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»Also gut, wann?«
»Sagen wir morgen am frühen Nachmittag.«
36
Seit dem Tag der für sie entsetzlichen Entscheidung wohnte Rachel mit zwei bediensteten Mädchen im Waldhäuschen am See. Ringsum war Stille. Ringsum war Frieden. Hier draußen in der Abgeschiedenheit gab es keine Erschütterungen. Es war der richtige Ort zum Meditieren.
Das Grün der Bäume und das stille Wasser des Sees wirkten beruhigend auf Rachel.
Nun war die große Entscheidung gefallen. Sie konnte nicht mehr zurück. Sie war aus der Stadt geflohen, um Jehu Rachmann, dem geliebten Musiker, nicht mehr vor die Augen treten zu müssen.
Nur ein Gefühl beherrschte sie, das Verlangen nach Rache, die sie an der Familie Ebersteins nehmen wollte.
Haß war in ihr, nur Haß, ein grenzenloser unbeschreiblicher Haß.
Es war Mittag geworden, als ihr die Köchin den Besuch eines jungen Offiziers meldete.
»Major von Eberstein?« fragte sie scharf.
»Nein, es ist ein anderer, viel jüngerer.«
»Ich lasse bitten.«
Herein trat Richard Baum.
»Ah, der Herr Premierleutnant. Ihr seid sicher gekommen, um mir Grüße Eures Vorgesetzten auszurichten?«
Baum machte ein bekümmertes Gesicht.
»Nein, gnädiges Fräulein, ganz im Gegenteil. Ich stehe hier in eigener Sache vor Euch. Ich bin gekommen, um Euch meiner tiefsten Anteilnahme zu versichern.«
»Ihr habt das schmutzige Spiel doch mitgespielt.«
»Nein, nein«, stotterte Baum. »Bei allem, was ich indieser Angelegenheit getan habe, habe ich mir nichts gedacht.«
»Und was wollt Ihr jetzt?«
Richard Baum hob den Blick und sah sie mit strahlenden Augen an.
»Ich wollte Euch sagen, daß — daß — daß — daß ich Euch liebe.«
Sie sah ihn an. Ihre Augen glichen Flammen. Ihre Lippen bebten.
»Unverschämter!« rief sie.
»Ich bin bereit, alles zu tun, um Euch zu helfen«, sagte Richard Baum mit schüchterner Stimme.
»Mir kann niemand mehr helfen.« Er breitete die Arme aus. »Flieht mit mir!«
»Fliehen? — Wie denkt Ihr Euch das? Und was wird aus meinen Eltern?«
Baum ließ die Schultern hängen. Darauf wußte er auch keine Antwort.
Auf der Konsole an der Wand stand eine Uhr und tickte. Immer wieder wanderten die Augen des Premierleutnants zum Zifferblatt. Fünf Minuten hatte er noch Zeit. In fünf Minuten würde Eberstein draußen stehen. Baum hatte keine Lust, seinen Besuch allzulange auszudehnen. Das, was er versprochen hatte mußte er ausführen.
Der junge leichtsinnige Bursche war sich bisher überhaupt noch nicht darüber klargeworden, welche Konsequenzen sein Tun einmal nach sich ziehen könnte. Er betrachtete alles mehr oder weniger als Spaß. Diese Hirschfelders waren gerade die richtige Familie, an der man seine Lausbubenstreiche auslassen konnte. Und wenn man dafür gar noch vierhundert Dukaten erhielt, so bedeuteten die noch Würze für diese Streiche.
»Nun, was wollt Ihr noch?« fragte Rachel scharf.
Die Uhr schlug zwei.
»Nichts mehr, gnädiges Fräulein. Ich möchte Euch nur bitten, mich aus dem Haus zu begleiten.
Draußen habe ich etwas sehr Wichtiges in der Satteltasche, was ich Euch gern zeigen möchte.«
»Könnt Ihr es nicht hereinholen?«
»Nein.«
»Nun, dann interessiert es mich nicht.«
»Bedaure, gnädiges Fräulein. — Ihr werdet es bereuen.«
Er wandte sich um und tat, als wollte er gehen.
Weshalb sollte sie nicht mit ihm hinausgehen? fragte sie sich. Vielleicht hatte er wirklich etwas Wichtiges. Vielleicht wollte er ihr tatsächlich helfen.
Sie lenkte ein.
»Seid mir nicht böse, Herr Premierleutnant. Ich wollte Euch nicht kränken. Die letzten Tage haben mich ein wenig verwirrt.«
»Aber, gnädiges Fräulein, ich habe großes Verständnis für Eure Sorgen. Und — ich — liebe Euch wirklich.«
Seine Augen strahlten soviel Offenheit aus, daß etwas wie Wärme in ihr aufkam.
»Ihr seid ein guter Mensch«, sagte sie.
Als sie sich zum Gehen wandten, bot er ihr seinen Arm. Ohne zu zögern nahm sie ihn. Er führte sie über die Schwelle hinaus in den Wald, wo, an einem Baum angebunden, sein Pferd stand. In der Nähe des Tieres verhielt er plötzlich den Schritt.
»Nun, was ist?« fragte sie.
»Oh, Rachel, wie ich dich liebe!« rief er laut aus undriß sie plötzlich in seine Arme. Sie fühlte seinen Mund auf ihren Lippen. Aber sie war viel zu verblüfft, um sich in diesem Augenblick zu wehren.
Das Bild, das die beiden einem fremden Beschauer bieten mußten, war vollkommene Harmonie, letztes Einverständnis.
Es dauerte Sekunden, bis Rachel erfaßte, was eigentlich geschehen war. Aber da war es schon zu spät. Eine zynische Stimme sagte in der Nähe: »Ach, das ist ja interessant! Deswegen also sträubt sich meine süße Braut, meine Frau zu werden.«