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Irene sah sehr zufrieden aus. »Jacob-Martin wird sehr glücklich sein eines Tages, wenn er seine Paten kennenlernt.«
*
Am nächsten Morgen waren Jacob und Martin früh bei der Arbeit, um die abgebrochene Mastspitze so weit wiederherzustellen, daß sie auf den Großmast gesetzt werden konnte. Seeleute und Auswanderer begannen um sie herum mit den Aufräumarbeiten.
Die Natur hatte sich ein wenig beruhigt. Die Wellen schlugen längst nicht mehr so hoch wie in der Nacht, und der Himmel war zwar bewölkt, aber manchmal schien hinter den Wolken die Sonne ein wenig zu lachen.
Irene, nach der Jacob kurz gesehen hatte, bevor er die Arbeit aufnahm, schlief noch, der kleine Jacob-Martin ebenfalls. Die rundliche Matrone kümmerte sich um beide, und Jacob war beruhigt, weil er Mutter und Kind in guten Händen wußte.
Ein ganz eigenartiges Gefühl saß in seiner Brust, wie er es niemals zuvor verspürt hatte. In der letzten Nacht, als er sah, wie Irene und ihr Neugeborenes so friedlich nebeneinanderlagen, hatte er zum erstenmal eine Ahnung davon bekommen, wie es sein mußte, für eine Familie, die man liebte, zu sorgen. Wenn er ehrlich zu sich war, mußte er sich den Wunsch eingestehen, Carl Dilger möge für immer in den Weiten Amerikas verschollen bleiben. Dann könnte er, Jacob Adler, für Irene und den Jungen sorgen.
Er verdrängte diesen Wunsch und schämte sich für seine Gedanken. Irene sollte glücklich sein. Ihr und dem Kleinen sollte es gutgehen. Das allein war wichtig.
»Was hast du, Jacob?« fragte Martin, weil sein Freund aufgehört hatte, an der Säge zu ziehen, mit der sie die
Bruchstelle von der Mastspitze abtrennen wollten. »Du scheinst mit deinen Gedanken ganz woanders zu sein.«
»Ich bin nur müde«, murmelte Jacob und sägte jetzt um so heftiger.
Immer wieder glitt sein Blick zur Kapitänskajüte, und er fragte sich, ob Josiah Haskin noch lebte. Aus dem Achterdeck drang keine Nachricht zu ihnen. Weder Haskin noch Bob Maxwell hatten sich blicken lassen. Piet Hansen war kurz an Deck gewesen, um die Männer zur Arbeit einzuteilen. Aber ehe Jacob und Martin ihn etwas fragen konnten, war er schon wieder in der Kapitänskajüte verschwunden. Ein Maat namens Brown stand am Steuerrad. Was mochten die Schiffsoffiziere auf dem Achterdeck ausbrüten?
Auch Larry Braden hatte sich an diesem Morgen noch nicht gezeigt. Jacob und Martin wußten nicht, wie es ihm ging.
Als die Eingangstür zur Kapitänskajüte geöffnet wurde, schauten die beiden Freunde erwartungsvoll auf. Als erster trat Maxwell hinaus, gefolgt von zwei Angehörigen seiner »Leibgarde«; es waren die beiden Matrosen, gegen die Jacob in jener Nacht gekämpft hatte, Larry Braden und Slim Cullen. Braden schien sich wieder völlig erholt zu haben; jedenfalls ließ er kein Anzeichen von Schwäche erkennen.
Die Gesichter der drei Männer verhießen nichts Gutes. Jacob und Martin erhoben sich, als die Seeleute näher traten.
Maxwell blieb vier Schritte vor ihnen stehen und zog einen Revolver aus der Jackentasche, um ihn auf Jacobs Brust zu richten. Seine Messernarbe tanzte, als er die Lippen zu einem häßlichen, seine schlechten Zähne entblößenden Haifischlächeln verzog.
»Jacob Adler, ich verhafte Sie wegen versuchten Mordes an Kapitän Josiah Haskin«, sagte er langsam und schien jede Silbe zu genießen. Endlich hatte er den Zimmermann da, wo er ihn schon lange haben wollte: in seiner Gewalt.
In Jacobs Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume. War es nicht geradezu grotesk, daß er schon zum zweitenmal des versuchten Mordes bezichtigt wurde, obgleich er sich keiner Schuld bewußt war?
»Was soll der Unsinn?« fragte Martin laut und machte empört einen Schritt auf die drei Seeleute zu.
Der untersetzte Cullen sprang ihm entgegen, offenbarte erst jetzt den Knüppel in seiner Hand und zog ihn mit einem häßlichen Laut über Martins Kopf. Der Getroffene fiel in sich zusammen und sackte zu Boden.
»So gehen wir ab jetzt mit allen Meuterern um«, verkündete Maxwell laut genug, damit alle Umstehenden es hören konnten. »Kapitän Haskin liegt immer noch ohnmächtig in seiner Kajüte. Es sieht so aus, als habe er sein Bewußtsein für immer verloren. Wie lange es auch dauern mag, für diese Zeit befehlige ich das Schiff. Und ich werde auch nicht die geringste Aufsässigkeit mehr dulden!«
»Was werfen Sie mir vor?« fragte Jacob äußerlich ruhig, obwohl er innerlich zum Zerreißen angespannt war.
»Sie haben in der Nacht absichtlich die Mastspitze gekappt, die auf Kapitän Haskin stürzte. Sie planten wohl, auch mich damit zu erwischen, um zusammen mit Ihren Freunden Bauer und Hansen endlich das Kommando auf der ALBANY übernehmen zu können.«
»Das ist lächerlich!« empörte sich Jacob. »Fragen Sie Hansen doch selbst. Wo steckt er überhaupt?«
Maxwell warf einen kurzen Blick nach achtern zur Kapitänskajüte. »Wir haben ihn überwältigt und gefesselt. Er wird uns schon noch das Komplott gestehen.« Jacob erkannte, daß der Erste Steuermann hier ein Schauspiel aufführte, das die Gerichtsverhandlung noch in den Schatten stellte und nur dazu diente, Maxwell die völlige Kontrolle über die ALBANY zu verschaffen.
Er konnte die angesichts der himmelschreienden Untaten in ihm aufsteigende Wut nicht mehr unterdrücken und sprang auf den Steuermann zu. Der schien darauf nur gewartet zu haben, grinste erneut machte zwei Schritte zurück und folgte mit dem Revolverlauf den Bewegungen des Angreifers.
Aber bevor er abdrücken konnte, hatte Braden ihn von der Seite angesprungen und zu Boden gerissen. Der Schuß krachte, doch die Kugel sirrte wirkungslos in den Himmel davon.
Die beiden Männer am Boden rangen miteinander, ohne daß Jacob den Revolver sehen konnte. Da fiel erneut ein Schuß.
Für zehn Sekunden lagen die Kontrahenten ineinander verklammert, aber reglos am Boden. Endlich lösten sie sich voneinander, und Braden stand langsam auf.
Der Revolver polterte neben Maxwell auf die Planken. Der Steuermann lag auf dem Rücken und starrte aus seinen dunklen Augen in den Himmel. Sein Blick war gebrochen, und in seiner linken Brust klaffte ein großes rotes Loch.
»Ich wollte. ihn nicht. umbringen«, stammelte Braden auf englisch. »Aber ich mußte Ihnen einfach helfen, Mr. Adler. Sie haben mir doch auch geholfen.«
»Ja«, sagte Jacob nur, hob den Revolver auf und schmiß ihn ins Meer.
*
Nachdem der zu einem Paket verschnürte Piet Hansen von Jacob befreit worden war, übernahm er das Kommando auf der ALBANY.
Martin hatte unter dem Knüppelschlag zum Glück nicht zu sehr gelitten und war bald wieder auf dem Posten. Slim Cullen machte fortan einen großen Bogen um ihn.
Maxwells Leiche war die letzte, die auf dieser Fahrt über die Bordwand der ALBANY ins Meer geworfen wurde. Die Cholera verschwand so schlagartig, wie sie aufgetaucht war. Fast schien es, als hätte die Sturmnacht eine reinigende Wirkung auf das Schiff ausgeübt. Oder so, als hätte das Meer nur auf die Leiche des Ersten Steuermannes gewartet, um sich zufriedenzugeben.
Das Wetter klarte bald auf. Ein frischer, aber nicht zu heftiger Wind trieb die Bark voran, nachdem Jacob die reparierte Mastspitze wieder aufgesetzt hatte. Die See hatte ihre Muskeln genug spielen lassen und verhielt sich für den Rest der Reise ruhig.
Mit Bob Maxwell schien ein böser Geist die ALBANY verlassen zu haben.
Nach einer Woche kam Josiah Haskin wieder zu sich, mußte aber noch lange das Bett hüten. Seltsam, auch er schien über Maxwells Tod erleichtert zu sein und sprach davon, daß es seine Tochter ohne diesen Mann wohl besser hätte. Cullen sollte für seinen Anschlag auf Martin nicht bestraft werden, sagte der Kapitän. Er wollte, daß endlich Ruhe einkehrte auf der ALBANY.
»Ruhe hat das Schiff schon viel zu lange entbehrt«, meinte er zu Jacob, Martin und Piet Hansen, die sein Krankenlager umstanden. »Und ich auch.« Er schlug auf seine Brust. »Hier drinnen. Ich glaube, ich ziehe mich auf meine alten Tage aufs Land zurück und verbringe die restliche Zeit bei meiner Tochter. Die See, die meine Frau verschlang, hat mich lange genug in ihren Klauen gehalten.«
»Und was machen Sie mit der ALBANY?« fragte Jacob, nicht ohne Hintergedanken.
»Ich werde sie wohl verkaufen.«
»Ein Kapitän wie Piet Hansen würde sie sicher gut behandeln«, fuhr Jacob fort.
Ein dünnes Lächeln trat auf Haskins Gesicht, das während seiner Krankheit noch schmaler geworden war. »Ich beginne zu verstehen, worauf Sie hinauswollen, junger Mann.«
»Ich auch«, brummte Hansen und hob abwehrend die Hände. »Aber ich bin nicht der Richtige für diesen Posten. Ich habe gerade mal so viel Geld, um mir ein Ruderboot zu kaufen, aber nicht eine ganze Bark.«
»Sie müssen die ALBANY ja nicht kaufen, Piet«, sagte Jacob. »Mr. Haskin könnte Sie als Miteigner aufnehmen. Sie führen das Kommando als Kapitän und beteiligen Mr. Haskin dafür hälftig an Ihren Einnahmen.«
Der Vorschlag war so gut, daß er von beiden Parteien angenommen und sofort schriftlich niedergelegt wurde.
*
So aufgeregt die Schiffsreise bisher verlaufen war, so ruhig und friedlich verlief der Rest. Piet Hansen, der neue Kapitän, hatte eine gute Hand für das Schiff und steuerte es sicher der amerikanischen Küste entgegen. Durch die Stürme hatte die ALBANY einiges an Zeit verloren, aber einen Teil davon holte sie jetzt wieder auf.
Als das Auftauchen des fremden Kontinents immer wahrscheinlicher wurde, drängelten sich die Auswanderer an Deck, um Ausschau nach der neuen Heimat zu halten. Ein Preisgeld von immerhin zwanzig Dollar wurde unter allen Auswanderern für den gesammelt, der die Küste zuerst entdeckte.