158478.fb2 Sturmfahrt nach Amerika - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 14

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»Deshalb wollten Haskin und Maxwell die Leiche so schnell ins Meer werfen«, sagte Martin. »Sie befürchteten eine Ausbreitung der Seuche.«

»Wir können froh sein, wenn wir keine weiteren Opfer zu beklagen haben«, meinte Hansen. »Aber ich glaube nicht daran. Beim Proviant wollten Haskin und Maxwell wieder einmal Geld sparen und haben viel schlechte Ware eingekauft. Das wird sich jetzt rächen. Ich befürchte, die mangelnde Widerstandskraft der Auswanderer und der Schmutz auf dem Zwischendeck werden noch manch einen dahinraffen.«

»Wir sollten die Menschen warnen!« rief Irene entsetzt aus.

»Wozu?« fragte der bärtige Seemann. »Das würde nichts ändern. Wir sind hier an Bord auf Gedeih und Verderb aneinandergeschmiedet. Warum eine Panik auslösen, solange es sich vermeiden läßt?«

Die drei anderen sahen ein, daß er recht hatte.

»Das Meer fordert seinen Tribut«, orakelte Hansen finster. »Und es kennt keine Gnade.«

*

Die düstere Prophezeiung des Zweiten Steuermannes schien sich zu bewahrheiten.

Der Himmel blieb dunkel und das Meer rauh; es machte die ALBANY zum Spielball gewaltiger Kräfte. Die Menschen blieben auch tagsüber meist unter Deck, lagen, von der Seekrankheit geschüttelt, auf den Strohsäcken und trugen mit ihren Ausdünstungen und Ausscheidungen dazu bei, die Luft im Zwischendeck immer stärker zu vergiften.

Das freute Gevatter Tod, der in dieser unbeschreiblichen Atmosphäre neue Opfer fand. Sechs Tage nach dem Tod des Jungen gab es sechs weitere Opfer zu beklagen - vornehmlich Alte, Kranke und Kinder -, und das Wort »Cholera« wurde ganz offen an Bord ausgesprochen.

Kaum einer außer den nächsten Angehörigen kam noch zu den Seebegräbnissen. Der Tod war auf der ALBANY zum Alltag geworden; der Mensch gewöhnt sich an alles.

Nur Kapitän Haskin war jedesmal dabei, wenn einer seiner Passagiere über Bord geworfen wurde. Er hielt die Grabrede, zitierte aus der Bibel und gab dann das Kommando, die Leiche dem Meer zu überantworten.

Dies waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen man ihn auf Deck sah. Bald kursierten auf dem Zwischendeck abergläubische Gerüchte über den wandelnden Leichnam und Menschenbestatter Josiah Haskin. Mal war er Luzifer, der gefallene Engel, mal ein Meeresdämon in Menschengestalt, der das Schiff hinaus auf den Atlantik gelockt hatte, um es mit Mann und Maus Neptun zu opfern. In ihrer Angst und Hilflosigkeit steigerten sich die Menschen immer mehr in solch irrationale Vorstellungen hinein.

Am Abend des 21. April - vor zwei Stunden war das siebte Cholera-Opfer, ein elfjähriges Mädchen aus Kiel, ins Meer geworfen worden - kam Irene aufgeregt zu Jacob und Martin gelaufen, die an einem Ruderboot auf dem Achterdeck Sturmschäden ausbesserten. Sie lief so schnell, daß sie fast stürzte, wäre Jacob nicht schnell zu ihr gesprungen und hätte sie aufgefangen. Schwer atmend lag sie in seinen Armen und löste durch ihre Wärme und Nähe ein eigenartiges Kribbeln bei ihm aus.

»Du solltest nicht so schnell laufen«, sagte er mehr besorgt als vorwurfsvoll und stellte sie wieder richtig auf die Beine. »Nicht in deinem Zustand und bei diesem Seegang.«

Tatsächlich war der Atlantik inzwischen so aufgewühlt, daß die Bark von einer Seite auf die andere geworfen wurde. Trotz der heftigen Schaukelei kletterten Matrosen in die Wanten, um die letzten Segel zu reffen. Wahrscheinlich lief das Schiff sonst Gefahr, vom Sturm einfach davongeweht zu werden.

»Du mußt aufs Zwischendeck kommen, Jacob«, keuchte Irene in demselben vertraulichen Ton, der sich zwischen den drei jungen Deutschen eingebürgert hatte. »Da unten braut sich etwas zusammen!«

»Was denn?«

»Die Menschen sind verängstigt, und Anton Wickert hat sie aufgehetzt.«

»Anton Wickert - wer ist das?«

»Der Vater des Jungen, der zuerst an der Cholera gestorben ist. Seitdem ist Wickert immer verbitterter geworden. Er hat sich beim Koch Rum gekauft und trinkt viel. Jetzt schwingt er Reden gegen den Kapitän. Haskin sei an allem Unglück schuld. Man müsse ihn ins Meer werfen, wie er es mit den Toten mache, dann habe das Sterben ein Ende.«

Jacob sah Irene befremdet an. »Die Menschen glauben diesen Unsinn doch nicht etwa?«

»Wie es aussieht, tun sie es. Immer mehr finden sich zusammen, die mit Wickert zur Kapitänskajüte marschieren wollen. Du hast Einfluß auf die Leute, Jacob. Sie vertrauen dir. Bring sie zur Vernunft, ehe ein Unglück geschieht!«

Unschlüssig sah sich Jacob nach Piet Hansen um, der ein paar Schritt hinter ihnen am Ruder stand. »Haben Sie das gehört, Piet?«

»Ja und nein. Meine Ohren haben es vernommen, aber als Zweiter Steuermann dieses Schiffes will ich es lieber nicht gehört haben. Dann müßte ich nämlich sofort dem Käpten melden, daß sich auf dem Zwischendeck eine Meuterei zusammenbraut. Haskin und Maxwell würden nicht lange fackeln mit den Aufrührern. Sie sind schnell dabei, Karabiner an die Mannschaft auszuteilen. Geh lieber rasch hinunter, Junge, und tu dein Bestes, um diese verblendeten Hitzköpfe zu beruhigen!«

»In Ordnung«, sagte Jacob, legte die Säge auf den Boden und sah Martin an. »Kommst du mit?«

»Wird wohl besser sein, wenn du Rückendeckung hast«, sagte der kräftige Bauernsohn mit einem Nicken.

Sie nahmen Irene in die Mitte und wankten über das schwankende Deck zum Eingang des Zwischendecks. Als sie vorsichtig die glitschige Treppe hinunterstiegen, kam ihnen eine aufgebrachte Schar von etwa zwei Dutzend Passagieren entgegen, vorwiegend Männer, aber auch ein paar Frauen.

Anton Wickert und seine Frau marschierten vorneweg. Der Vater des kleinen Wolfgang hielt einen Holzknüppel in der Hand, der aussah wie die abgebrochene Verstrebung einer Schlafstelle. Die Hälfte der Leute aus seiner Gruppe war ebenfalls bewaffnet, vorwiegend mit Holzknüppeln und Messern. In einer Hand sah Jacob auch die Schneide einer kleinen Axt aufblitzen.

Der Zimmermann blieb auf der vorletzten Stufe stehen und versperrte der aufgeregten Schar den Weg. »Wo wollt ihr bei diesem Mistwetter hin, Leute? Bleibt lieber im Trockenen, wenn ihr kein Ölzeug anhabt. Da oben erwischt euch ein Brecher, und ihr seid in weniger als einer Sekunde klitschnaß.«

»Wir werden uns Ölzeug holen«, sagte Anton Wickert äußerlich ruhig, aber innerlich bebte er. Die Rumfahne, die aus seinem Mund wehte, beleidigte Jacobs Nase. »In der Kapitänskajüte gibt es bestimmt genug davon. Überhaupt hat der Kapitän von allem genug, während wir hungern und sterben. Wahrscheinlich hat er mit dem Teufel einen Bund geschlossen, uns alle ans Messer zu liefern, wenn er nur in Saus und Braus leben kann.«

Zustimmendes Gemurmel breitete sich aus.

Wickert erhob drohend den Holzknüppel. »Mach Platz,

Jacob Adler, damit wir dem Kapitän geben können, was ihm gebührt!«

»Was denn?«

»Das Meer! So viel davon, wie er haben will. Wir werden ihn darin schwimmen lassen, so wie er unsere Toten darin schwimmen läßt. Vielleicht geht er ja nicht unter; dann wissen wir, daß er mit Satan im Bunde ist.«

»Und wenn er untergeht?«

»Dann ist es auch nicht schade.«

Wieder erntete Wickert allgemeine Zustimmung. Er trat auf die unterste Stufe des Aufgangs, und seine Gefährten rückten nach.

»Geh endlich aus dem Weg, Adler! Oder bist du auch ein Satansjünger?«

»Du bist betrunken, Wickert!« sagte Jacob laut und vernehmlich. »Du solltest dich aufs Ohr hauen und deinen Rausch ausschlafen, ehe du noch Unheil anrichtest. Wir haben schon genug Sorgen und brauchen keine, die wir uns künstlich schaffen!« Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, bemüht, möglichst vielen Menschen fest in die Augen zu sehen. »Ihr alle solltet euch hinlegen, bis der Sturm vorbei ist. Dann werdet ihr auch wieder ruhiger sein. Ich kann eure Angst und euren Schmerz verstehen. Aber was ihr vorhabt, hilft niemandem. Es macht alles nur noch schlimmer.«

»Genug jetzt!« brüllte Wickert mit der bebenden Stimme eines Irren. »Wir haben genug von deinem Geschwätz, Adler! Wenn du nicht aus dem Weg gehst, werden wir dich einfach überrennen!«

Jacob traf keine Anstalten, sich von seinem Platz zu bewegen, als der Anführer des Mobs auf seine Stufe trat und den Knüppel schwang. Aber bevor er die schwere Waffe auf den Zimmermann niedersausen lassen konnte, hatte dieser ihm seine rechte Faust in den Magen gerammt.

Wickert ließ den Knüppel fallen und knickte nach vorn ein.

Jacobs linke Faust traf ihn unters Kinn, warf ihn zurück und schleuderte ihn auf den schmutzigen, feuchten Boden des Zwischendecks, wo er zu Füßen der von ihm aufgestachelten Menschen lag und sich nicht mehr rührte.

Angst stieg in Jacob auf. Die Angst, zu fest zugeschlagen und den verwirrten, betrunkenen Mann getötet zu haben.

Wickerts Frau kniete sich neben ihrem Mann nieder und untersuchte ihn, während die anderen abwartend dreinblickten. Der unerwartete Verlauf der Dinge hatte ihnen den Antrieb genommen. Sie waren wie Schafe, die auf Kommandos warteten, in welche Richtung sie laufen sollten.

»Was ist?« fragte Jacob zögernd, als Frau Wickert ihren Kopf hob.

»Anton schläft.«

Die Nachricht ließ einen Ziegelstein von Jacobs Herz fallen.