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Maxwell stand auf und warf dem Seemann, mit dem er gesprochen hatte, einen bösen Blick zu. Wahrscheinlich hatte der seinen Vorgesetzten darauf hingewiesen, daß er einen Mord an einem wehrlosen Gefangenen nicht dulden könne.
Jacob verdankte dem Mann sein Leben und war ihm überaus dankbar. Er zweifelte nicht daran, daß Maxwell seine Drohung in die Tat umgesetzt hätte. In seinen dunklen Augen hatte Jacob unverkennbare Blutgier gelesen.
Mit einem pochenden Schmerz im Hinterkopf stand der junge Deutsche auf, als sein Retter mit dem Karabiner eine entsprechende Geste machte.
Der Marsch ging tiefer in den Frachtraum hinein und endete vor einer Art Verschlag mit dicken Holzwänden. Die Tür war mit einer dicken Kette und einem großen Schloß gesichert. Maxwell zog einen Schlüssel hervor und sperrte die Tür auf.
Als der Schein seiner Laterne in den etwa zehn Quadratfuß großen Verschlag fiel, sah Jacob, daß es Kapitän Haskin wörtlich gemeint hatte, als er davon sprach, den Gefangenen in Ketten legen zu lassen. An kleinen Eisenringen waren mehrere dicke Ketten in die Wände eingelassen, die wiederum in großen Eisenringen ausliefen. Hier konnte ein halbes Dutzend Gefangene angekettet werden.
Beim genaueren Hinsehen entdeckte Jacob viele dunkle Flecken auf dem Boden und an den Wänden, die aussahen wie verkrustetes Blut. Welche Tragödien mochten sich hier unten abgespielt haben?
Das ungute Gefühl in Jacob verstärkte sich noch. Er fragte sich, ob ein solches Gefängnis auf einem Schiff üblich war, das
Frachtgut und Auswanderer transportierte. Die ominösen Worte, die Piet Hansen in Hamburg über die ALBANY verloren hatte, kamen ihm wieder in den Sinn. Es war ihm, als liege ein düsteres Geheimnis über dem Segler. Oder ein Fluch.
Jacob mußte sich an eine Wand setzen, und einer der großen Ringe wurde von Maxwell um seinen rechten Fuß geschlossen. Als das Eisen zuschnappte, fühlte Jacob sich ganz und gar verloren. Der Steuermann vergewisserte sich sorgfältig, daß der Ring auch richtig saß.
»Jetzt kannst du hier vermodern, Krautfresser! Es kann noch Tage dauern, bei schlechtem Wetter noch länger, bis die ALBANY einen Hafen anläuft. Vielleicht vergessen wir dich auch ganz.« Maxwells Blick wanderte zu einer der getrockneten Blutlachen. »Du wärst nicht der erste.«
Er stand auf und versetzte dem Gefangenen einen schmerzhaften Tritt in die Seite, bevor er den Verschlag verließ und die Tür zusperrte.
Es rasselte, als die Kette vorgelegt und der Schlüssel herumgedreht wurde. Schritte entfernten sich rasch. Einmal noch hörte Jacob Maxwells boshaftes Lachen. Dann waren wieder Dunkelheit und Stille um ihn herum, wie schon ein paar Stunden zuvor.
Aber diesmal fühlte sich Jacob ungleich mutloser.
*
Martin Bauer begleitete Irene Sommer nach der Verhandlung zurück ins Zwischendeck. Bei den Verhältnissen an Bord wunderte er sich fast darüber, daß der Kapitän nicht auch noch die schwangere Frau in Eisen legen ließ. Die beiden jungen Deutschen waren gleichermaßen niedergeschlagen und sprachen kaum miteinander. Irene dachte wohl an das nahe Ende ihrer Schiffsreise, und Martins Gedanken beschäftigten sich mit dem Schicksal seines Freundes.
Irenes Schlafstelle lag im hinteren Teil des Zwischendecks, wo die wenigen alleinstehenden Frauen untergebracht waren. Neugierig blickten die anderen Auswanderinnen sie an. Inzwischen hatte wohl die Runde gemacht, in welchem Zustand sie sich befand.
Als Martin sich verabschiedete, sagte die junge Frau traurig: »Es tut mir so leid, daß Ihr Freund meinetwegen in Schwierigkeiten gekommen ist.«
Ihr Begleiter schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Die Schwierigkeiten hätte er sowieso bekommen, auf diesem Schiff bestimmt. Er hätte sich nicht während der ganzen Überfahrt versteckt halten können.«
»Aber wenn wir weit draußen auf dem Atlantik gewesen wären, hätte der Kapitän ihn nicht in einem Hafen absetzen können.«
»Wer weiß, was Haskin und Maxwell dann mit ihm angestellt hätten. Vielleicht hätten sie ihn in einem Ruderboot auf dem Meer zurückgelassen.«
Irene sah ihn mit einer Mischung aus Furcht und Zweifel an. »Glauben Sie das wirklich?«
»Ich habe das Gefühl, auf der ALBANY fährt der Teufel mit. Und dem Teufel ist alles zuzutrauen.« Martin wandte sich zum Gehen, sagte dann aber noch: »Wenn Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich an mich. Meine Schlafstelle ist ganz vorn, vor dem Buggepäckraum.«
»Bei den Junggesellen.«
»Ja, genau.«
Lustlos zwängte sich Martin durchs enge Zwischendeck zu seiner Schlafstelle. Von der Geräumigkeit der Kapitänskajüte war hier unten keine Spur, von ihrem Prunk ganz zu schweigen. Jeder Zoll Raum war ausgenutzt, und zwischen den Schlafstellen führte nur ein schmaler Gang hindurch, der gerade mal Platz für eine Person bot.
Das Schiff erwachte zum allmorgendlichen Leben. Martin mußte oft stehenbleiben und warten, als er durch den großen Mittelteil des Zwischendecks ging, wo die Familien schliefen. Mütter standen im Gang und waren damit beschäftigt, ihren Kindern die Läuse, die es hier in Hülle und Fülle gab, aus den Haaren zu kämmen. Daneben standen oder knieten die Väter und durchsuchten die Schlafstellen nach den nicht minder zahlreich vertretenen Wanzen, die sich in der Nacht vom Blut der Auswanderer genährt hatten.
Martin überlegte es sich anders und verließ das Zwischendeck, als er den Aufgang erreichte. Unten war es so voll und stickig, daß er es als wenig angenehm empfand, länger als unbedingt nötig hier zu verweilen. Die Masse der Menschen ließ ihm als sicher erscheinen, daß sich Kapitän Haskin um des Profits willen nicht an die vorgeschriebenen Raummaße, die jedem Auswanderer wenigstens ein Minimum an Bewegungsfreiheit garantieren sollten, gehalten hatte.
Die Ausdünstungen der Menschen, von denen viele die Reinlichkeit nicht gepachtet hatten, verdichteten sich zu einer Luft, die kaum noch diesen Namen verdiente und fast mit dem Messer geschnitten werden konnte. Für das gesamte Zwischendeck, das sich fast über die ganze Schiffslänge erstreckte, gab es ein einziges Luftzugrohr. Zusätzliche Luft kam durch die Luke des Aufgangs herein, die meistens offenstand. Aber es reichte auch zusammen nicht aus, um für eine einigermaßen erträgliche Luft zu sorgen.
Erst hatte Martin sein Eßgeschirr von der Bettstelle holen wollen, um sich in die lange Schlange der Auswanderer einzureihen, die oben auf Deck nach Frühstück und Kaffee anstanden. Aber dann verzichtete er angesichts seines mangelnden Appetits darauf.
Früher hatte er nie darüber klagen können, keinen Appetit zu haben. Ganz im Gegenteil, sein Vater hatte manchmal im Scherz gesagt, Martin würde ihm noch einmal das Dach über dem Kopf wegfuttern.
Aber auf dem Schiff war alles anders geworden. Der Kaffee war dünn, als bestehe er zu neunundneunzig Prozent aus Wasser, was sicher nicht ganz falsch gedacht war. Der Zwieback war so hart, daß er mit dem Hammer oder dem Stiefelabsatz zerteilt werden mußte. Schinken und Fleisch aß man am besten mit geschlossenen Augen, oder man unterzog sich der mühevollen Arbeit, Dutzende von Würmern herauszupulen.
Martin hatte gehört, daß es auf Auswandererschiffen, die Amerika von anderen Ländern aus ansteuerten, üblich war, daß sich die Reisenden selbst verpflegten. Er beneidete sie darum, vor solch schlechter Verpflegung, wie sie an Bord der ALBANY ausgeteilt wurde, bewahrt zu sein. Kapitän Haskin schien nicht nur durch eine Überladung an Passagieren Geld scheffeln zu wollen, sondern auch durch das Sparen an ordentlichen Mahlzeiten.
Martin aß nicht mehr aus Herzenslust, sondern nur noch aus Pflichtgefühl seinem Körper gegenüber. Dieses Pflichtgefühl stellte er heute morgen hintenan. Nicht nur seine schlechte Gefühlslage war dafür verantwortlich, sondern auch das beständig stärker werdende Schlingern der Bark. Bis jetzt war er von der Seekrankheit verschont worden, und er wollte sein Schicksal nicht herausfordern.
Er war gerade auf Deck getreten, als er auf Bob Maxwell und die beiden Bewaffneten stieß, die Jacob abgeführt hatten.
»Ich suche Sie schon überall, Bauer«, sagte der Erste Steuermann. »Sie wollten sich doch nicht etwa Ihrer Zahlungsverpflichtung entziehen?«
»Na, klar doch! Ich hatte mir gerade überlegt, ob ich nicht über Bord springen und nach New York schwimmen soll, damit ich die zehn Dollar spare.«
Maxwells schon vorher griesgrämiges Gesicht verdunkelte sich noch mehr. »Treiben Sie mit mir keine dummen Scherze, Mann! Her mit dem Geld!«
Martin zog seine lederne Börse aus der Innentasche seiner Jacke und holte zehn Dollarmünzen heraus, was seine Barschaft erheblich zusammenschmelzen ließ. Maxwell wollte ihm das Geld aus der Hand nehmen, aber der Deutsche zog schnell seine Rechte zurück und ballte sie um die Münzen zur Faust.
»Was soll das bedeuten?« fragte der narbengesichtige Steuermann scharf, und die Karabiner seiner Begleiter ruckten hoch, zielten jetzt auf Martin. »Sie wollen also doch nicht bezahlen!«
»Doch, ich werde meine Strafe bezahlen, aber nur gegen Quittung.«
»Gegen Quittung?«
»Ganz recht. Das ist ein Papier, auf dem Sie mir den Empfang des Geldes bestätigen.«
»Ich weiß, was eine Quittung ist!«
»Na, bestens. Dann stellen Sie mir eine aus, und Sie bekommen das Geld.«
»Das Ausstellen von Quittungen ist an Bord der ALBANY nicht üblich.«
»Das interessiert mich nicht. Wenn ich Ihnen Geld aushändige, habe ich ein Anrecht auf eine Quittung. Ich habe keine Lust, meine Strafe zweimal zu bezahlen.«
Maxwells Augen verengten sich zu Schlitzen. »Soll das heißen, daß Sie mir mißtrauen?«
»Ich traue Ihnen nicht weiter, als man bei diesem Wetter gegen den Wind spucken kann.«
»Das ist eine Beleidigung!« fuhr der Steuermann den Deutschen an. »Ich werde Sie wegen Meuterei in Eisen legen lassen!«