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»Da ist nichts mehr zu machen, Louis. Von dem Waisenhaus gibt's nur noch ein Häufchen Asche, wenn überhaupt. Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden, bevor es zu spät ist.«
Bei den letzten Worten warf er einen skeptischen Blick in die Runde. Der Blick galt dem Feuer, das sich rasend schnell ausbreitete.
Schon hatte es den eben noch unangetasteten Häuserblock erfaßt und fraß sich knisternd und knackend durch das Holz, aus dem die meisten Gebäude erbaut waren. Aber auch die Steinhäuser boten ihnen keinen Widerstand. Balken und Verkleidungen aus Holz waren der gefräßigen Glut willkommene Nahrung.
Charley Wagners Befürchtung wurden von den anderen Männern geteilt. Wenn sie nicht schnell machten, daß sie wegkamen, würde das Feuer sie einschließen.
Zu ihrer Verwunderung reagierte Bremer nicht auf die Bemerkung des Vollbärtigen. Unbeweglich wie ein Reiterdenkmal saß er kerzengerade auf dem Rücken seines Fuchses und starrte mit verklärtem Blick ins Feuer. Als könne er die dichte Wand aus Flammen und Rauch durchdringen. Als gäbe es dort etwas zu entdecken.
In Wahrheit aber war Bremer von dem ihn faszinierenden Gedanken besessen, daß er der Urheber dieses alles vernichtenden Infernos war.
Vor vielen Jahren, als er noch in Bremen lebte und der unbedeutende Schustergeselle Ludwig Großmann war, der unter dem Spott und der Mißgunst seiner Mitmenschen litt, hatte er sich geschworen, daß irgendwann er derjenige sein würde, der die anderen verspottete. Mehr noch, den sie fürchten würden. Mit der eingeschlagenen Laufbahn des Verbrechers und Mörders hatte er dieses Ziel konsequent verfolgt.
Aber das Feuer war noch viel mehr. Plötzlich störte es ihn gar nicht mehr, daß es längst über Chinatown hinausgewachsen war, daß es durch die Brandstiftung Zerstörungen in einem solch gigantischen Ausmaß hervorrief, wie er nie zu träumen gewagt hätte.
Gerade die ungehinderte Ausbreitung der Zerstörung war für seinen verqueren Geist die Bestätigung seiner Macht über die anderen Menschen. Die gesamte Bevölkerung von San Francisco, siebzig- oder achtzigtausend Menschen, zitterte vor seinem Werk.
Vor ihm, dem Schustergesellen Ludwig Großmann alias Louis Bremer!
Als Kind hatte er in der Schule die Geschichte des römischen Caesars Nero gehört, der angeblich Rom anzündete, um die Stadt brennen zu sehen und darauf eine Ode zu dichten. Bremer konnte Nero nachfühlen, wie er sich gefühlt hatte. Oder andersherum: Nero hatte sich damals sicher nicht mächtiger gefühlt als Louis Bremer in diesen Augenblicken.
Eine Hand, die sich schwer auf seine Schulter legte und ihn kräftig durchschüttelte, riß ihn aus seinen abartigen Schwelgereien.
»Louis, verdammt, wir müssen hier weg!« schrie ihm Wagner ins Ohr und kam doch kaum gegen die Lautstärke des prasselnden Feuers an. »Was hast du bloß?«
»Nichts!« blaffte Bremer den anderen an.
Natürlich hatte Wagner recht: Ein längeres Verweilen würde den Tod bedeuten. Die Pferde waren schon so unruhig, daß sie unablässig schnaubten, wieherten und hin und her tänzelten.
Trotzdem verspürte Bremer Unwillen darüber, daß Wagner ihn aus seinem Caesarentraum aufgeschreckt hatte.
Der kleine Mann mit der großen Melone riß den Fuchs herum, gab seinen Männern ein Handzeichen und brüllte: »Zurück!«
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen und sprengten in wilder Jagd davon, fort von dem Feuer, das allen Männern außer Bremer nichts anderes verhieß als einen häßlichen Tod.
Zwei Querstraßen weiter stießen sie auf eine kleine Gruppe spanisch sprechender Menschen, die ihre Habe auf einen von zwei Maultieren gezogenen Planwagen und auf einen grobgezimmerten Ochsenkarren verluden. Vermutlich waren sie die letzten, die diesen Straßenzug räumten.
Bremer ließ seine Gruppe anhalten und ritt auf die aufgeregten Menschen zu.
Es waren unverkennbar Mexikaner oder zumindest Kalifornier spanischer Abstammung. Ihre Sprache, ihre dunkle Haut und ihre bunte Kleidung mit den großen Kopftüchern, den breiten Schärpen und den hochkronigen Hüten verrieten das.
Bremer tippte grüßend an seine Melone, setzte ein möglichst freundliches Lächeln auf und fragte: »Amigos, könnt ihr uns eine Auskunft geben?«
Eine rundliche ältere Frau, die gerade ein goldumrahmtes Gemälde in den Planwagen geschoben hatte, blieb stehen. Dunkle Augen in einem aufgedunsenen Gesicht musterten den Reiter skeptisch.
»Was wollen Sie denn wissen, Senor? Wir haben es sehr eilig!«
Sie sprach englisch, aber mit unverkennbar spanischem Akzent.
»Wir suchen das Waisenhaus, Senorita.«
Die Matrone lächelte ein wenig verschämt.
»Ich bin schon lange keine Senorita mehr, sondern eine Senora.«
»Verzeihen Sie, das konnte ich nicht wissen«, versuchte Bremer sich bei ihr einzuschmeicheln.
»Das Waisenhaus ist abgebrannt«, teilte die Frau mit.
»Das haben wir gesehen. Ich bin ein Freund von Reverend Hume und wollte ihm mit meinen Gefährten helfen, die Kinder in Sicherheit zu bringen.«
»Gott segne Sie für Ihr gutes Herz, Senor. In diesen schrecklichen Stunden denken die meisten Menschen leider nur an sich selbst. Aber die Kinder hatten Glück. Die Feuerwehr kam rechtzeitig, und alle wurden gerettet, bevor das Feuer sie im Schlaf überraschen konnte.«
»Wissen Sie, wohin sich der Reverend mit seinen Kindern gewandt hat, Senora? Vielleicht können meine Kameraden und ich doch noch etwas für ihn tun.«
»Ihr Ziel kenne ich leider nicht. Aber sie sind vor dem Feuer die Tampico Avenue hinaufgezogen. Das ist das letzte, was ich von ihnen gesehen habe.«
»Die Straße, die zum Armeemagazin führt«, murmelte Bremer, mehr zu sich selbst.
»Si, Senor«, bestätigte die olivenhäutige Frau.
Bremer bedankte sich mit einer letzten Höflichkeitsaufwallung bei ihr und trieb den Fuchs an.
Seine Männer folgten ihm.
Die Jagdgesellschaft hatte die Witterung aufgenommen.
*
Jacob trug eine langstielige Axt in beiden Händen, als er an der Spitze des Rettungstrupps auf das würfelförmige Lagerhaus zulief. Jetzt, wo es teilweise zusammengestürzt war, hatte es allerdings nur noch entfernte Ähnlichkeit mit einem Würfel.
Es war ein großer Rettungstrupp, der nur aus Freiwilligen bestand. Das galt auch für die Soldaten, die ihm angehörten. Angesichts des Umstandes, daß das Magazin jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte, hatte der blutjunge Lieutenant niemandem seiner Leute den Einsatz befehlen mögen.
Allerdings war auch niemand am Ort, der gezögert hatte, sich freiwillig zu melden. Jeder wußte, daß es nur eine Laune des Schicksals war, die ihn davor bewahrt hatte, ebenfalls in dem brennenden Lagerhaus eingeschlossen zu sein.
»Eine verfluchte Nacht«, sagte der neben Jacob laufende Lieutenant und warf einen sehnsüchtigen Blick nach oben. »In den letzten Stunden hat es sich so stark bewölkt wie schon seit Monaten nicht mehr. Aber der verfluchte Regen will einfach nicht kommen. Nur er könnte die Stadt noch vor der Vernichtung bewahren.«
Auch Jacob hatte die großen dunklen Wolken längst bemerkt. Sie verdeckten das Licht der Gestirne und hätten den Nachthimmel völlig verdüstert, hätte nicht das Feuer seinen todbringenden Schein überallhin geworfen.
»Auf den Regen können wir nicht warten«, sagte Jacob knapp.
Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Außerdem wollte er seinen Atem und seine Kraft sparen. Beides würde er jetzt brauchen.
Er erreichte das Lagerhaus als erster und stellte einmal mehr befriedigt fest, daß die wackeren Männer von Social Three ihren Job gut verstanden. Sie hatten mit ihrem dicken Wasserstrahl eine Schneise ins Feuer geschlagen, so daß der Rettungstrupp sich ans Wegräumen der Trümmer machen konnte, ohne von den Flammen belästigt zu werden.
Jetzt gab der Captain durch sein vergoldetes Megaphon die Anweisung, den Strahl weiter nach hinten zu verlagern und das ganze Lagerhaus mit ihm zu bestreichen.