158478.fb2 Sturmfahrt nach Amerika - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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»Ich habe mich schon über Haskin gewundert. Man sieht ihn kaum an Bord. Die meiste Arbeit wird von diesem Maxwell erledigt, der anscheinend tun und lassen kann, was er will. Als wäre er der wahre Kapitän der ALBANY.«

»Damit liegst du gar nicht so falsch. Irgendwann, so hofft Maxwell zumindest, wird er sogar mal offiziell der Herr des Schiffes sein.«

»Wie kommt er darauf?«

»Haskins Alter läßt ihn das hoffen. Wenn der Käpten stirbt, erbt er den Kahn. Er ist nämlich Haskins Schwiegersohn.«

Der letzte Satz schlug bei Martin ein wie eine Kartätsche.

Jetzt wurde ihm klar, weshalb sich der Erste Steuermann so viel herausnehmen und darauf rechnen konnte, vom Kapitän gedeckt zu werden. Kein Wunder, daß Haskin bei der Gerichtsverhandlung alle Anschuldigungen gegen Maxwell beiseitegewischt hatte. Er hatte sie ganz einfach nicht hören wollen. Martin erkannte, daß sein unten im Schiff gefangener Freund von Anfang an verurteilt gewesen war.

»Dann war das Schiffsgericht also nichts als ein Schauspiel«, sagte er bitter.

»So kann man es nennen.«

»Und Sie machen bei so etwas mit, Piet?«

Der alte Seebär zuckte mit den Schultern. »Ich bin der Zweite Steuermann dieses Kahns. Es ist meine Pflicht, am Richtertisch zu sitzen. Außerdem habe ich mich bei der Urteilsfindung bemüht, das Beste für euch drei herauszuschlagen, das kannst du mir glauben. Maxwell hätte euch am liebsten alles Hab und Gut abgenommen und euch ins Meer geworfen. Leider konnte ich nur bei dir eine Strafminderung herausschlagen.«

»Was hatte das Narbengesicht denn mit mir vor?«

»Er wollte dich an den Mast binden und dir dreißig Hiebe mit der neunschwänzigen Katze aufbrummen, eigenhändig.«

»Keine angenehme Vorstellung«, murmelte Martin und bedankte sich dann bei Hansen für seinen Einsatz. »Aber wie kommt es, daß Kapitän Haskin die Dinge einfach so laufenläßt?«

»Als die ARLETTE unterging, hat er jegliche Lebensfreude verloren. Er ist wohl nur noch auf der Welt, weil der Sensenmann sich noch nicht dazu herabgelassen hat, ihn zu sich zu holen.«

»Die ARLETTE war ein Schiff?«

»Ja, ein prächtiges Dampfschiff, erzählt man sich wenigstens. Ich kenne die Geschichte nur aus Erzählungen. Josiah Haskin hatte sich in eine bildschöne Miss aus New

Orleans verliebt, deren Vater ein reicher Kaufmann französischer Abstammung war. Gegen den Widerstand der Eltern heiratete der ehrgeizige Seemann die schöne Arlette und kaufte mit ihrer Mitgift sein erstes eigenes Schiff, das er nach seiner Frau benannte. Zwar gilt es unter uns abergläubischen Seeleuten als unglücksbringend, ein Schiff umzutaufen, aber das störte ihn nicht. Genausowenig wie der Glaube, daß es einem Schiff Unglück bringt, wenn ständig eine Frau an Bord ist. Josiah Haskin war nicht nur ehrgeizig, sondern auch sehr verliebt. Er richtete seiner jungen Frau einen prächtigen Salon auf dem Dampfer ein, und sie machte jede Fahrt mit. Selbst als sie schwanger war und Haskin Zwillinge, einen Sohn und eine Tochter, gebar. Haskin hielt sich für den glücklichsten Mann auf allen Ozeanen, als das Unglück eines Nachts irgendwo im Golf von Mexiko über die ARLETTE hereinbrach. Der Kessel explodierte und verwandelte das Schiff innerhalb von Sekunden in eine Flammenhölle. Nur wenige Menschen überlebten, darunter Josiah Haskin und seine Tochter. Aber seine Frau und seinen Sohn behielt das gierige Meer für immer bei sich. Haskin gab seine Tochter in Pflege und heuerte wieder unter der Flagge eines anderen Reeders an, um das nötige Geld für ihre Ausbildung zu verdienen. Daß sich einmal ein liebender Mann ihrer annehmen könnte, hoffte er nicht, denn bei der Explosion war ihr ganzes Gesicht verbrannt worden; sie ist für ihr Lebtag entstellt. Haskin war immer noch ehrgeizig und brachte es nach einigen Jahren erneut zu einem eigenen Schiff, wenn es auch nur dieser alte Segler hier war. Aber das störte ihn nicht, hatte er sich doch nach dem Untergang der ARLETTE geschworen, nie wieder auf einem Dampfer zu fahren. Maxwell heuerte auf der ALBANY an, lernte eines Tages Haskins Tochter kennen und hielt recht bald um ihre Hand an. Wohl kaum aus Liebe, nur aus Berechnung. Der Käpten wird das gewußt haben, aber trotzdem froh gewesen sein, seine Tochter versorgt zu wissen. Maxwell hat nach wie vor in jedem Hafen mindestens eine Braut. Aber irgend etwas muß in Haskin nagen und ihm beständig sagen, daß sein Handeln nicht richtig war, daß er seine Tochter nicht glücklich gemacht hat. Denn seit der Hochzeit zieht er sich immer mehr in sich zurück, hockt meistens nur noch in seiner Kabine und ertränkt seinen Kummer in dem guten KentuckyWhiskey, den sich unsereiner nicht leisten kann. Außerdem hat er sich damals beim Untergang der ARLETTE die Schwindsucht geholt, als er mit seiner Tochter im Arm zur Küste schwamm. Der Husten wird immer schlimmer, aber er weigert sich, seinen Beruf aufzugeben und in ein Gebiet mit trockenem Klima zu ziehen. Ja, Junge, das ist die Geschichte von diesem verfluchten Kahn.«

Martin schwieg eine ganze Weile, während der er das Gehörte verarbeitete. Die ALBANY schwankte immer stärker hin und her. Einmal wäre er fast ausgerutscht und gestürzt, hätte der Seebär nicht rasch eine Hand nach ihm ausgestreckt und ihn festgehalten.

»Weshalb segeln Sie unter Haskin und Maxwell, Piet, wenn das so unangenehme Zeitgenossen sind?«

»Ich bin ein alter Seemann. Wo soll ich denn hin?«

»Sie könnten selbst Kapitän eines Schiff es sein.«

»Leider nicht, Junge. Es gibt gewisse Gründe, die das verhindern. Ähnliche Gründe wie die, die deinen Freund veranlaßt haben, sich als blinder Passagier an Bord zu schleichen. Ich konnte es ihm gut nachfühlen und habe vielleicht deshalb nichts verraten. Jedenfalls würde ich kein Kapitänspatent erhalten, zumal Piet Hansen nicht mein richtiger Name ist. Auf einem anderen Schiff, wo man ordentlich auf die Papiere schaut, könnte ich vielleicht nicht mal als Steuermann fahren. Deshalb bin ich hier auf der ALBANY, wo sich alle zusammenfinden, die vom Leben verdammt sind.«

Seine letzten Worte hörten sich so bitter an, daß es Martin für besser hielt, das Thema zu wechseln. »Wie geht es mit Jacob weiter, Piet? Wird Haskin wirklich einen Hafen anlaufen und ihn den Behörden übergeben?«

»Kann sein, kann auch nicht sein«, meinte der Steuermann und wiegte seinen Kopf überlegend hin und her. »Haskin und Maxwell versprechen sich wohl eine Prämie. Andererseits können sie nicht sicher damit rechnen. Einen Hafen anzusteuern kostet Zeit und Geld, denn je länger die Reise dauert, um so mehr muß für die Verpflegung der Passagiere ausgegeben werden. Vielleicht überlegt es sich der Alte noch. Aber das ist für deinen Freund nicht unbedingt ein Glücksfall, wenn er da unten in der dunklen, feuchten Höhle verrotten muß. Es sind noch viele Wochen nach New York. Das hält kaum ein Mensch aus.«

»Aber er wird dort unten doch verpflegt, oder?«

»Dafür sorge ich schon, daß er regelmäßig seine Mahlzeiten kriegt. Aber wahrscheinlich hat er es da unten recht bald auf der Lunge. Oder die Ratten verpassen ihm eine hübsche Krankheit. Wenn man in Ketten liegt, gibt es viele Möglichkeiten zu krepieren, und oft sind sie einem sogar willkommen.«

Martin starrte hinauf aufs tobende Meer und dachte an die hundert Taler Belohnung, die auf Jacobs Kopf ausgesetzt waren. Sollte er zum Kapitän gehen und ihm das verraten, damit er Jacob auch bestimmt bald an Land brachte? Er kam sich bei diesem Gedanken als Verräter an seinem Freund vor. Aber wenn er es nicht tat, wurde er dann nicht zu seinem Mörder?

*

Stundenlang saß Jacob still da und lauschte in die Dunkelheit, um zu hören, ob die Ratten zurückkamen. Er wollte nicht wieder von ihnen überrascht werden. In seinem Kopf verfestigte sich der Gedanke, sie könnten ihn im Schlaf überfallen und bei lebendigem Leib auffressen. Deshalb reagierte er auf jedes Geräusch, auch wenn es sich nur als Ächzen der Planken oder als lauter Stiefeltritt auf dem Zwischendeck herausstellte.

Er konnte nicht immer wachsam sein. Die öde Warterei ermüdete ihn und schläferte ihn schließlich ein.

Geräusche schreckten ihn aus dem Schlaf. Laute Geräusche, ganz nah.

Die Ratten?

Jacob sprang auf, drückte seinen Rücken gegen die Wand und verhielt sich völlig still, auf das Huschen der gefräßigen Nager lauschend.

Aber sie waren es diesmal nicht, die ihn besuchten. Die Geräusche waren Schritte, die sich von draußen näherten. Die Tür des Schiffsgefängnisses wurde geöffnet. Jacob schloß die Augen, als Laternenlicht hereinfiel.

»Dein Abendessen«, sagte eine Stimme in schlechtem Deutsch, und etwas wurde auf den Boden gestellt.

Dann wurde die Tür auch schon wieder zugeschlagen, und die Finsternis hatte den Gefangenen wieder. Er wartete, bis sich die Schritte entfernt hatten, bevor er in die Knie ging und nach seinem Abendessen tastete.

Es war eine Schale mit Linsensuppe, in der ein Brotkanten schwamm. Jacob konnte nicht sehen, ob das Brot schimmelte, wie es auf dem feuchten Schiff häufig der Fall war. Aber es war ihm auch egal. Er hatte Hunger und stopfte die Mahlzeit schnell in sich hinein.

Das Essen vermittelte ihm zusätzlich das Gefühl von Wärme in dem kalten Schiffsbauch. Er genoß das angenehme Gefühl, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Bald schlief er wieder.

Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er von dem heftigen Schlingern der ALBANY geweckt wurde. Das Schiff schien auf den Wellen herumzuhüpfen wie ein außer Rand und Band geratener Klabautermann. Jacob wurde in seinem Gefängnis hin und her geworfen.

Das laute Krachen, das er hörte, mußte von den Brechern stammen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen. Und von den Frachtstücken, die sich im Laderaum selbständig gemacht hatten und, den Bewegungen der Bark folgend, gegen die Wände polterten. Auch oben im Zwischendeck schien einiges los zu sein, denn er hörte mehrmals aufgeregtes Geschrei, das aber wegen des allgemeinen Lärms zu undeutlich war, um es zu verstehen.

So ging es fort, Stunde um Stunde, und der von der Außenwelt abgeschnittene Gefangene fragte sich, ob die

ALBANY geradewegs in die Hölle segelte.

*

Irgendwann kehrte Ruhe ein, und irgendwann fand Jacob auch wieder Schlaf.

Erneut weckten ihn Geräusche, Schritte, die sich von draußen näherten. Er rechnete damit, daß man ihm sein Frühstück brachte, und war überrascht, als ihn die Männer, die er im blendenden Laternenlicht nicht erkennen konnte, von seiner Fußfessel befreiten. Sie zogen ihn mit sich durch den Frachtraum. Als Jacob sich an das Licht gewöhnte, sah er, daß es sich um zwei Seeleute handelte, diesmal ohne Karabiner.

Er fragte die Männer, wohin sie ihn brachten. Sie schienen ihn nicht zu verstehen. Er wiederholte die Frage mehrmals, bis schließlich einer der beiden etwas zu ihm sagte. Der Deutsche verstand nur ein Wort, das sich wie »Käpten« anhörte. Damit mußte er sich zufriedengeben, wenn er sich auch fragte, was Haskin von ihm wollte.

Als sie ins Zwischendeck hinaufstiegen, war Jacob überrascht von dem hier herrschenden Chaos. Er hatte nicht damit gerechnet, daß der Sturm derart schlimm gewütet hatte. Menschen, Strohsäcke, Gepäckstücke, alles lag kreuz und quer durcheinander. Die Auswanderer, die meisten bleich im Gesicht, machten einen zutiefst gequälten Eindruck. Der bestialische Gestank verriet, daß kaum einer von ihnen noch etwas im Magen haben konnte.

Es ging weiter hinauf an Deck, wo Jacob die frische Luft willkommen hieß. Es war früh am Morgen, und die Sonne bemühte sich vergeblich, ihre Strahlen durch die Wolkendecke zu schicken. Noch immer war rund um das Schiff nur das unbegrenzte Meer zu sehen, das sich ein wenig beruhigt hatte, aber rauh genug war, einen nicht ganz standfesten Mann auf die Planken zu schicken. Jacob, durch die vielen Stunden im Kerker geschwächt, widerfuhr genau dies.

Als er zu Füßen seiner Begleiter lag, bemerkte er erst, in welchem verheerenden Zustand sich das Schiff befand. Überall lagen abgesplitterte Holzstücke unterschiedlicher Größe herum, wo Teile der Takelage aufs Deck geschlagen waren. Der Sturm mußte in der Nacht Angst und Schrecken an Bord der ALBANY verbreitet haben.

Sogar die Spitze des Großmastes war abgebrochen und hatte eines der Ruderboote zertrümmert. Es war das Boot, unter dem sich Jacob versteckt hatte. War es eine Fügung des Schicksals gewesen, die ihn Irene Sommer hatte beistehen lassen und ihn vor dem Tod durch die herabfallende Mastspitze bewahrt hatte?