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Die Chinesin kam nicht umhin, den Mann als gutaussehend und anziehend zu beschreiben. Er war in den Dreißigern, etwas mehr als mittelgroß und schlank. Unter dem dunklen Haar, leicht gewellt und sorgfältig gescheitelt, lag ein herbes, männliches Gesicht. Ein Gesicht, wie Frauen es liebten. Das leicht eingekerbte Kinn unterstrich die Attraktivität des Mannes noch. Er übte bestimmt auf viele Frauen eine große Wirkung aus.
Doch Shu-hsien war sich ziemlich sicher, daß er das wußte und berechnend einsetzte. Denn was dem Mann fehlte, war Wärme. Die Wärme und Zärtlichkeit, die sie in Jacobs Armen gespürt hatte. Dieser Mann würde sie nie verströmen können.
Sein gutes Aussehen hatte etwas statuenhaftes, wirkte völlig kalt, leblos. Die Züge konnten sich rasch verhärten, und aus dem scheinbaren Engel wurde ein Teufel, ein Dämon.
Ein Dämon, der seine Gefangene grausam mißhandeln ließ und der es sogar mit Genuß betrachtete, wie Shu-hsien an dem Glitzern in seinen Augen zu erkennen glaubte.
Sie schwieg auf jede seiner Fragen. Und so folgte jeder Frage ein Schlag mit der Peitsche, von Cyrus Stanford mit ähnlichem Genuß ausgeführt, wie er in den Augen des Hais lag.
Das Kleid und das Unterkleid, beides hatte die Chinesin in Don Felipes Hotel erhalten, hing in Fetzen an ihrem Körper.
Rücken, Brust und Oberschenkel waren mit blutigen Striemen übersät.
Shu-hsien konnte sich nicht wehren. Jede Hand war in eine der Lederschlaufen gebunden, die überall in dem großen Raum von der Decke hingen. Hilflos hing sie an diesen Schlaufen, eine Beute für den Hai.
Von den beiden anderen Männern hatte sie keine Hilfe zu erwarten.
Von Henry Black sicher nicht. Sie hatte ihn verschmäht, und er hatte sie vergewaltigen wollen. Jetzt fand er Befriedigung in der grausamen Prozedur und sah ihr mit einem ähnlichen Glitzern in den Augen zu wie der Hai.
Buster blickte so ausdruckslos wie fast immer. Als Black in ihrer Garderobe über Shu-hsien hergefallen war, hatte der hünenhafte Neger ihr geholfen. Aber wohl kaum aus Zuneigung, sondern auf Befehl des Hais. Und weil er dem Hai bedingungslos gehorchte, würde es jetzt nicht mal den kleinen Finger rühren, um der mißhandelten Frau beizustehen.
Immer wieder stellte der Hai Fragen. Immer wieder fraß sich die Lederschnur der Peitsche in die Haut der Chinesin.
Shu-hsien hätte versuchen können, Lügen zu erzählen oder den Peitschenhieben durch Belanglosigkeiten zu entgehen. Aber sie wollte dem Mann, der so viel Unheil über ihre Landsleute und andere Menschen gebracht hatte, nichts verraten. Auch keine Kleinigkeit. Auch nicht durch eine Unaufmerksamkeit. Deshalb schwieg sie eisern und ertrug die Schmerzen.
Der Gedanke an das niedergebrannte Chinatown und an die Toten half ihr dabei.
Der Gedanke an Sun Cheng, den alten Wäschereibesitzer, der ein zweiter Vater für sie geworden war.
Der Gedanke an Don Felipe, der ihr Unterschlupf gewährt hatte und dafür sterben mußte.
Und der Gedanke an ihren eigenen Vater, der nicht vom Hai, aber auch durch die Hände übelwollender Weißer gestorben war.
Die Weißen haßten die Chinesen, die unter sich blieben und fleißig waren, Zwischen ihnen schien es so wenig Gemeinsamkeiten zu geben.
Auf einmal war es ihr unverständlich, daß sie in dieser Nacht mit einem Weißen das Bett geteilt hatte.
*
Jacob hielt sich immer dicht beim Lattenzaun und bei den Gebäuden. Er wollte mit ihren Schatten verschmelzen, um nicht von den Wachtposten des Hais gesehen zu werden.
Er war sich jetzt ziemlich sicher, daß es Wachen auf dem Hof gab.
Er hatte durch das Rauschen des Regens die Stimmen zweier Männer gehört, die sich unterhielten.
Und er sah hin und wieder einen kleinen glühenden Punkt durchs Dunkel leuchten. Wie ein letzter vom großen Feuer übriggebliebener Funke. Wahrscheinlich war es eine Zigarre oder eine Zigarette.
Der glühende Punkt befand sich am anderen Ende des Hofes, an der Rückfront des großen Rundbaus, aus dem das Golden Crown bestand. Wahrscheinlich standen die Wachtposten unter einem Vorbau, um sich nicht dem unablässigen Regen auszuliefern. Jacob hätte es an ihrer Stelle ebenso gemacht.
Vor ihm tauchten mehrere Baracken auf. Es waren seiner Einschätzung nach die Bauten, die am weitesten vom runden Hauptgebäude entfernt waren.
Wenn er sich nicht täuschte und wenn Shu-hsiens Bericht stimmte, mußten irgendwo hier die chinesischen Arbeiter des Golden Crown wohnen. Li Fu und die anderen, die Jacob und Elihu aus dem Schuppen befreit hatten, dessen Umrisse der Auswanderer jetzt nur schemenhaft sah.
Aus den Augenwinkel nahm Jacob plötzlich eine Bewegung wahr. Er wirbelte herum. Doch er hatte nicht an seinen verstauchten Fuß gedacht. Der Schmerz! Sein Bein wollte einknicken. Für ein, zwei Sekunden mußte er mit sich kämpfen, um das Gleichgewicht zu halten.
Sekunden, die dem Schatten reichten, um den Deutschen anzuspringen. Der Schatten riß den Auswanderer zu Boden.
Etwas drückte auf Jacobs Mund, hinderte ihn am Sprechen und am Atmen - eine Hand.
Eine andere Hand drückte eine scharfe Klinge gegen seine Kehle.
Jacob lag auf dem Rücken und sah das Gesicht des Mannes, der ihn angefallen hatte. Ein chinesisches Gesicht, gezeichnet von zwei fingerlangen Narben auf der linken Wange, die vor der Nase pfeilförmig zusammenliefen.
»Li Fu!«
Jacobs Worte waren wegen der Hand, die sich fest auf seinen Mund preßte, nicht mehr als ein Grummeln.
Der Chinese mußte es trotzdem verstanden haben. Oder, was wahrscheinlicher war, er erkannte den unter ihm liegenden Mann.
»Beim ersten lauten Ton schneide ich dir die Gurgel durch«, lautete die wenig ermutigende Begrüßung seitens des Asiaten, bevor er die Hand von Jacobs Mund nahm.
Die scharfe Klinge drückte mit unveränderter Stärke gegen die Kehle des Auswanderers. Eine geringfügige Erhöhung des Drucks würde reichen, um aus der eben ausgesprochenen Drohung Realität werden zu lassen.
Jacob öffnete die Lippen zu einer Frage, wagte aber nicht, sie auszusprechen. Er wollte nur flüstern. Aber was war, wenn der Chinese das schon als lauten Ton einstufte?
»Was tust du hier?« fragte statt dessen Li Fu.
»Ich habe dich gesucht«, antwortete der Deutsche so leise wie möglich.
»Mich?« Li Fu wirkte erstaunt. »Warum?«
»Weil ich deine Hilfe und, wenn möglich, die deiner Landsleute benötige, um Shu-hsien zu befreien. Der Hai hat sie gefangen.«
Li Fu nickte.
»Ich weiß.« Die schmalen Augen blickten den Auswanderer vorwurfsvoll an. »Sie war doch in deiner Begleitung. Warum hast du die Königin von Chinatown nicht beschützt?«
»Ich habe es versucht.« Jacob schilderte in knappen Worten, was sich ereignet hatte, und schloß: »Mein Freund Eli ist tot. Draußen warten die Soldaten, bereit zum Sturm auf das Golden Crown. Aber wenn sie erst einmal angreifen, fürchte ich um das Leben von Shu-hsien. Und um das Leben von Irene und Jamie.«
Der Druck an seiner Kehle ließ ebenso nach wie der, den der auf ihm hockende Chinese durch sein Gewicht ausübte. Mit katzenartiger Gewandtheit kam Li Fu auf die Füße und sagte: »Steh auf und folge mir!«
Mit unbewegter Miene betrachtete der Chinese Jacobs schmerzverzerrtes Gesicht, als der Deutsche den rechten Fuß belastete. Li Fu bot ihm keine Hilfe an.
Jacob folgte dem Chinesen in eine dunkle Hütte. Durch die kleinen Fenster fiel nur ein Hauch von Licht herein.
Trotzdem wußte Jacob sofort, daß er und Li Fu nicht die einzigen Menschen in der Baracke waren. Seine durch viele Abenteuer und Gefahren geschärften Sinne spürten die Anwesenheit der anderen.