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»Er ist vielleicht genauso voreingenommen wie Ihr. Aber bringt sie an einem neutralen Ort zusammen, zwingt sie, miteinander zu leben, und Ihr werdet sehen, daß sie in kürzester Frist vergessen haben, daß der eine ein Franzose und der andere ein Preuße ist. Die Grenzen sind schuld. Der Anspruch der Herrscher ist schuld, die überhebliche Vorstellung eines solchen Herrschers, souveränzu sein. Anstatt ihren Einfluß aufzubieten, Schulen zu errichten, ihre Untertanen miteinander in Verbindung zu bringen, damit sie einander kennenlernen, sorgen sie dafür, daß jedes Land und Ländchen schön abgeschlossen für sich dahinvegetiert, damit ihnen ja kein Stein aus der Krone fällt. Dabei ist die Welt so groß. So weit, daß für alle Menschen Platz darauf ist.«
»Hm, und die Juden?«
»Was sind sie anderes — als Menschen wie Ihr und ich?«
»Sie sind anders. Sie haben eine krumme Nase, sind feige Krämerseelen, essen Knoblauch und haben das meiste Geld.«
Michel lachte laut über so viel Naivität.
»Ich kann es kaum glauben, solche Worte von Euch zu hören. Warum sollen nicht ein paar von ihnen reich sein? Weshalb sollen nicht andere Knoblauch essen? Gibt es nicht Christen in Hülle und Fülle, die sich ihren Reichtum zusammengegaunert haben? Gibt es nicht allerchristliche Fürsten, die von ihren Landsleuten Sklavendienste verlangen? Haltet Ihr vielleicht einen Landjunker, der von seinen Bauern Frondienste verlangt, für edler, nur, weil er vielleicht nach Pariser Parfüm riecht?«
»Wißt Ihr eigentlich, daß Ihr ein Revolutionär seid?«
»Ihr irrt«, meinte Michel ernst, »ich bin nur ein Mensch, dem die Freiheit über alles geht.
Vorurteile gibt es für mich nicht. Auch ich bin für Ordnung und Disziplin. Aber das sind Dinge, die von innen heraus wachsen müssen. Wenn ein Landjunker von seinem Bauern verlangt, daß er unentgeltlich für ihn arbeitet, so steckt darin auch eine gewisse Ordnung, die Ordnung der Unordnung nämlich. Es kann aber nur eine Ordnung geben, die für alle gilt, die für alle gleich verpflichtend ist. Was heute auf der Welt herrscht, ist keine Ordnung, sondern Knechtschaft.«
Michel hatte sich in Eifer geredet. »Wenn jemand eine Arbeit verlangt, so muß er sie bezahlen.
Ein Mensch, der nichts anderes zu bieten hat als seine Arbeitskraft, kann diese verkaufen, wie man eine Ware verkauft. Aber daß irgend jemand daherkommt und behauptet, er habe das Recht, die Arbeitskraft ohne Gegenleistung für sich zu beanspruchen, kann nicht in der Ordnung sein.
Und das Recht, auf das er baut, ist das Recht des Stärkeren. Diese Auffassung von Recht aber verabscheue ich zutiefst.«
Oberst Köcknitz schwieg. Er blickte auf die Tasse mit dem dampfenden Kaffee, die der Bursche inzwischen gebracht hatte. Der im feudalen Geist aufgewachsene und alt gewordene Graf mußte plötzlich über vieles nachdenken, woran er früher keinen Gedanken verschwendet hatte. Dieser junge Arzt, dieser Doktor Baum, hatte viel Wahres gesagt. Daran gab es keinen Zweifel. Es war eigentlich ein Jammer, daß Menschen mit solchen Köpfen dem Staat nicht dienstbar gemacht werden konnten. Der Oberst stellte sich vor, was der Landgraf dazu sagen würde, wenn er diese Worte vernommen hätte. Ein Lächeln trat auf seine Lippen. Bevor er von seiner Kaffeetasse aufsah, beschloß er im Geheimen, sein Weltbild einer Revision zu unterziehen.
Aber das brauchte dieser junge Mensch hier nicht zu merken.
»Ja«, sagte er, »frühstücken wir zu Ende, und dann gehen wir zur Regimentsschreibstube.«
»Wir?« fragte Michel.
»Ja, Ihr könnt mich begleiten. Ich werde mir diesen Herrn Eberstein in Euerm Beisein einmal vorknöpfen.«
»Und Ihr glaubt, daß er auch nur die kleinste Kleinigkeit seiner schmutzigen Taten zugeben wird?«
»Das möchte ich eben feststellen. Ich will sehen, was er sagt.«
»Um ihm dann — zu glauben?« fragte Michel mißtrauisch.
Der Oberst erhob sich.
»Ich glaube Euch. Sonst säßet Ihr hier nicht mehr so friedlich.« Seine Worte klangen ein wenig ungehalten.
Michel bedauerte sein Mißtrauen; der alte Oberst schien wirklich ein Mann von Ehre zu sein.
»Ich wollte Euch nicht kränken.«
»Schon gut«, meinte Köcknitz mit Barschheit.
Sie gingen.
Die Offiziere beim Regiment warfen sich verwunderte Blicke zu, als sie sahen, wen Graf von Köcknitz da mitbrachte. Dazu war die Miene des Alten finster.
Sie hatten den Eindruck, als würde es bald ein Gewitter geben.
Köcknitz befahl seinen Adjutanten zu sich.
»Schickt eine Ordonnanz zum ersten Bataillon. Ich lasse Graf von Eberstein in dringender Angelegenheit zu mir bitten.«
Der Regimentsadjutant drehte sich um und stülpte sich den Dreispitz wieder aufs Haupt.
Kurz darauf ritt eine Ordonnanz zu dem Gebäude hinüber, in dem die erste Abteilung lag.
Es verging eine halbe Stunde. Eberstein war nicht zu finden.
Oberst Köcknitz wurde ungeduldig. Er schickte eine weitere Ordonnanz in die Wohnung des Grafen. Aber auch diese kam unverrichteterdinge wieder.
Michel wurde die Zeit zu lang.
Er bat vorläufig um Urlaub und hinterließ Köcknitz seine Adresse.
57
Rudolf von Eberstein, durch die gefesselten Hände und Füße zu unbequemer Lage gezwungen, erwachte trotz des reichlich genossenen Alkohols zu früher Stunde. Er versuchte sich zu besinnen, wo er war. Aber das Dunkel, das ihn umgab, war undurchdringlich. An die Vorkommnisse der Nacht erinnerte er sich nicht mehr.
Er wollte sich mit den Händen zum Kopf greifen. Da überfiel ihn siedendheiß die Erkenntnis, daß er gefesselt war. Und fast im selben Moment vernahm er Schnarchtöne. Tiefe, sägende Schnarchtöne. Er wollte schreien; da spürte er den Lappen zwischen seinen Zähnen. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Was war geschehen? Wo war er? Wie kam er in diese Situation?
Nach und nach fielen ihm die Einzelheiten wieder ein. Aber er kam in seiner Erinnerung nur bis vor die Wache des Arrestlokals. Danach war alles dunkel.
So lag Eberstein zwei Stunden, der Schweiß perlte in großen Tropfen auf seiner Stirn. Als sich die Stube mit dem ersten Morgenlicht füllte, wandte er mühsam den Kopf, dorthin, woher das Schnarchen kam. Da erblickte er einen großen bärtigen Mann auf dem anderen Bett. Wie die Blätter eines Jahreskalenders sprang sein Gehirn Jahr um Jahr zurück. Er kannte diesen Mann.
Ja, der gehörte zu jenen Männern, die er damals an den algerischen Korsaren verkauft hatte.
Eberstein versuchte sich aufzurichten. Es gelang ihm. Er war zwar an Händen und Füßen gefesselt, jedoch nirgends festgebunden. Seine Beine baumelten vom Bett und reichten bis zur Erde. Er stand auf und hüpfte hinüber, wo Ojo lag. Seine Blicke gingen hastig suchend durch das Zimmer. Aber nirgends war ein Messer zu sehen. Die auf den Rücken gebundenen Armgelenke schmerzten. Eberstein wurde wütend. Er drehte sich um und boxte mit gefesselten Händen Ojo in die Magengrube. Der brummte unwillig, blinzelte mit den Augen, sah den Mann verstört an, gab ihm einen mächtigen Stoß, so daß Eberstein nach vorn überkippte und der Länge nach auf den Boden schlug, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. —
Eberstein beschloß, bis zur Tür zu hüpfen und diese zu öffnen, um auf diese Weise in die Freiheit zu gelangen. Obwohl er bald wieder auf den Beinen stand, zögerte er doch, sein Vorhaben auszuführen; denn er sagte sich logisch, daß dieses Haus von den Leuten des Seeräubers dort auf dem Bett bewohnt sein müsse. Es war anzunehmen, daß eine Wache vor seiner Tür stand.
Dennoch hüpfte er los. Aber noch ehe er sie erreichte, schreckte Ojo hoch. Mit einem Satz war er bei dem Flüchtenden, riß ihn zurück und warf ihn wie eine Puppe wieder aufs Bett.
Mit ein paar starken Riemen band er Eberstein an der Bettstatt fest. Ohne ein Wort zu sagen, legte er sich hin und schlief sofort weiter.
Mittlerweile war es halb zehn Uhr geworden. Eberstein, dem das Atmen langsam beschwerlich wurde, lief schon blau an. Da hörte er draußen auf dem Flur Schritte. Sie näherten sich dieser Stube. Dann verhielten sie einen kurzen Moment vor der Tür, und dann erschien — Michel Baum. Er stutzte, als er sein Bett besetzt sah. Dann aber weiteten sich seine Augen.
»Wie — wie — kommt Ihr hierher, Eberstein?«
Auch Eberstein war fassungslos. Schlotternde Angst übermannte ihn. Michel nahm ihm den Knebel aus dem Mund.