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Zu langsam?
Jacob befürchtete, daß sich die ALBANY wieder zur anderen Seite neigte und den Seemann dadurch zu weit wegtrug, wenn er endlich sprang. Dann würden die Männer mit dem Segeltuch unten ihn nicht rechtzeitig erreichen. Oder er würde gleich ins aufgepeitschte Meer stürzen und von den Fluten verschluckt werden.
Bradens Finger rutschten von der Mastspitze ab. Der Seemann stürzte in die Tiefe...
*
... und fiel in das ausgespannte Tuch, während die Mastspitze erneut davonschwenkte, diesmal schon gefährlich weit nach unten geneigt. Vielleicht wäre sie mit Bradens Gewicht nicht noch einmal vom offenen Meer zurückgekehrt.
Als Jacob sah, wie das Segel zwar unter dem Aufprall erzitterte, aber standhielt, brüllte er einen Jubelschrei gegen den tosenden Wind, und für einen Sekundenbruchteil schien der Sturm zu verstummen.
Aber dann hob er erneut an und zerrte an dem Mann auf der Großbramsaling, während tief unten ein benommener Larry Braden aus dem Tuch taumelte und sich mit Hilfe seiner Kameraden auf eine Werkzeugkiste setzte, als ihm die Beine versagten.
Es machte keinen Sinn, länger hier oben auszuharren. Jacob machte sich an den Abstieg, für den er sich Zeit ließ. Er kam lieber etwas später unten an als in mehreren Stücken.
Er hatte erst ein Drittel der Strecke in den Wanten zurückgelegt, als aufgeregte Rufe an sein Ohr drangen, wenn auch nur ganz leise. Die Männer unter ihm zeigten nach oben.
Jacobs Blick ging ebenfalls in diese Richtung - und er konnte seinen Kopf gerade noch einziehen, bevor die abgerissene Mastspitze an ihm vorbei in die Tiefe donnerte, einen Teil der oberen Takelage nach sich schleppend.
Ein Tau, das an der Mastspitze hing, schlug in Jacobs Gesicht und traf voll in sein linkes Auge. Unwillkürlich kniff er beide Augen zu, um sie vor weiterem Schaden zu bewahren. Aber das Schlimmste schien vorüber zu sein. Mastspitze und Takelwerk lagen unten auf Deck, als er die Augen wieder öffnete. Das linke Auge schmerzte stark, und Tränen rannen über seine Wange.
Er wollte sich an den weiteren Abstieg machen, da erkannte er, daß auf Deck ein Unglück geschehen war. Einer der Männer lag unter der Mastspitze begraben am Boden, und die anderen scharten sich um ihn, versuchten ihn von der Last zu befreien.
»Martin?« stieß Jacob hervor, weil er nicht sehen konnte, um wen es sich handelte.
Eilig setzte er seinen Abstieg fort und stieß einen dankbaren Stoßseufzer aus, als er erkannte, daß sein Freund nicht das Unglücksopfer war.
Bloß - wer war es dann?
Jacob kletterte weiter und kam völlig erschöpft unten an. Braden hockte noch immer teilnahmslos auf der Werkzeugkiste. Er schien nicht nur den tosenden Sturm, sondern die ganze Welt um sich herum vergessen zu haben.
Die anderen Männer kümmerten sich um den Verletzten, der bewegungslos auf den Planken lag und dessen Kopf nur noch eine einzige blutige Masse zu sein schien. Es war der Totenschädel Josiah Haskins.
»Was ist geschehen?« fragte Jacob atemlos.
»Das sieht man doch!« fauchte ihn Maxwell an. »Die schadhaft instandgesetzte Mastspitze hat den Kapitän voll am Kopf erwischt.«
»Ist er tot?«
»Noch nicht«, antwortete Martin. »Aber es fehlt nicht viel.«
Ein paar Seeleute hoben ihren Kapitän vorsichtig hoch und trugen ihn über das schwankende Deck zur Kapitänskajüte.
Jacob und Martin bildeten mit anderen einen Trupp, der das Schiff gegen Sturmschäden absicherte. Stunde um Stunde kämpften die trotz des Ölzeugs völlig durchnäßten Männer gegen die aufgebrachten Naturgewalten an.
*
Erst drei Stunden nach Mitternacht ließ der Sturm nach, so daß sich die erschöpften Männer eine Ruhepause gönnen durften.
Aufgeregt betraten Jacob und Martin das Zwischendeck. Immerzu hatten sie an Irene denken müssen, aber keine Gelegenheit gefunden, sich nach ihr zu erkundigen.
Sie wandten sich nach achtern und gingen zum Quartier der alleinreisenden Frauen, als ihnen die resolute Matrone entgegenkam, die sich als erste um Irene gekümmert hatte. Sie sah ziemlich erledigt aus, hatte dicke Schweißperlen auf der Stirn.
»Wie geht es Irene?« fragte Jacob.
»Sie liegt dahinten«, sagte die Frau einfach und zeigte mit einer ihrer fleischigen Hände über die Schulter.
»Und was ist mit dem Kind?«
»Liegt auch da.«
Mit dieser lapidaren Auskunft ließ sie die beiden Freunde stehen und wankte an ihnen vorbei, wohl um sich auszuruhen. Eine fiebrige Unruhe packte die Männer und trieb sie voran.
Im Zwischendeck sah es noch schlimmer aus als nach dem großen Sturm, der die ALBANY in der Nordsee durchgeschüttelt hatte. Männer fluchten, Kinder weinten, und Mütter sprachen Dankgebete, daß der Herr sie und ihre Lieben noch einmal verschont hatte. Und es stank bestialisch. Aber im Augenblick hatten Jacob und Martin dafür weder Auge noch Ohr oder Nase.
Sie kamen an Irenes Schlafstelle, die so dicht von Frauen umringt war, daß die beiden Männer nichts erkennen konnten. Sie bahnten sich einen Weg hindurch und sahen schließlich Irene, die mit geschlossenen Augen auf ihrem Strohsack lag, den Kopf zur Seite gerollt. Es war nicht zu erkennen, ob noch Leben in ihr war.
»Irene«, flüsterte Jacob.
Die Augenlider der erschöpften, in Schweiß gebadeten jungen Frau flatterten, und dann war er dankbar für den Blick aus ihren grünblauen Augen. Dankbar, daß Irene noch am Leben war.
»Jacob!«
Sie streckte eine Hand aus, als wolle sie ihn berühren, ließ sie dann aber wieder kraftlos sinken. Jetzt bemerkte sie auch Martin und lächelte ihm zu.
»Wie geht es dir, Irene?« fragte Jacob.
Sie lächelte. »Ich fühle mich erschöpft, aber gut.«
»Wo ist das Kind?«
Mit langsamen, zärtlichen Bewegungen packte sie ein winzig kleines Stoffbündel aus, das an ihrer Seite lag und ein Gesichtlein verbarg, nicht größer als Jacobs Handteller.
Wieder lächelte Irene. »Darf ich dir meinen Sohn vorstellen?«
Mit geschlossenen Augen lag das kleine Menschenkind da, ohne zu wissen, daß es sich schon auf der großen Welt befand.
»Ist er gesund?« fragte Jacob.
»Das will ich doch hoffen!« antwortete die Mutter.
»Wie soll er denn heißen?« erkundigte sich Martin, der angesichts des Kleinen von einem Ohr zum anderen strahlte.
Irene betrachtete die beiden Männer und sagte dann: »JacobMartin. Das heißt, wenn ihr beide die Verantwortung der Patenschaft auf euch nehmen wollt.«
Obwohl die beiden Männer wußten, daß dies nicht nur eine Ehrung war, sondern auch eine Verpflichtung mit sich brachte,