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Árbol nickte.
»Ich will Euch eine spannende Geschichte erzählen, wenn Ihr mir versprecht, daß Ihr zu jedermann darüber schweigen werdet.«
»Oh, ich bin das Schweigen gewöhnt«, sagte Jehu bitter. »Es gibt ohnehin nur wenige Leute, die sich für das interessieren, was ich sage.«
»Ich meine das nicht so, ich möchte nur, daß das, was ich Euch jetzt erzähle, nicht unrechten Menschen zu Ohren kommt. Es hängt sehr viel davon ab.«
»Ihr habt mein Wort.«
»Habt Ihr Fremdsprachen gelernt?« fragte Árbol zum Erstaunen des Musikers.
»Ja.«
»Des Spanischen seid Ihr nicht mächtig?«
»Leider nein. Ich kann nur Latein, Griechisch, Hebräisch und etwas Französisch.«
»Latein? — Das wird genügen. Erinnert Ihr Euch noch meines Namens?«
»Verzeiht, aber er klang so fremd, daß ich ihn mir nicht merken konnte.«
»Árbol.«
»Ganz recht, jetzt erinnere ich mich wieder.«
»Gut. Dann wechselt das L am Schluß gegen ein R aus. Welches lateinische Wort habt Ihr dann?«
»Arbor.«
»Gut«, lächelte der Fremde befriedigt, »die meisten spanischen Wörter sind lateinischen Ursprungs. Arbor und Árbol haben die gleiche Bedeutung. — Welche wohl — erinnert Ihr Euch?«
»Arbor heißt der Baum.«
»Richtig. Ihr seid ein gelehriger Schüler. Fällt Euch noch nichts auf?«
Jehu fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen.
»Nanntet Ihr Euch nicht mit dem Vornamen Miguel?«
»Ja. Das stimmt. Miguel Árbol.«
»Michael Baum — — beim gerechten Gott! — Ihr seid doch nicht der Sohn von Andreas?«
»Der bin ich.«
»Welch eine Überraschung!«
»Versteht Ihr jetzt, warum ich Euch um Verschwiegenheit bat?«
»Vollkommen. Dann stimmt das also nicht mit dem Gerücht?«
»Wie Ihr seht, nein. Ich nehme an, Graf Eberstein hat es ausgesetzt. Er ist einer der größten Lumpen, denen ich je auf Gottes Erdboden begegnet bin.«
Jehu Rachmanns Gesicht wurde leichenblaß.
»Sagtet Ihr Eberstein?«
»Ja. Kennt Ihr ihn?«
»Und ob. — Er hat den Vater meiner Braut auf dem Gewissen. Abraham Hirschfelder ist durch seine Gemeinheit in den Tod getrieben worden. Und zwar heute nachmittag. Deshalb konnte ich keine Tanzmusik spielen. Deshalb brauchte ich Bach. Zum Trost.«
»So treibt dieser Lumpenhund noch immer sein Unwesen?«
»Sein Vater, der alte Graf, ist der Mörder Hirschfelders.«
»Erzählt der Reihe nach«, sagte Michel.
Bis in die tiefe Nacht hinein lauschte der Heimgekehrte den Erzählungen des schmächtigen, langaufgeschossenen Musikers. Jede Einzelheit ließ er sich berichten. Es war sehr spät, als Jehu Rachmann mit erstickter Stimme zum Ende kam.
»Ich will Euch helfen«, sagte Michel. »Aber Ihr müßt mir vertrauen. Ich selbst allerdings brauche ebenfalls Hilfe. Wenn alles so wird, wie ich es mir vorstelle, werdet Ihr zum Schluß glücklich Eure Braut in die Arme schließen. — — Darf ich Euch meine Freundschaft anbieten?«
Glücklich, daß ein so weitgereister und offensichtlich vornehmer Mann wie Michel Baum ihm, dem halb Verachteten und halb Geduldeten, seine Freundschaft anbot, schlug er in die dargereichte Rechte ein.
Ojo hatte zwar nichts von dem Gespräch verstanden, schlug dem jungen Mann aber zum Zeichen seines Einverständnisses kräftig auf die Schulter und lachte mit dröhnendem Baß.
Auf der Bank vor seinem Laden saß paffend der alte Andreas Baum und sonnte sich. Wie alltäglich hatte er auch heute Gesellschaft. Neben ihm saß Charlotte Eck.
Die beiden waren in ein problematisches Gespräch vertieft.
»Was soll ich nur tun, Vater Baum, was ratet Ihr mir?«
Andreas zog heftig an seiner Pfeife. Charlotte tat ihm leid. Sie war ein junger Mensch. Nicht mehr so jung allerdings, daß man sie als Mädchen ansprechen konnte. Sie war sehr schön, hatte einen sauberen Charakter und mußte aller Wahrscheinlichkeit nach eine ausgezeichnete Frau abgeben. Das Thema war auch heute mittag wieder wie allmittäglich : Rudolf von Eberstein.
Charlotte konnte zu keinem Entschluß kommen. Der Graf drängte. Er wollte sie endlich heimführen.
»Ich muß dir immer wieder sagen, mein Kind, daß es für einen Dritten schwer ist, in dieser Hinsicht Ratschläge zu geben. Wirst du glücklich, dann ist es gut. Würdest du aber unglücklich werden, dann würde ich den Rest meines Lebens für dich mitleiden. Nein, mein Kind, das mußt du mit dir selbst abmachen, ganz allein mit dir selbst.«
»Können wir für einen Augenblick in den Laden gehen, Vater Baum?« fragte sie.
»Warum? Die Sonne wärmt doch so schön.«
»Ihr könnt mich für kindisch halten. Aber ich werde allein mit dieser Sache nicht fertig. Ich muß in den Laden.«
Ohne eine weitere Frage zu stellen, erfüllte ihr Vater Baum den Wunsch. Dann stand Charlotte vor dem an der Wand hängenden Degen Michels. Langsam, fast andächtig fuhr sie mit zwei Fingern ihrer rechten Hand über die Schneide. Ganz leicht streichelte sie den Degenknauf.
Plötzlich drehte sie sich um. Sie lächelte. »Ich glaube, ich habe mich entschieden.«