158489.fb2
»Was ist? — Mutter, so rede doch.«
Frau Judith schüttelte nur langsam den Kopf.
»Dein Vater, Rachel«, sagte der alte Arzt, »ist tot.«
»Nein! — Nein!« schrie Rachel. Dann preßte sie die Fäuste in die Augen. Wildes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Sie weinte hemmungslos.
Im letzten Moment gelang es Jehu, sie in seinen Armen aufzufangen, bevor sie zusammenbrach.
40
Jehu Rachmann mußte aufspielen. Er mußte auf dem alten Cembalo spielen. Er mußte immer spielen; denn es war sein Beruf zu spielen, sein Beruf und sein Brot.
Einer wie der Krugwirt kümmerte sich nicht um die zarten inneren Saiten eines Musikers.
Hauptsache, die Saiten des Instruments, das zur Unterhaltung der lustigen Gäste diente, waren in Ordnung.
Es war ungewöhnlich für dieses Jahrhundert, daß ein einzelner Musiker allein im Krug zum Tanz aufspielte. Noch dazu auf einem jener alten, tonfüllelosen Cembali.
Aber der Gedanke, den Alleinunterhalter für die Gäste zu spielen, war nicht dem Krugwirt gekommen, sondern Jehu selbst. Jehu war mit Bachs »Wohltemperiertem Klavier« aufgewachsen. Er war ein Individualist. Einst, als seine Eltern noch lebten, erschöpfte sich seine Vorstellung von der musikalischen Darstellung im Spiel des Solisten. Die Art, wie er Musik zu sehen gelernt hatte, hatte ihn unbewußt zum Individualisten gemacht.
Hatte ihn die Not schon gezwungen, um des Broterwerbs willen der leichten Muse zu huldigen, so wollte er wenigstens nicht fortwährend durch die Gegenwart anderer flöte- und geigespielender Musiker daran erinnert werden.
Vor zwei Jahren, als er nach Kassel gekommen war, hatte er seine Wanderschaft unterbrochen, weil dem Krugwirt und vor allem dessen Pflegetochter und Magd Maria sein Musizieren gefallen hatte. Wirt und Musiker waren sich einig geworden. Seit diesem Tag spielte Jehu Abend für Abend ohne Begleitung zum Tanz auf. Nur des Sonntags duldete er einen mehr schlechten als rechten Fiedler neben sich.
Nun, heute war ein ganz gewöhnlicher Wochentag. Gewöhnlich zumindest für die, die nicht die Schwere einer Last zu tragen hatten, wie sie auf den schwachen Schultern Jehus ruhte.
Er hatte im Hause der Hirschfelders noch abwarten können, bis Rachel wieder zu sich gekommen war. Dann stellte er erschrocken fest, daß es Zeit war, sich in den Krug zu begeben.
Die ersten Humpen mochten schon unter den Gästen kreisen.
Lachen, Schreien, Pfeifen und Schweißgestank füllten die Wirtsstube, als er eintrat. Ekel stieg ihm in die Kehle. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre davongelaufen. Ein furchtbares Unglück war über die Familie des Mädchens hereingebrochen, das er liebte. Und er, er sollte heitere Weisen zum Tanz aufspielen.
Mit blassem Gesicht, ohne der wohlmeinenden Zurufe zu achten, die ihm von vielen Stammgästen entgegenschollen, wankte er hinüber, in jene Ecke, in der das Instrument stand.
Mit müden Bewegungen öffnete er es. Zögernd glitten seine Finger über die Tasten.
Automatisch griffen sie die Akkorde und Takte eines Tanzliedes. Aber Jehu war nicht bei der Sache. Seine Gedanken weilten nicht bei dem, was die Hände taten.
Ein Schleier zog sich vor seine Augen. Dann war es ihm, als sähe er den alten Hirschfelder aufgebahrt vor sich liegen, bleichen Angesichts, edel noch im Tode.
Wie eine verschwommene Vision tauchte das Innere eines Kirchenschiffes vor ihm auf. Da, über dem Eingang die Empore mit den langen, gewaltigen Pfeifen der Orgel, die durch das Dach bis in den Himmel zu streben schienen. Die brausenden Akkorde und die Läufe der Fugen Bachscher Schöpfung vereinigten sich zu einem himmelanstürmenden Orkan.
»He, Spielmann, was soll das Geklimper? Spielt was Vernünftiges.«
»Hahaha, er denkt, er ist in einer Kirche.«
»He, hallo, wir wollen keine Chorale hören.«
»Bist du nicht ein verdammter Jud und spielst christliche Musik?«
»Kruzitürken, laß das Gedudel. Wir wollen tanzen!«
So und ähnlich erscholl es plötzlich aus allen Ecken der Wirtsstube. Jehu brach sein Spiel ab.
Verwirrt blickte er um sich. Weshalb schimpfte man auf ihn?
Einer der Schreier kam heran, brachte einen Humpen Bier und stellte ihn auf das Cembalo.
Mit dröhnender Stimme meinte er:
»Spiel das Ding von der Hannerl und den Mannerln. Ich mag es halt.«
Nun erst wurde es Jehu Rachmann klar, daß er in die Wiedergabe Bachscher Musik verfallen war. Ohne es zu wollen, natürlich. Es war so über ihn gekommen. Er war ja auch nur ein Mensch. Und in ihm sah es heute eben nicht nach leichter Musik aus.
Er versuchte ein paar Takte des gewünschten Liedes. Plötzlich hieb er mit den Fäusten auf die Tastatur, daß derjenige, der das Bier gebracht hatte, erschrocken ein paar Schritte zurückwich.
Die Verzweiflung gewann plötzlich in Jehu die Oberhand, die Verzweiflung über sich selbst, die Verzweiflung über das Schicksal der Familie seiner geliebten Rachel, die Verzweiflung über seine Wehrlosigkeit gegen-über den Ebersteins und über die Schlechtigkeit der adligen Freibeuter.
Er fand keinen anderen Ausweg, als dieser Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Da es für ihn nur eine Möglichkeit des Ausdrucks gab, nämlich Musik, so dröhnte jetzt das altersschwache Cembalo unter dem wuchtigen Anschlag seiner Hände.
Das war zuviel des Guten. Waren die Gäste zu Anfang nur ein wenig ärgerlich gewesen, daß sie um den Genuß der gewohnten Musik kamen, so faßten sie das klassische Spiel des Musikers nunmehr als offene und bewußte Provokation auf. Eine vierschrötiger Schmied, der schon gewaltige Mengen Bier getrunken hatte, schob sich heran, legte Jehu seine Riesenpranken auf beide Schultern und zog ihn mit einem Ruck nach hinten, daß er rücklings vom Stuhl fiel.
Dröhnendes Lachen begleitete den rohen Streich.
In einer Ecke der Stube saßen sich an einem Tisch zwei Männer gegenüber. Es waren zwei Fremde, die heute nachmittag mit der Postkutsche gekommen waren und beim Krugwirt Wohnung genommen hatten. Die Haut des großen Bärtigen sah aus wie gegerbtes Leder. Über der Oberlippe prangte ein buschiger Schnurrbart. Kinn-und Backenpartie stachen merkwürdig von der Bräune des übrigen Gesichts ab. Sie waren viel heller, so, als habe der Mann bis vor kurzer Zeit einen Vollbart getragen. Er trank auch nicht wie die anderen Bier, sondern hatte einen Pokal mit Wein vor sich auf dem Tisch stehen. Neben dem Pokal aber lagen zwei mächtige Hände, gegen die die beiden des Schmiedes, der den schmächtigen Musiker soeben vom Stuhl gerissen hatte, wie Kinderhände schienen.
Diesem Mann gegenüber saß ein anderer, zarter in der Erscheinung, aber nicht schwächlich.
Auch seine Haut war braun. Auch er hatte dunkle Augen; aber sein Haar war im Gegensatz zu dem anderen nicht schwarz, sondern dunkelbraun. Sein Schnurrbärtchen war modisch gestutzt, wie es die vornehmen Spanier trugen. Im ganzen war er etwas kleiner als sein Gegenüber. Er besaß feingliedrige, nervige, aber nichtsdestoweniger kraftvolle Hände.
Die beiden Fremden hatten anfänglich den Musiker gar nicht beachtet, als dieser hereinkam.
Auch als er sein Spiel aufgenommen hatte, schenkten sie ihm keine besondere Aufmerksamkeit.
Als aber dann plötzlich eine Bachsche Fuge erklang, hob sich der Blick des vornehm aussehenden Fremden interessiert. Und als die Akkorde immer mächtiger wurden, als die Gäste Krach machten, als der Musikant dann trotzdem fortfuhr, Bach zu spielen, ließ er kein Auge mehr von dem Cembalisten.
Empörung trat in die, Augen des Fremden, als er sah, wie der vierschrötige Schmied den armen Musikus von seinem Schemel warf. Er erhob sich schnell und ging mit federnden Schritten auf den Rohling zu, der sich vor Lachen ausschütten wollte.
Der andere folgte ihm etwas schwerfälliger. Er war ein wahrer Riese. Keiner der Anwesenden mochte ihm auch nur bis zum Kinn reichen.
Der erste packte den Schmied beim Kragen, drehte ihn zu sich um und blitzte ihn mit zornigen Augen an.
»Weshalb tatet Ihr das?«
Der Schmied war verblüfft. Doch dann stemmte er die Hände in die Seiten und erwiderte frech: