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»Hier«, sagte Jacob und trat einen Schritt vor. »Er steht vor Ihnen.«
Die Frau schluckte, und Martin mußte sich förmlich dazu zwingen, seinen weit offenstehenden Mund zu schließen. Beide wußten, daß Jacob gelogen hatte.
Sein Vater hatte ihn zwar zur Ehrlichkeit erzogen, aber hier galten solche Regeln nicht. Vor einem Gericht, das nur eine Farce war und dem der Hauptübeltäter angehörte, mußte jedes Mittel erlaubt sein.
Außerdem ging es nicht an, Gericht oder nicht, eine schwangere Frau so zu quälen. Das vorhin bereits empfundene Gefühl, die Frau vor allem Schlechten beschützen zu müssen, war in Jacob übermächtig geworden und hatte ihn zu dieser Aussage gedrängt.
Wieder gelang es dem Kapitän verhältnismäßig schnell, sich von seiner Überraschung zu erholen. »Warum haben Sie das nicht eher gesagt, Angeklagter?«
»Weil Sie mich nicht danach gefragt haben, Herr Kapitän. Sie haben selbst gesagt, daß wir nur antworten sollen, wenn wir gefragt werden.«
Das schmale, bleiche Gesicht des Kapitäns zeigte ausnahmsweise so etwas wie eine menschliche Regung. Wenn Jacob diese Regung richtig deutete, spiegelte sie Haskins Mißfallen über seine Äußerung wider.
»Warum reisen Sie nicht zusammen mit Ihrer Frau?« fuhr der Kapitän fort. »Sind Sie überhaupt verheiratet?«
»Noch nicht«, antwortete Jacob. Ihm fiel ein, daß er die junge Frau in die Gefahr gebracht hatte, ebenfalls beschuldigt zu werden, einem blinden Passagier beigestanden zu haben. »Irene wußte bis gestern nacht nicht, daß ich an Bord bin.«
Haskin wurde sichtlich von Minute zu Minute ungehaltener. »Wozu sollte dieses ganze Versteckspiel gut sein, Mann?«
Jacob beschloß, daß er jetzt, wo er einmal damit angefangen hatte, ruhig weiterlügen konnte. »Irenes Vater wollte nicht, daß wir heiraten. Wir haben uns gestritten und schließlich geprügelt.« Er hob seine großen Hände und ballte sie zu Fäusten. »Ich schätze, er hat ordentlich was dabei abbekommen. Jedenfalls hat er mich wegen Körperverletzung bei der Polizei angezeigt. Irene und ich wollten uns in Hamburg treffen, dort heiraten und uns nach Amerika einschiffen. Aber ihr Vater reiste uns nach, spürte mich auf und verriet mich an die Polizei. Deshalb habe ich Bult einen falschen Namen genannt und mich als blinder Passagier an Bord schleichen müssen.«
Ein Grinsen zog über Maxwells Gesicht und ließ seine Messernarbe auf der linken Wange ein Stück wandern. »Wenn Sie bei Bult gebucht haben, weshalb haben Sie sich dann nicht ordentlich unter Ihrem falschen Namen eingeschifft? Und weshalb stehen Sie dann nicht unter Ihrem falschen Namen auf der Passagierliste?«
Haskin nickte zustimmend und sagte: »Beantworten Sie die Frage, Angeklagter!«
»Bult hat mich verraten. Dieser Winkelagent kam nachts in Begleitung von Polizisten in mein Quartier, um mich festzunehmen. Ich konnte in letzter Sekunde entwischen. Ich nehme an, in Erwartung meiner Verhaftung hat der Kerl meine Passage anderweitig verkauft.«
Zum erstenmal sah Jacob so etwas wie ein Grinsen auf Haskins Totengesicht. »So was sähe Bult ähnlich. Der Mann ist mit allen Wassern gewaschen.«
Jacob war zufrieden, daß sich seine gerade erfundene Geschichte für den Kapitän so plausibel anhörte. Andererseits lag sie gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Nur die Vorgeschichte stimmte nicht. Aber Jacob hatte dem Kapitän und Maxwell nicht auf die Nase binden wollen, daß er wegen versuchten Mordes gesucht wurde. Das hätte sie nur eine hohe Belohnung, die ja tatsächlich auf ihn ausgesetzt war, wittern lassen.
Haskin rieb sein spitzes Kinn und sah dann wieder die junge Frau an, die sich einigermaßen beruhigt und Jacobs Worten mit ebensolchem Erstaunen gelauscht hatte wie alle übrigen Anwesenden. Jacob schickte ein stilles Stoßgebet gen Himmel, daß sie sich ihre Überraschung nicht anmerken ließ. Dann wäre alles vergeblich gewesen.
»Stimmt es, daß der Angeklagte Adler der Vater Ihres Kindes ist?« wollte Haskin wissen.
Irene Sommer schaute auf, sah in die Gesichter der drei Richter und dann in das von Jacob. Als sei sie sich nicht sicher, ob sie dessen Spiel mitmachen sollte.
»Angeklagte«, sagte Haskin forsch und zeigte auf Jacob, »ist dieser Mann der Vater Ihres Kindes?«
»Ja«, sagte Irene leise. »Er ist es.«
*
Kapitän Haskin hatte die drei Angeklagten unter der Aufsicht der bewaffneten Seeleute vor die Kajüte geschickt, um sich mit Bob Maxwell und Piet Hansen über das Urteil zu beraten. Auch die beiden als Zeugen geladenen Matrosen, die Jacob lieber - wie auch ihren Anführer Maxwell - auf der Seite der Angeklagten gesehen hätte, waren hinausgeschickt worden und hatten sich davongemacht. Wahrscheinlich hatte Haskin ihnen befohlen, ihren Dienst wiederaufzunehmen, da sie nicht mehr gebraucht wurden.
Martin zog Jacob ein Stück beiseite und raunte: »Hör mal, Freund, in was reitest du dich da rein? Du willst mir doch nicht weismachen, daß du tatsächlich der Vater bist?«
»Laß uns später darüber sprechen«, flüsterte Jacob und blickte in die Richtung der vier Bewaffneten. »Wenn keine überflüssigen Ohren dabeisind.«
»Diese Ohren verstehen wohl kaum unsere Sprache. Außerdem traue ich diesem sogenannten Gericht nicht. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob es für uns ein Später gibt.«
»Warten wir es ab«, meinte Jacob achselzuckend, als die Kajütentür auch schon wieder geöffnet wurde.
Piet Hansen befahl den Angeklagten, einzutreten, und nahm selbst wieder neben dem Kapitän am Tisch Platz. Bewacht von zwei Matrosen, traten Jacob, Martin und Irene Sommer wieder in die komfortable Kajüte.
Haskin stand auf und legte die rechte Hand auf das Seerecht. »Das Schiffsgericht der ALBANY hat sein Urteil gefällt. Der Angeklagte Jacob Adler hat sich schuldig gemacht des Erschleichens einer Schiffspassage, da er nicht im Besitz eines gültigen Reisevertrags ist und er sich ohne Wissen der Schiffsbesatzung an Bord begeben hat. Außerdem hat er sich der Meuterei schuldig gemacht, als er den Ersten Steuermann und seine Begleitung tätlich angriff. Der Angeklagte wird darum in Ketten gelegt, bis die ALBANY den nächstgelegenen Hafen angelaufen hat. Dort wird er den Behörden übergeben. Da er der Vater des Kindes ist, das im Leib der Angeklagten Irene Sommer heranwächst, und da nach preußischem Gesetz alleinstehenden Müttern das Auswandern verboten ist, muß die Angeklagte mit ihm zusammen das Schiff verlassen. Auch sie wird den Behörden zur weiteren Entscheidung über ihr Schicksal übergeben. Die Vergehen des Angeklagten Martin Bauer wiegen weniger schwer, besonders, da er sich nicht tätlich gegen die Schiffsbesatzung gewandt hat. Er wird deshalb zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von zehn US-Dollar verurteilt. Nehmen Sie das Urteil an, Angeklagter Bauer?«
»Ja«, sagte Martin fast tonlos.
Er konnte sich über sein glimpfliches Davonkommen nicht so recht freuen. Er sah seinen Freund an, und Jacobs Schicksal erschien ihm im Moment wichtiger als sein eigenes. Der Zimmermann war ihm in Hamburg zu Hilfe gekommen, als Martin sich gegen eine gefährliche Bande von Straßendieben verteidigte. Vielleicht hatte Jacob ihm damit sogar das Leben gerettet. Und jetzt sollte er nichts für ihn tun können?
Martin fühlte sich hundeelend, als er mit ansehen mußte, wie zwei der Bewaffneten Jacob abführten.
*
Wieder wurde Jacob erst über Deck und dann durchs Zwischendeck in den Frachtraum geführt. Er rechnete damit, erneut mit Stricken gefesselt und an seinen alten Platz gebracht zu werden. Aber er sah sich getäuscht, als an der Treppe hinunter zum Frachtraum Bob Maxwell, eine Laterne in der Hand, zu der kleinen Gruppe stieß. Ein hämisches Grinsen lag auf seinem Narbengesicht.
»Jetzt haben wir dich, du Krautfresser«, sagte er und entblößte dabei ein schlechtes Gebiß, dem einige Zähne fehlten; die anderen war tiefgelb bis schwarz. »Deine ganze Lügerei hat dir nicht geholfen. Du wirst die amerikanische Küste niemals sehen, so wahr ich Bob Maxwell heiße!«
»Mit dem Lügen kennen Sie sich gewiß aus«, entgegnete Jacob. »Sie haben dem Kapitän ein hübsches Märchen aufgetischt, was den nächtlichen Überfall auf Fräulein Sommer betrifft.«
»Halt die Schnauze!« stieß der Erste Steuermann hervor und schlug Jacob mit der flachen Linken so heftig ins Gesicht, daß dieser nach hinten taumelte und mit dem Rücken gegen den Treppenaufgang prallte. Jacob hatte plötzlich einen ungewohnten süßlichen Geschmack im Mund, den Geschmack von Blut.
Die Wut auf Maxwell packte ihn. Er stieß sich vom Treppenaufgang ab, sprang den Steuermann mit einem riesigen Satz an und riß ihn zu Boden. Die Laterne entglitt Maxwells Hand und kullerte über die feuchten Planken.
Der Angegriffene erholte sich schnell von der Überraschung und zauberte irgendwie ein Klappmesser in seine Hand, die eben noch die Laterne gehalten hat. Mit einer geschickten Drehung der Hand ließ er die Klinge ausschnappen. Schon fuhr der tödliche Stahl auf Jacobs Gesicht zu.
Der junge Deutsche packte Maxwells rechten Arm mit beiden Händen und schlug ihn so stark auf die Planken, daß der Seemann einen Schmerzensschrei ausstieß und das Messer losließ. Jacob riß die Rechte hoch und ballte sie zur Faust, um seinem Gegner einen Hieb unters Kinn zu versetzen, als ihn ein harter Schlag am Hinterkopf traf.
Eine unbeschreibliche Übelkeit überflutete den Zimmermann. Maxwells Gesicht vor ihm verschwamm, und er schien in ein bodenloses Loch zu stürzen.
Es konnten nur Sekunden vergangen sein, bis er wieder zu sich kam. Er lag auf den Planken und blickte in die Gesichter der drei Seeleute.
Die beiden Matrosen schienen entschlossen, keine weitere Aufmüpfigkeit ihres Gefangenen zu dulden.
Die Mündungen ihrer Karabiner zeigten auf Jacobs Brust. Einer der Männer mußte ihm zuvor die Waffe über den Schädel gezogen haben.
Ganz nah über ihm kauerte Maxwell, das Messer wieder in der Rechten, das Gesicht wutverzerrt. Jacob konnte jetzt erkennen, daß die große Narbe auf seiner linken Wange tief ins Fleisch schnitt, als habe jemand versucht, Maxwells Gesicht von dieser Seite aus in zwei Hälften zu spalten. Das Meer der Pockennarben verunstaltete den Steuermann zusätzlich. Vielleicht war sein häßliches Äußeres einer der Gründe für seinen schlechten Charakter.
Maxwell drückte die Messerspitze so fest gegen Jacobs Hals, daß dicke Bluttropfen hervorquollen. »Jetzt schneide ich dir den Kopf ab, Krautfresser!«
Jacob sah keine Möglichkeit, seinem Schicksal zu entgehen. Wenn er sich gegen den Steuermann zu wehren versuchte, würden die Bewaffneten abdrücken. Ihm schien nur die Wahl zu bleiben, ob er durch das Messer oder durch zwei Bleikugeln starb.
Das Messer schnitt tiefer in Jacobs Fleisch. Aus der kleinen blutenden Stelle wurde ein langer Riß, als einer der Matrosen erregt etwas auf englisch sagte. Maxwell antwortete ebenso erregt, und zwischen den beiden entspann sich ein heftiger
Disput.