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Die Absicht der beiden Gangster war klar: Sie wollten den Männern, die das Hotel erstürmten, eine Verfolgung erschweren.
Jacob riß die beiden erbeuteten Revolver hoch, um auf die Gangster zu schießen.
Aber alles ging zu schnell.
In dem Durcheinander bestand außerdem die Gefahr, daß er Shu-hsien traf.
Dann war der Spuk auch schon vorüber. Reiter und reiterlose Pferde waren hinter dem Regenschleier verschwunden.
Unschlüssig blickte Jacob zur Straße und dann wieder auf den toten Freund. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, sofort die Verfolgung der Gangster aufzunehmen, und dem Gefühl, den Toten jetzt nicht verlassen zu dürfen. Nicht in der trostlosen Einsamkeit des Hinterhofes.
Stimmen durchbrachen das Rauschen des Regens und damit die Einsamkeit.
Der große Mann aus Deutschland, der neben dem toten Freund im Schlamm kniete, schaute auf.
Fünf oder sechs Männer traten auf den Vorbau, wo Petrov und Frenchy lagen. Unter den Männern befanden sich Reverend Hume und Lieutenant Wannaker.
Als der Offizier Jacob erkannte, rief Wannaker: »Wir haben die Gangster überwältigt. Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Adler?«
»Nein«, erwiderte Jacob traurig. »Eli ist tot.«
*
Henry Black lief wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Golden Crown.
Jetzt, wo das riesige Haus fast menschenleer war, wirkte es unheimlich auf seinen ehemaligen Besitzer. Zum Teil lag das sicher an den vielen Spiegeln, in denen er sich immer wieder selbst sah und aus denen ihn doch - so sein nicht näher bestimmbares Gefühl - fremde Augen anzublicken schienen. Aber wenn er näher hinsah, war da nichts außer seinem Abbild: der wuchtige Geschäftsmann mit der verbundenen Linken.
Nur widerwillig dachte er an die Szene im Büro des Hais. Als er danach in sein eigenes Büro zurückkehrte, hatte er den Aschenbecher wütend gegen den großen Spiegel an der Wand geschleudert. Aschenbecher und Spiegel zersprangen in tausend kleine Splitter.
Kurzzeitig fühlte sich Black danach besser. Doch die Übelkeit schlug wieder zu, stärker als zuvor. Ein unwiderstehlicher Brechreiz übermannte ihn. Er lief in den kleinen Waschraum, beugte sich über die Wasserschüssel und gab dem Gefühl nach.
Auch hier gab es einen großen Spiegel. Als Black sich erleichtert hatte, dachte er daran, ihn ebenfalls zu zerschlagen. Er hatte die zur Faust geballte Rechte schon erhoben, aber er ließ sie unverrichteter Dinge wieder sinken.
Es hatte keinen Sinn. Die Schuld traf nicht die Spiegel, die ihm seine verstümmelte Hand zeigten und ihn an seine Schmach erinnerten.
Die Schuld traf den Mann, der ihm die Schmach zugefügt hatte - den Hai!
Aus einem sauberen Handtuch fertigte er einen festen Verband für die linke Hand an.
Dann verließ er das Büro und trommelte alle Männer aus der Bande des Hais zusammen, die er im Golden Crown auftreiben konnte.
Die meisten fand er im Saloon und im Spielsalon. Sie machten sich die Abwesenheit von Gästen zunutze, um sich zu vergnügen.
Er ermahnte sie zur Wachsamkeit und postierte sie an allen neuralgischen Punkten.
Ein paar Männer schickte er hinaus, um Verstärkung heranzuholen. In dieser aufgeregten Nacht brachte es nicht viel, den üblichen Geschäften nachzugehen, die von Zuhälterei über Betrug bis zu Erpressung, Raub und Mord reichten. Jetzt war es wichtiger, wenn die Männer das Hauptquartier des Hais bewachten.
Der Regen, der ganz San Francisco aufatmen ließ, führte bei Henry Black zu neuen Sorgen.
Wenn die Menschen nicht mehr damit beschäftigt waren, das Feuer zu bekämpfen, würden sie sich irgendwann damit beschäftigen, die Urheber des verheerenden Brandes zu finden.
Black dachte daran, dem Hai seine Befürchtungen mitzuteilen. Aber er ging nicht die Treppe hinauf zur >Krone<, wie er das oberste Stockwerk nannte, das äußerlich tatsächlich die Form eine Krone hatte.
Der Hai hatte diese Überlegung vermutlich selbst angestellt.
Außerdem verspürte Black nicht die geringste Neigung, dem unheimlichen Mann und seinem dunkelhäutigen Vollstrecker schon wieder gegenüberzustehen. Er wollte seine Finger gern behalten - mit sämtlichen Gliedern.
Also durchstreifte Black weiterhin den Vergnügungspalast am Portsmouth Square wie ein rastloser Wanderer, kontrollierte die Posten und wartete.
Er wartete darauf, daß die ersehnte Verstärkung eintraf.
Daß Louis Bremer endlich mit Jacob Adler und der Chinesin zurückkehrte.
Und - mit einigem Unbehagen - auf das Schreckliche, das geschehen würde, wenn herauskam, wer das Feuer in Chinatown gelegt hatte.
Er durchstreifte den rückwärtigen Teil des Gebäudes, als er Hufgetrappel und Stimmen hörte. Sofort rannte er nach draußen auf den großen Hinterhof.
Die hier aufgestellten Wachtposten umstanden drei Menschen, die gerade von den Pferden gestiegen waren: Louis Bremer, dieser neue Mann namens Cyrus Stanford und Susu Wang alias Wang Shu-hsien.
Die Erleichterung über Bremers Rückkehr verflog schnell, als Black feststellte, daß ihnen keine weiteren Reiter folgten.
»Wo sind deine restlichen Leute, Louis?« fragte Black. »Und warum hast du diesen Jacob Adler nicht mitgebracht?«
Bremer streifte mit einem kurzen Blick die verwundete Hand des massigen Mannes und antwortete: »Wir sind in eine Falle der Armee geraten. Stanford und ich konnten als einzige entkommen. Die Chinesin haben wir erwischt, aber um diesen Auswanderer konnten wir uns beim besten Willen nicht kümmern.«
»Aber das war dein verfluchter Auftrag!« bellte der ehemalige Hufschmied. »Der Hai will die Chinesin und Adler haben!«
Bremer zuckte nur mit den Schultern.
»Sind deine anderen Männer erschossen worden?« fragte Black weiter.
»Erschossen oder gefangen«, nickte der kleine Mann mit dem Nagetiergesicht.
»Gefangen?« rief Black. »Was ist, wenn sie reden?«
»Ja, was ist dann?« erwiderte Bremer.
»Dann kommt vielleicht sehr schnell heraus, wer die halbe Stadt niedergebrannt hat. Wenn die Armee ihre Finger im Spiel hat, könnte es passieren, daß das Golden Crown bald schon von Truppen umstellt ist!«
Bremer rieb über sein spitzes Kinn und murmelte: »Verflucht, ja, du hast recht, Henry. Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden!«
»Ganz meine Meinung«, nickte Black und warf einen skeptischen Blick hinauf zum kronenförmigen Dach des Vergnügungspalastes. »Allerdings weiß ich nicht, ob der Hai sie teilt.«
»Darauf warte ich lieber nicht«, sagte Bremer und griff nach den Zügeln seines Pferdes. »Ich verschwinde lieber, solange noch Zeit dazu ist.«
Er schwang sich in den Sattel.