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In diesen Zeiten war das Tabakrauchen noch nicht sehr weit verbreitet. Ein Pfeife rauchender Mann auf der Straße war eine ungewöhnliche Erscheinung.
Nun, in den Augen der umwohnenden Bürger war jener alte Mann ein Original. Damals, es mochte fast ein Jahrzehnt darüber verstrichen sein, als sein Sohn plötzlich verschwunden war, war er etwas wunderlich geworden. Eigentlich war er der Typ eines Einsiedlers. Er sprach nicht viel, hielt kaum einen Schwatz; war aber auch nicht mürrisch, sondern behandelte die Leute, die ihm höflich entgegenkamen, ebenso höflich. Zudem war noch nie ein Raucher enttäuscht worden, wenn er von ihm Tabak bezog.
Es galt schon als eine Marotte, daß er einen Laden besaß, in dem man nichts als Tabak kaufen konnte. Da er jedoch nach der Meinung der Bürgerschaft durch den ausschließlichen Umgang mit dieser Ware eine spezielle Kennerschaft der Herbae sanctae[1] erworben hatte, verließ man sich auf seinen Ratschlag in der Auswahl der Sorte und deckte den Bedarf fast ausschließlich bei dem wunderlichen Alten. Und da ihm auch die benachbarten Kaufleute wegen seines gütigen Wesens gewogen waren — er war für sie nicht eigentlich ein Konkurrent —, vermieden sie es anständigerweise, neben ihren Waren auch noch Tabak feilzuhalten.
So kam es, daß der alte Andreas Baum in der Kasseler Altstadt so etwas wie ein Tabaksmonopol innehatte.
Als zwei Schläge der Glocke der Sankt Martinskirche verkündeten, daß es zwei Uhr war, kam ein schönes, nicht mehr ganz junges Mädchen die Straße herunter und setzte sich neben den Alten auf die Bank. Sollten die anliegenden Bewohner wegen eines zu tiefen Mittagsschlafs jemals die zwei dumpfen Glockenschläge von der Sankt Martinskirche überhören, so konnten sie bei schönem Wetter ihre Uhren nach dem Erscheinen des Mädchens stellen. Jeder kannte es, jeder wußte, daß es pünktlich erscheinen würde. Das Mädchen gehörte ebenso zu dem mittäglichen Bild der Straße wie der Alte. Kaum jemand nahm Notiz von ihm. Man hatte sich im Lauf der Jahre daran gewöhnt und den Grund, warum das so war, längst vergessen.
Das Mädchen, das etwa achtundzwanzig Jahre alt sein mochte, hatte, wie nur wenige Frauen auf der Welt, nicht eine einzige Freundin oder Feindin, die es beneidete. Es war nicht verheiratet und schien trotz seiner Schönheit keinen Blick für Männer zu haben. Die einzige Ausnahme bildete eben jener alte Andreas Baum, der jedoch längst ihr Großvater hätte sein können.
»Nun, Vater Baum, hat Euch die Sonne schön durchgewärmt?« fragte sie.
Der Alte blickte sie an und lächelte. Dann nickte er vor sich hin.
Langsam nahm er die Pfeife aus dem Mund und antwortete :
»Ja, ja, die liebe Sonne, diese Lebensspenderin, wenn wir sie nicht hätten!«
Sie blieben eine Weile still nebeneinander sitzen, bis das Mädchen sagte :
»Gebt mir ein Paketchen Tabak für den Vater.«
»Schon wieder?« wunderte sich der Alte. »Du hast doch erst am Montag eins gekauft.«
»Ja, ja, Papa raucht in der letzten Zeit sehr viel.«
Der Alte erhob sich langsam, zog einen Schlüssel heraus, steckte ihn umständlich in das Schlüsselloch der Ladentür und betrat das Lädchen. Das Mädchen folgte.
Der Alte öffnete eine der vielen tönernen Dosen, fuhr mit einer kleinen, blinkenden Schaufel hinein, brachte sie gefüllt wieder zum Vorschein und schüttete ein Häufchen des goldgelben Krautes auf eine Waage. Dann ergriff er ein schönes, buntes Tütchen, tat den Tabak hinein und gab es dem Mädchen.
»Sag deinem Vater, Charlotte, daß er ihn mit Verstand rauchen soll. Ich habe eine neue Mischung hergestellt. Mir schmeckt sie ausgezeichnet.«
»Danke, Vater Baum, ich will es ausrichten.«
An sich hätte es dem normalen Verlauf des Tages entsprochen, wenn sich Charlotte jetzt entfernt hätte. Der Alte sah sie sinnend an, als sie zögernd stehen blieb.
»Na, mein Kind, hast du Sorgen?«
Charlotte schien sich noch immer nicht entschließen zu können, zu sagen, was sie wollte. Doch der alte Andreas Baum war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie restloses Vertrauen schenkte. So seufzte sie denn endlich:
»Eberstein ist wieder im Lande, Vater Baum Er sprach gleich heute vormittag bei Papa vor und bat ihn, mir die Erlaubnis zu geben, mit ihm ausreiten zu dürfen.«
Der Alte wackelte mit dem Kopf.
»Kind, Kind, magst du ihn denn gar nicht leiden? Wie viele Jahre soll das noch so gehen?
Einmal mußt du doch daran denken, einen Mann zu bekommen!«
»Ich kann ihn nicht heiraten.«
Charlottes Stimme klang leidenschaftlich. Ihre Augen schienen Blitze zu sprühen. Das ganze Mädchen war verwandelt. »Ich heirate niemanden, den ich nicht lieben kann. Immer, wenn ich ihn sehe, muß ich daran denken, daß ihn allein die Schuld an Michels Schicksal trifft. Erinnert Euch doch nur, mit welcher Genugtuung er uns von Michels Tod erzählt hat! Glaubt mir, Vater Baum, Graf Eberstein ist schlecht durch und durch. Und ich bin der festen Überzeugung, daß er nicht nur um meine Hand anhält, weil ihm keine andere gefällt, sondern um mit dieser Heirat sein eigenes Selbstgefühl zu stärken. Das, was er vor nunmehr einem Jahrzehnt begonnen hat, will er durch die Hochzeit mit mir krönen. Immer, wenn ich ihn anschaue, sehe ich die aufgeplatzte Wange, die er damals von Michels Stockhieb davongetragen hat. Nein, ich mag ihn nicht.«
Andreas Baum nickte. Es fiel ihm sichtlich schwer zu sprechen, als er jetzt sagte :
»Ja, ja, Mädel, ich kann dich schon verstehen. Ich hätte ihm seine Jugendtorheiten auch nicht nachgetragen. Aber auch ich glaube nicht, daß er sich innerlich wirklich geändert hat. Wenn ich an Michel denke, an die Hoffnungen, die ich ...«
Seine Stimme versagte, sie ging in ein trockenes Schluchzen über, er fuhr sich mit den Händen über die feucht werdenden Augen. Als er sich beruhigt hatte, hob er den Blick ein wenig und fuhr langsam fort: »Ob wir nun den Eberstein leiden können oder nicht, wir dürfen ihm nicht die Schuld an Michels Tod geben. Vielleicht war Eberstein schon anders geworden, als er damals nach Amerika gehen sollte. Seine Darstellung, daß Michel Seite an Seite mit ihm im Kampf gegen jene algerischen Korsaren, von denen er sprach, gefallen ist, war glaubhaft. Und wenn sie gemeinsam gekämpft haben, weshalb sollten sie nicht auch Freunde geworden sein?«
»Ich kann —, ich kann es einfach nicht glauben.«
Der alte Andreas Baum wiegte bedächtig den Kopf.
»Man darf nicht immer nur das Schlechteste von den Menschen denken. Erinnere dich daran, Mädel, wie er zu mir kam, wie er mir den letzten Gruß meines Sohnes ausrichtete und wie er mir den Säbel brachte, die Waffe mit der wundervollen Damaszenerklinge, die ich Michel damals mitgegeben habe, als er auf Reisen ging. Er hat den Degen durch viele Gefahren hindurch gerettet. Es ist ein prachtvolles, ein wertvolles Stück. Wenn er ihn auf unrechtmäßige Weise sich angeeignet hatte, weshalb hätte er ihn dann nicht behalten sollen?«
Charlotte Eck blickte mit großen brennenden Augen vor sich auf den Boden. Sie überdachte die Jahre, seit Eberstein plötzlich wieder in Kassel aufgetaucht war. Er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sich ihr zu nähern. Allerdings war er nie aufdringlich geworden. Und in den ersten Jahren nach seiner Rückkehr hatte er stets einen traurigen Blick in den Augen gehabt, wenn er von Michel sprach. Das hatte sich allerdings später geändert. Denn als sie es war, die, nach Jahren noch, immer wieder die Rede auf Michel Baum brachte, wurde er ungeduldig.
Andererseits war das zu verstehen. Denn solange der Schatten Michel Baums zwischen ihm und dem Mädchen stand, sah es nicht so aus, als würde aus der von ihm angestrebten Verbindung jemals etwas werden.
Sie hob den Kopf.
»Ich glaube, ich werde es mir doch noch reiflich überlegen«, sagte sie langsam. In ihrer Stimme war nichts mehr von jener Leidenschaft, mit der sie noch vorher den bloßen Gedanken an eine Heirat mit Eberstein von sich gewiesen hatte.
Wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß es der Graf seit den Tagen seiner Rückkehr nicht ein einzigesmal an der nötigen Höflichkeit ihr gegenüber hatte fehlen lassen. Immer war er Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Vater und Mutter Eck mochten ihn gern. Für sie war das ständige Sträuben gegen eine Verbindung mit ihm einfach unverständlich.
Und nun war er vor einigen Monaten auch noch zum Major befördert worden. Major in diesem Alter, das war schon etwas. Rudolf Graf von Eberstein war knapp dreißig Jahre alt.
»Auf Wiedersehen — bis morgen, Vater Baum.«
Charlotte reichte ihm die Hand, wandte sich um und verließ den Laden.
22
Zur Zeit war es recht still. So früh am Nachmittag kamen keine Kunden zu Andreas Baum. Der alte Mann stopfte Tabak in die Pfeife, entzündete ihn und spazierte mit auf dem Rücken verschränkten Händen in seinem kleinen Laden auf und ab. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und betrachtete Scheide und Klinge eines über Kreuz an der Wand aufgehängten Degens.
Liebkosend fuhren seine welken Finger über den blinkenden Stahl.
Dieser Degen hatte seine Vergangenheit. Ein Vorfahr, den es nie in der Heimat gehalten hatte, hatte ihn selbst aus Damaskus mitgebracht. Seitdem hatte er zwei oder drei Generationen begleitet, hatte sich in manche feindliche Brust gebohrt, bis er in den Händen Andreas zur Ruhe gelangte. Für diesen hatte er eine ganze Zeitlang nichts weiter bedeutet als das überkommene Erbstück einer Familie. Bis —, ja, bis er ihn an dem Tag, den er nie vergessen würde, jenem Tag, da sein Sohn vor den Schergen des Landgrafen von Hessen-Kassel fliehen mußte, Michel auf die Reise mitgegeben hatte. Das war nun lange her. Und damals, als Michel gegangen war, hätte Vater Baum darauf schwören mögen, daß sein Sohn in den Unbilden, die eine weite Reise in die Welt mit sich bringt, Sieger bleiben würde.
Die Jahre waren vergangen. Kein Lebenszeichen von Michel drang nach Kassel. Von vielen anderen aus Kassel, die nach Amerika gegangen waren, waren Briefe gekommen. Nie war einer von Michel dabei. Dann war Eberstein zurückgekommen. Mit dem Degen in der Hand. Mit diesem Degen, der jetzt hier an der Wand hing, und den der alte Andreas sofort wiedererkannt hatte. Ja, und dann hörte er aus dem Munde des Grafen die Geschichte von dem schrecklichen Korsarenschiff, von der Not, die sie auf dem Meer gemeinsam ausgestanden hatten, von Durst und Verderben, von Mannesfreundschaft und Schmerzen und schließlich vom Tod Michels.
Wieder wurden die Augen des alten Vaters feucht. Er wandte sich dem Ladentisch zu, ging langsamen Schrittes und gebeugten Hauptes um diesen herum und beschäftigte sich mit dem Abwiegen von Tabak.
Aus jedem der Tongefäße schlug ihm der Duft einer anderen Welt entgegen. Ob es die Schwere des süßenVirginia war, ob der geheimnisvolle Duft orientalischen Tabaks, ob die würzige Herbheit des hellgelben Mazedoniers, überall war die weite Welt. Die Düfte beschworen Bilder aus fernen Ländern und von fremden Menschen herauf, die er nie gesehen hatte. Oft war er an solchen Tagen nahe daran, sein Bündel zu schnüren, die in jahrelanger Arbeit erworbenen, blinkenden Dukaten einzupacken und hinauszufahren in jene Welt des bunten, schillernden Lebens und des jähen, unerwarteten Todes. Aber dann fühlte er, daß sein alter, verbrauchter Körper dem Flug des Geistes nicht mehr zu folgen vermochte. So blieb er daheim, mit seinem Leid um den verlorenen Sohn.
Als sich die Sonne schon langsam nach Westen neigte, hörte er auf der Straße Hufschlag. Sein Gesicht erhellte sich. Er wußte, wer um diese Zeit zu ihm kam.