger umgaben als den Hai, mit für die Faszination verantwortlich, die der chinesische Engel auf den Auswanderer ausübte.
Die Tür wurde geöffnet. Jacob hatte keine Zeit mehr für verträumte Gedanken.
Doch die vielen Fragen, die Susu Wang betrafen, bohrten weiter in ihm.
*
Sun Cheng sah die Welt aus einer verzerrten Perspektive. Schuld daran waren sein gewaltsam nach unten gezogener Kopf und die Schmerzen, die, von Kopf und Schulter ausgehend, durch seinen Körper jagten.
Der Boden unter ihm schien zu schwanken wie damals, als das letzte schwere Erdbeben San Francisco heimsuchte und viele Häuser in Chinatown zum Einsturz brachte.
Die Gestalten und Gesichter um ihn herum führten, obwohl sie doch alle auf ihren Plätzen standen, aus seiner Sicht einen verrückten Tanz auf. Die Weißen mit den schußbereiten Waffen und ihre chinesischen Gefangenen.
Seine gegen die Mißhandlung und die Schmerzen revoltierenden Sinne brachten ihn an den Rand des Zusammenbruchs. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen und sich der verlockenden Ohnmacht ergeben, die ihn stark bedrängte. Wie erlösend mußte es sein, sich einfach zu Boden fallen zu lassen und nichts mehr zu spüren!
Nein, das durfte er nicht tun! Er sagte es sich immer wieder. Zwei Gründe sprachen dagegen.
Zum einen würden ihn die Männer des Hais nicht verschonen, nur weil er das Bewußtsein verlor. Wahrscheinlich würde schon der Sturz an sich seine Schmerzen verstärken, denn die dicken Holzwalzen der Wäschemangel würden seinen Zopf nicht preisgeben.
Zum anderen mußte er sich um Fei-yen kümmern, sie beschützen. Wenn er sich der erlösenden Ohnmacht hingab, wer stand dann für sie ein, wenn es zum Äußersten kam?
Natürlich betrog Sun Cheng sich mit diesem Gedanken selbst. Hilflos, wie er zur Zeit war, konnte er gar nichts für seine Enkelin tun.
Aber das Versprechen, das der alte Mann seiner Schwiegertochter auf dem Totenbett gegeben hatte, band ihn so stark, daß es jede Vernunft verdrängte.
Er wollte seinen Blick auf Fei-yen richten, damit ihr Anblick ihm Halt und Stärke gab.